Gastautor / 21.11.2023 / 11:00 / Foto: Vox España / 29 / Seite ausdrucken

Argentinien wählt die „Wild Card“

Von Paul M. Seidel.

Argentinien hat einen neuen Präsidenten: Javier Milei. „Rechtspopulist“ mit „extremen Ansichten“, dröhnt es erwartbar in den hiesigen Medien. Der libertäre Wirtschaftswissenschaftler und „Anarchokapitalist“ Javier Milei ist in jedem Fall eine Überraschung für Südamerikas zweitgrößtes Land – und punktete vor allem bei der Jugend.

Mit Autokorsos, Hupkonzerten und Freudenfesten haben die Anhänger des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei in Buenos Aires den Triumph ihres Hoffnungsträgers bejubelt und gefeiert. Der Wahlsieg des 53-jährigen Ökonomen von der erst vor wenigen Jahren gegründeten Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) fiel mit rund 56 Prozent deutlich höher aus, als die meisten Beobachter und Landeskenner erwartet hatten. Nach dem ersten Wahlgang am 22. Oktober hatte noch Mileis Konkurrent, der bisher amtierende peronistische Wirtschaftsminister Sergio Massa vom Mitte-links-Bündnis Unión por la Patria, mit sechs Prozent Vorsprung die Nase vorn. Für die Stichwahl hatten die Demoskopen ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden polarisierenden Kandidaten vorhergesagt. Wieder mal lagen sie daneben. 

Dass es anders kam, hat vor allem mit der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, dem drohenden Staatsbankrott und der weit verbreiteten Hoffnungslosigkeit im Land am La Plata zu tun. Die Inflation galoppiert in diesem Jahr mit Turbogeschwindigkeit Richtung 150 Prozent. Rund 40 Prozent der Einwohner Argentiniens, das noch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner boomenden Landwirtschaft zu den wohlhabendsten Ländern der Welt („Reich wie ein Argentinier“) gehörte, sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Tendenz steigend.

Und dafür soll der Wirtschaftsminister, der pragmatisch und charmant auftretende Berufspolitiker Massa, nicht verantwortlich sein? Der hat bis zuletzt mit allen Mitteln versucht, die Wähler auf seine Seite zu ziehen: mit neuen Jobs im ohnehin schon aufgeblähten Staatsdienst, mit subventionierten Niedrigpreisen für Energie, Sprit und Grundnahrungsmittel. Rentner, Arbeitslose und Staatsangestellte wurden mit Bonuszahlungen zum Inflationsausgleich beschenkt – trotz chronisch leerer Kassen. 

Keine „Brandmauer" in Argentinien

Milei, ein charismatischer Wirtschaftswissenschaftler, regierungskritischer TV-Kommentator und früherer Rocksänger mit Showtalent, der sich selbst als „Anarchokapitalist" bezeichnet und im Wahlkampf gern mit Lederjacke und dröhnender Rockmusik auftrat, will dagegen den Staat abspecken, die Sozial- und Personalausgaben verringern, die grassierende Korruption bekämpfen und die Wirtschaft liberalisieren. Eigeninitiative und Unternehmertum sollen für Aufschwung und wirtschaftliche Dynamik sorgen, die Aktivitäten des Staates sich auf das nötige Minimum beschränken.

Klassischer Liberalismus. Die Zahl der Ministerien und der Staatsbediensteten soll verringert werden. Der schwindsüchtige argentinische Peso, der immer mehr an Wert verliert, soll durch den US-Dollar als Zahlungsmittel ersetzt, die Zentralbank geschlossen werden. Eine Schocktherapie, die nicht ohne Härten und Risiken ist. Mileis freiheitliches Programm hat vor allem bei der Jugend gezündet, die besonders unter der Perspektivlosigkeit leidet. 

Dass der Mann mit der Wuschelmähne, die ihm den Namen „La Peluca", die Perücke, eingetragen hat, den Sprung nach ganz oben geschafft hat, hängt auch mit der Rolle seiner neuen Verbündeten aus dem konservativen Lager zusammen. Die hatte er zuerst als Angehörige der „politischen Kaste“, die „noch nie gearbeitet haben“ und sich parasitär bereichern, beschimpft und bekämpft. Spitzenkandidatin Patricia Bullrich war im ersten Wahlgang mit enttäuschenden 24 Prozent gescheitert und ausgeschieden. Doch auch Bullrich und der frühere argentinische Präsident Mauricio Macri möchten Argentinien liberalisieren und die Peronisten von der Macht verdrängen. Defizitäre Betriebe sollen privatisiert, die Staatsquote gesenkt und die Ausgaben verringert werden. Das verbindet sie mit dem libertären Milei. Da sich der Begriff „Brandmauer“ in Argentinien auf den Bereich des Gebäudeschutzes beschränkt, stand einer effektiven Zusammenarbeit mit den Liberalkonservativen mit Blick auf die Stichwahl nichts im Wege. Das Ergebnis spricht für sich. 

