Von Paul M. Seidel.
Der libertäre Wirtschaftswissenschaftler Javier Milei (Spitzname: „Die Perücke“) will Präsident von Argentinien werden. Mit seinem unkonventionellen Stil kommt er bei seinen geplagten Landsleuten gut an.
Flaniert man durch die alten Prachtstraßen im Zentrum von Buenos Aires mit den immer noch prunkvollen Palästen, lässt sich ahnen, wie reich Argentinien einmal war. Während in Europa zwei blutige Weltkriege wüteten, scheffelten die Südamerikaner viel Geld, vor allem mit dem Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wie Getreide, Rindfleisch und Leder. „Reich wie ein Argentinier“ wurde zum geflügelten Wort. Das Land besaß ein ausgedehntes Eisenbahnnetz, gut ausgebaute Straßen und ein modernes Schulsystem; die Oberschicht lebte elegant und reiste zum Einkaufen nach Paris. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte der argentinische Peso neben US-Dollar und britischem Pfund zu den härtesten Währungen der Welt. Zahllose arbeitswillige Armutsflüchtlinge aus Italien und Spanien suchten ihr Heil im boomenden Sehnsuchtsland Argentinien.
Das ist lange her. Neben sinkenden Agrarpreisen war es vor allem eine verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Glanz und Herrlichkeit ein Ende machte. Kenner des Landes bringen den Abstieg mit dem Machtantritt von Juan Domingo Perón (1895–1974) in Verbindung, der 1946 ans Ruder kam und einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus proklamierte. Ihre Basis hatten der frühere General und seine schillernde Frau Evita in der Unterschicht, bei den sogenannten „Descamisados“ (Hemdlosen). Unter Peróns Herrschaft wurde über die Verhältnisse gelebt, verdoppelte sich die Zahl der Staatsbediensteten, verdreifachten sich die Ausgaben. Das brachte dem Land gewaltige Schulden und galoppierende Inflation.
Inzwischen taumelt das krisengeschüttelte Argentinien seit Jahrzehnten von einer Staatspleite zur nächsten, wird gequält von schnell wachsender Armut. Brasilien und Mexiko haben inzwischen ein höheres Pro-Kopf-Einkommen. Weder linke noch rechte Regierungen konnten bisher Argentiniens dramatischen Absturz aufhalten. Sie haben es lediglich geschafft, ihre jeweilige Klientel mit gut bezahlten Posten und lukrativen Staatsaufträgen zu versorgen. Als Hoffnungsträger galt vorübergehend der liberale Unternehmer Mauricio Macri, der 2015 in der Stichwahl seinen peronistischen Gegenkandidaten ausstechen und in die Casa Rosada, den Präsidentenpalast, einziehen konnte. Doch ohne Mehrheit im Kongress ließen sich seine wirtschaftspolitischen Reformvorhaben nicht durchsetzen.
Jetzt tritt der charismatische, libertäre Wirtschaftswissenschaftler Javier Milei, der sich selbst als „Anarchokapitalisten“ bezeichnet, mit dem Anspruch an, sein Heimatland aus dem Sumpf zu ziehen. Am 22. Oktober, Mileis 53. Geburtstag, sollen in Argentinien ein neuer Präsident und ein Teil des Parlaments gewählt werden. Milei, früher Fußballtorwart beim Verein Chacarita Juniors und Sänger einer Rockband, hat bereits seinen Hut in den Ring geworfen. Der stimmkräftige Mann mit den langen Koteletten und der auffälligen Wuschelfrisur, die ihm den Spitznamen „La Peluca“, die Perücke, eingebracht hat, besitzt einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften der renommierten Universität Belgrano. Die Hyperinflation in Argentinien habe ihn dazu gebracht, diese Studienrichtung zu wählen, verriet Milei Journalisten. Später wurde er Chefvolkswirt einer privaten Rentenversicherung und einer Finanzberatung. Einen Namen gemacht hat sich Milei mit regelmäßigen regierungskritischen TV-Auftritten, in denen er seine Landsleute über wirtschaftspolitische Zusammenhänge aufzuklären versuchte, einer eigenen Radiosendung und mehreren Büchern.
