Von Paul M. Seidel.
Argentinien hat einen neuen Präsidenten: Javier Milei. „Rechtspopulist“ mit „extremen Ansichten“, dröhnt es erwartbar in den hiesigen Medien. Der libertäre Wirtschaftswissenschaftler und „Anarchokapitalist“ Javier Milei ist in jedem Fall eine Überraschung für Südamerikas zweitgrößtes Land – und punktete vor allem bei der Jugend.
Mit Autokorsos, Hupkonzerten und Freudenfesten haben die Anhänger des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei in Buenos Aires den Triumph ihres Hoffnungsträgers bejubelt und gefeiert. Der Wahlsieg des 53-jährigen Ökonomen von der erst vor wenigen Jahren gegründeten Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) fiel mit rund 56 Prozent deutlich höher aus, als die meisten Beobachter und Landeskenner erwartet hatten. Nach dem ersten Wahlgang am 22. Oktober hatte noch Mileis Konkurrent, der bisher amtierende peronistische Wirtschaftsminister Sergio Massa vom Mitte-links-Bündnis Unión por la Patria, mit sechs Prozent Vorsprung die Nase vorn. Für die Stichwahl hatten die Demoskopen ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden polarisierenden Kandidaten vorhergesagt. Wieder mal lagen sie daneben.
Dass es anders kam, hat vor allem mit der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, dem drohenden Staatsbankrott und der weit verbreiteten Hoffnungslosigkeit im Land am La Plata zu tun. Die Inflation galoppiert in diesem Jahr mit Turbogeschwindigkeit Richtung 150 Prozent. Rund 40 Prozent der Einwohner Argentiniens, das noch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner boomenden Landwirtschaft zu den wohlhabendsten Ländern der Welt („Reich wie ein Argentinier“) gehörte, sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Tendenz steigend.
Und dafür soll der Wirtschaftsminister, der pragmatisch und charmant auftretende Berufspolitiker Massa, nicht verantwortlich sein? Der hat bis zuletzt mit allen Mitteln versucht, die Wähler auf seine Seite zu ziehen: mit neuen Jobs im ohnehin schon aufgeblähten Staatsdienst, mit subventionierten Niedrigpreisen für Energie, Sprit und Grundnahrungsmittel. Rentner, Arbeitslose und Staatsangestellte wurden mit Bonuszahlungen zum Inflationsausgleich beschenkt – trotz chronisch leerer Kassen.
Keine „Brandmauer" in Argentinien
Milei, ein charismatischer Wirtschaftswissenschaftler, regierungskritischer TV-Kommentator und früherer Rocksänger mit Showtalent, der sich selbst als „Anarchokapitalist" bezeichnet und im Wahlkampf gern mit Lederjacke und dröhnender Rockmusik auftrat, will dagegen den Staat abspecken, die Sozial- und Personalausgaben verringern, die grassierende Korruption bekämpfen und die Wirtschaft liberalisieren. Eigeninitiative und Unternehmertum sollen für Aufschwung und wirtschaftliche Dynamik sorgen, die Aktivitäten des Staates sich auf das nötige Minimum beschränken.
Klassischer Liberalismus. Die Zahl der Ministerien und der Staatsbediensteten soll verringert werden. Der schwindsüchtige argentinische Peso, der immer mehr an Wert verliert, soll durch den US-Dollar als Zahlungsmittel ersetzt, die Zentralbank geschlossen werden. Eine Schocktherapie, die nicht ohne Härten und Risiken ist. Mileis freiheitliches Programm hat vor allem bei der Jugend gezündet, die besonders unter der Perspektivlosigkeit leidet.
Dass der Mann mit der Wuschelmähne, die ihm den Namen „La Peluca", die Perücke, eingetragen hat, den Sprung nach ganz oben geschafft hat, hängt auch mit der Rolle seiner neuen Verbündeten aus dem konservativen Lager zusammen. Die hatte er zuerst als Angehörige der „politischen Kaste“, die „noch nie gearbeitet haben“ und sich parasitär bereichern, beschimpft und bekämpft. Spitzenkandidatin Patricia Bullrich war im ersten Wahlgang mit enttäuschenden 24 Prozent gescheitert und ausgeschieden. Doch auch Bullrich und der frühere argentinische Präsident Mauricio Macri möchten Argentinien liberalisieren und die Peronisten von der Macht verdrängen. Defizitäre Betriebe sollen privatisiert, die Staatsquote gesenkt und die Ausgaben verringert werden. Das verbindet sie mit dem libertären Milei. Da sich der Begriff „Brandmauer“ in Argentinien auf den Bereich des Gebäudeschutzes beschränkt, stand einer effektiven Zusammenarbeit mit den Liberalkonservativen mit Blick auf die Stichwahl nichts im Wege. Das Ergebnis spricht für sich.
Milei hat einen steinigen Weg vor sich
„Heute beginnt der Wiederaufbau Argentiniens“, rief Javier Milei nach seinem erdrutschartigen Wahlsieg seinen jubelnden Anhängern zu. Am 10. Dezember zieht ihr Hoffnungsträger mit seiner neuen Mannschaft in die Casa Rosada ein, den argentinischen Präsidentenpalast in Buenos Aires. Man darf gespannt sein, wer dazugehören wird. Milei hat einen steinigen Weg vor sich, über Nacht sind keine Erfolge zu erwarten. Seine freiheitlichen Reformen brauchen die Zustimmung des Parlaments, in dem der „Anarchokapitalist“ mit der Wuschelfrisur und den langen Koteletten keine Mehrheit hat – ähnlich wie vor einigen Jahren schon Ex-Präsident Mauricio Macri.
Und Milei hat sich viele Feinde gemacht, die bald gegen ihn mobilisieren könnten: große Teile des alten politischen Establishments, gut versorgte Staatsbedienstete, die linke Kultur- und Medienszene, Argentiniens traditionell starke Gewerkschaften, die katholische Kirche, mit der sich Milei wegen seines freizügigen Privatlebens („freie Liebe“) und seiner Befürwortung der gleichgeschlechtlichen Ehe angelegt hat. Der politische Linksruck, von dem Lateinamerika in den letzten Jahren geprägt war, scheint mit Javier Milei aber ein zumindest vorläufiges Ende gefunden zu haben.
Wer noch mehr Hintergrund zum Thema lesen möchte: Der Autor porträtierte Javier Milei bereits im Juni dieses Jahres in diesem Beitrag auf Achgut.com.
Paul M. Seidel schreibt hier unter einem Pseudonym. Er ist Journalist mit Schwerpunkt Außenpolitik/Internationale Beziehungen/Reisen. Lebt in Berlin.