Milei hat einen steinigen Weg vor sich

„Heute beginnt der Wiederaufbau Argentiniens“, rief Javier Milei nach seinem erdrutschartigen Wahlsieg seinen jubelnden Anhängern zu. Am 10. Dezember zieht ihr Hoffnungsträger mit seiner neuen Mannschaft in die Casa Rosada ein, den argentinischen Präsidentenpalast in Buenos Aires. Man darf gespannt sein, wer dazugehören wird. Milei hat einen steinigen Weg vor sich, über Nacht sind keine Erfolge zu erwarten. Seine freiheitlichen Reformen brauchen die Zustimmung des Parlaments, in dem der „Anarchokapitalist“ mit der Wuschelfrisur und den langen Koteletten keine Mehrheit hat – ähnlich wie vor einigen Jahren schon Ex-Präsident Mauricio Macri.

Und Milei hat sich viele Feinde gemacht, die bald gegen ihn mobilisieren könnten: große Teile des alten politischen Establishments, gut versorgte Staatsbedienstete, die linke Kultur- und Medienszene, Argentiniens traditionell starke Gewerkschaften, die katholische Kirche, mit der sich Milei wegen seines freizügigen Privatlebens („freie Liebe“) und seiner Befürwortung der gleichgeschlechtlichen Ehe angelegt hat. Der politische Linksruck, von dem Lateinamerika in den letzten Jahren geprägt war, scheint mit Javier Milei aber ein zumindest vorläufiges Ende gefunden zu haben.

Wer noch mehr Hintergrund zum Thema  lesen möchte: Der Autor porträtierte Javier Milei bereits im Juni dieses Jahres in diesem Beitrag auf Achgut.com.

 

Paul M. Seidel schreibt hier unter einem Pseudonym. Er ist Journalist mit Schwerpunkt Außenpolitik/Internationale Beziehungen/Reisen. Lebt in Berlin.

Foto: Vox España via Wikimedia Commons

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Wolfgang Richter / 22.11.2023

Nach Selensky und dem Philippino Duterte nun der nächste Schauspieler. Nach den Katastrophen dr Genannten für ihre jeweiligen Länder und dortigen Sozialgefüge läßt das für Argentinien nichts Gutes erwarten. Und wenn ich mich recht erinnere, hat sich Argentinien schon mal an den US-$ gehängt und ist damit gescheitert. Wenn jetzt auch noch “Privatisierung” das vornehmliche Programm ist, wird das vermutlich nur dazu führen, daß analog zu früheren gesellschatlichen Umgestaltungen nur dazu führen, daß einige Oligarchen sie die Filetstücke unter den Nagel reißen und noch reicher werden. Es wird nichts besser, nur anders. Aber der neue Herr kann “uns” ja vielleicht überraschen.

Didi Hieronymus Hellbeck / 21.11.2023

Bitte etwas mehr Zurückhaltung und Demut. Denn;: “Über Argentinien lacht die Sonne - und über Deutschland die ganze Welt.”

Michael Anton / 21.11.2023

Dankeschön für den Artikel! Mileis Vorname steht noch nicht fest, vielleicht Kryptofaschist. Die Tagesschau behauptet, die Forderung, Zentralbanken abzuschaffen sei populistisch.  Indeed, es gibt eigentlich kein Thema neben Bier und Geschlechtsverkehr, was derart wild diskutiert wird, wie die Notenbankpolitik. Roland Baader hat in dem Buch “Geldsozialismus” die Probleme aufgezählt, die Zentralbanken erzeugen. Er erklärt auch den Anarchokapitalismus ohne Anführungszeichen, Formeln und Schnörkel. Er ist der Populist der österreichischen Schule. Es wäre super, wenn Achgut hin und wieder von den Entwicklungen in Argentinien berichten, könnte, da Anarchokapitalisten für Durchschnittstätowierte nur binomische Dörfer sind und bis gestern diese Ideen nur zwischen Buchdeckeln stand und keinesfalls in Mme Lagardes Garderobenkatakombe.

Albert Pflüger / 21.11.2023

Milei sollte unbedingt an die ruhmreiche Vergangenheit der Goldpesos anknüpfen, parallel zum Dollar. Herr Krall, übernehmen Sie! Ich habe mal welche in der Hand gehabt, erinnere mich nicht mehr an den Nennwert, aber sie waren einfach toll. Ich empfand ein unglaubliches Gefühl von Werthaltigkeit, wenn ich eine dieser Münzen in die Hand nahm.

sybille eden / 21.11.2023

Hoffentlich schafft er das, was Roger Douglas in den 80ern in Neuseeland schaffte . Das wäre ein wichtiges Zeichen und eine Hoffnung für die klassisch-liberalen Menschen der Welt !

Anneliese Bendit / 21.11.2023

@Jochen Lindt: Bukele hat den Bitcoin in El Salvador eingeführt und nicht in Guatemala, wo ich mich gerade befinde und das Essen und das sonnige Wetter genieße.

F. Auerbacher / 21.11.2023

Die Argentinier haben jemand gewählt. bei dem es erhebliche Zweifel daran gibt, dass er “es kann”. Die Alternative war aber, jemanden zu wählen, bei dem nicht die geringsten Zweifel daran bestehen, dass er es nicht kann. Insofern, eine weise Wahl und womöglich ein Menetekel für die Situation hier.

Ralf Ehrhardt / 21.11.2023

Lieber die “Wild Card” als den “Green Deal” !

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