Ungeachtet seiner akademischen Karriere tritt er im Wahlkampf nicht mit Schlips und Kragen, sondern mit schwarzer Lederjacke auf. Aus den Boxen dröhnt laute Rockmusik. Für das politische Establishment könnte „die Perücke“ gefährlich werden. Denn Milei, Sohn eines Busfahrers italienischer Abstammung, kommt mit seinem unkonventionellen Stil gut an bei seinen geplagten Landsleuten. Vor allem bei der jungen Generation, die besonders unter Armut und Perspektivlosigkeit leidet. Viele junge Leute glauben offenbar nicht mehr daran, dass sie der Staat aus ihrer trostlosen Lage befreien kann. Milei verspricht ihnen individuelle Entfaltung und wirtschaftlichen Aufstieg. Staatliche Fürsorge halte die Empfänger in Abhängigkeit und unterdrücke die Eigeninitiative, behauptet er. Steuererhöhungen lehnt er kategorisch ab. Stattdessen verkündet er das altbekannte Motto: Jeder ist seines Glückes Schmied. Für seine neue Partei „Avanza Libertad“ („Die Freiheit kommt voran“) wurde Javier Milei als Vertreter der Hauptstadt Buenos Aires schon in die Abgeordnetenkammer gewählt.
Weder rechts noch links
Linksliberale Medien in Südamerika haben „die Perücke“ schnell zum Rechtspopulisten und herzlosen Neoliberalen gestempelt. Vertreter des außenpolitischen Establishments in Deutschland machen ernste Gesichter und bekommen tiefe Sorgenfalten, wenn sein Name genannt wird. Sie fürchten Mileis Aufstieg und vergleichen ihn mit Trump und Bolsonaro. Doch so einfach ist das nicht. Denn gesellschaftspolitisch steht Milei eher links. Und anders als Bolsonaro verfügt er über ein erprobtes Showtalent. „Der Rechte lässt Dich nicht ins Bett gehen, mit wem Du willst, der Linke lässt Dich nicht Geschäfte machen, mit wem Du willst. Der Libertäre kümmert sich weder darum, mit wem Du Geschäfte machst, noch mit wem Du ins Bett gehst“, rief er vollmundig in einer TV-Sendung.
Milei ist unverheiratet und bezeichnet sich selbst als Anhänger von „freier Liebe“ und Tantra. Er hat sich für die Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe und die Freigabe von Drogen ausgesprochen. Zwar sieht er sich selbst als Katholik, dürfte die römisch-katholische Kirche (die in Argentinien nicht so mächtig ist wie in Brasilien) mit seinen Ansichten und seinem Lebenswandel jedoch nicht auf seiner Seite haben – auch wenn er sich für das Verbot von Abtreibungen ausspricht. Mit Bolsonaro verbindet ihn die Ansicht, dass die Liberalisierung des Waffenrechts die Kriminalität nicht noch weiter in die Höhe treibt, sondern zurückgehen lässt.
In der „politischen Kaste“ sieht Mileis radikaler Liberalismus seinen Hauptgegner. Die etablierten Politiker von links und rechts betrachtet er als Parasiten, „die nie gearbeitet haben“. Das vertraute Phänomen, dass sich politische Amtsinhaber schamlos bereichern und daran gewöhnt sind, Pfründe unter sich aufzuteilen, beschränkt sich bekanntlich nicht auf Argentinien. Möglicherweise ist die Vetternwirtschaft dort aber noch etwas stärker ausgeprägt, sind die einfachen Leute noch frustrierter als anderswo. So hat sich die Zahl der argentinischen Staatsbeamten in den letzten 20 Jahren weiter drastisch erhöht, 2019 verschlang die Bürokratie 11,5 Prozent des Bruttosozialprodukts. Unternehmensgründer müssen sich durch ein Gestrüpp von Bestimmungen und staatlichen Vorgaben kämpfen.
Das alles könnte die wachsende Zustimmung erklären, die Milei von seinen verzweifelten Landsleuten erfährt. Ihm trauen viele offenbar zumindest den Versuch zu, den Sumpf trockenzulegen. Geht es nach Milei, soll das Wirtschaftsleben von Eigeninitiative und kreativem Unternehmertum bestimmt werden. Damit folgt er der „Österreichischen Schule“, zu deren Protagonisten Ludwig von Mises, der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek und der Amerikaner Murray Rothbard gehören. Ihnen zufolge sollen sich die Aktivitäten des Staates auf das notwendige Minimum beschränken.
Ob es Milei gelingt, eine größere Zahl der Argentinier von seiner Sichtweise zu überzeugen, wird die Wahl an seinem Geburtstag zeigen. Politische Beobachter halten es für möglich, dass es „die Perücke“ in die Stichwahl schafft.
Paul M. Seidel schreibt hier unter einem Pseudonym. Er ist Journalist mit Schwerpunkt Außenpolitik/Internationale Beziehungen/Reisen und lebt in Berlin.