Robert von Loewenstern / 06.09.2018 / 13:59 / Foto: pixabay / 76 / Seite ausdrucken

„Alles gesagt“?  Noch lange nicht

Achtzehn Sekunden. So viel Zeit erübrigte die Bundeskanzlerin gestern auf Nachfrage, um Stellung zu beziehen zu den von ihr behaupteten „Hetzjagden“ in Chemnitz, die nach Lage der Dinge nie stattfanden. 

„Meine Reaktion ist, dass wir dort Bilder gesehen haben, die sehr klar Hass und damit auch Verfolgung von unschuldigen Menschen deutlich gemacht haben. Von denen muss man sich distanzieren, das hat Herr Seibert gemacht, das tue ich, das habe ich auch schon getan, und damit ist alles gesagt.“

Achtzehn Sekunden. Schluss, aus, basta. Ende der Diskussion, par ordre de Mutti. Die Kanzlerin spricht zum Volk wie eine Erziehungsberechtigte zum unartigen Kind.

Besagter Herr Seibert, Sprecher der Bundesregierung, hatte sich zwei Tage zuvor in der Bundespressekonferenz geäußert, ebenfalls auf Nachfrage, die mit dem Hinweis verbunden war, dass die sächsische Generalstaatsanwaltschaft nach einer Woche Ermittlungen immer noch keinen einzigen Beleg für die von der Bundesregierung verkündeten „Hetzjagden“ gefunden hat: 

„Ich werde hier keine semantische Debatte über ein Wort führen. Wenn die Generalstaatsanwaltschaft das sagt, dann nehme ich das natürlich zur Kenntnis. Es bleibt aber dabei, dass Filmaufnahmen zeigen, wie Menschen ausländischer Herkunft nachgesetzt wurde und wie sie bedroht wurden. Es bleibt dabei, dass Polizisten und Journalisten bedroht, zum Teil auch angegriffen wurden. Es bleibt dabei, dass es Äußerungen gab, die bedrohlich waren, nah am Aufruf zur Selbstjustiz. Also, da gibt es aus meiner Sicht auch nichts kleinzureden.“

Ladendiebstahl oder Plünderung – „semantische Debatte“?

So sieht es also aus, wenn die Regierung zugibt, dass sie selbst Falschnachrichten verbreitet hat: Sie gibt es nicht zu. Das Fehlverhalten wird weggeredet, als „semantische Debatte“ marginalisiert, die Diskussion für beendet erklärt. Die Frage nach Erklärung oder gar Entschuldigung stellt sich nicht. Es gibt nichts zu sehen, bitte weitergehen.

Sarkastische Entgegnungen drängen sich auf: Wenn ein einzelner Fußtritt mit kurzem Anlauf eine Hetzjagd ist, darf ab jetzt jeder Ladendiebstahl in eine Plünderung umgewidmet werden? Ist es in Zukunft zulässig, die tägliche Messerattacke als Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu deklarieren? Ein Eierwurf aus einer Demo heraus kann als Mordversuch bezeichnet werden? Und dürfen das alle oder nur die Regierung? 

Überhaupt, wie sieht es mit den – speziell im Hinblick auf migrantische Täter – vielbeschworenen Einzelfällen aus? Sind Generalverdacht, Pauschalisierung, Vorverurteilung plötzlich erlaubt? Und was ist eigentlich mit dem Wort „mutmaßlich“? Nicht mehr nötig? Kann, muss aber nicht? Alles nur „semantische Debatte“?

Statt von „semantischer Debatte“ hätte der Regierungssprecher auch gleich noch abwertender von „Wortklauberei“ sprechen können. Das haben andere erkannt und für ihn erledigt, Vertreter der SPD und der Linken.

Was bleibt von Chemnitz ohne „Hetzjagden“?

Lassen wir uns auf die Regierung und ihre Sekundanten ein. Sparen wir uns spitzfindige „semantische“ Überlegungen, zupfen wir nicht kleinlich am Wort herum. Werfen wir den Blick aufs große Ganze. Die sicherste Methode, um Wirkung und Tragweite eines Begriffs zu ermitteln, ist, ihn wegzudenken.

Was also bleibt von den Chemnitzer Geschehnissen ohne die „Hetzjagden“? Einfache Frage, einfache Antwort: zwei Demos mit – vergleichsweise und objektiv gesehen – wenigen Ausschreitungen und Straftaten. Jede Demo mit Antifa-Beteiligung hat mindestens so viel Hass und mehr Gewalt, Zerstörung und Körperverletzung aufzuweisen. Jeder jährliche Al-Quds-Aufmarsch ist mit mehr Rassismus, Antisemitismus und massenhaft skandierten Vernichtungsphantasien verbunden. Jeder Polizeibesuch in der Berliner Rigaer Straße 94 ist gefährlicher, sogar lebensgefährlich, wenn wieder einmal Wackersteine vom Dach geworfen werden. Und nein, wir betreiben hier keinen „Whataboutism“. Es geht um das Zurechtrücken der Verhältnisse.

Natürlich war Chemnitz mehr als eine x-beliebige Demo. Natürlich gab es widerliche Szenen mit Neonazis, die Hitlergrüße zeigten und ausländerfeindliche Parolen grölten. Natürlich müssen sich AfD und andere zu Recht die Frage gefallen lassen, wie genau sie es mit Pegida und bestimmten Pegida-Vertretern halten, und warum sie sich von eindeutig rechtsextremistischen Gruppen und gewaltsüchtigen Hooligans nicht ausdrücklich verbal distanzieren und räumlich fernhalten. Das darf nicht nur, das muss thematisiert, diskutiert und kritisiert werden.

Chemnitz ist zwei Skandale

Trotzdem: Ein einziges Wort, nämlich „Hetzjagden“, verlieh den Chemnitzer Demonstrationen mit ihren abstoßenden Randerscheinungen eine ganz besondere Qualität. Es lieferte eine Woche lang Anlass und Rechtfertigung für große Teile von Politik und Medien, sich maßlos zu ereifern über die Stadt, das Bundesland und Ostdeutsche generell. Es legte den Grundstein für weitere groteske Übertreibungen: die „Pogromstimmung“ („Spiegel“ und andere) oder gar das „Pogrom“, das Jürgen Trittin ohne Widerspruch erfinden durfte.

Angenehmer Nebeneffekt: Der breite Widerstand in der Bevölkerung gegen Angela Merkels Migrationspolitik konnte – wieder einmal – diskreditiert, kleingeredet und weggedrückt werden. Statt dessen schwadronierte man über Dunkeldeutschland, braunes Sachsen und dräuende „rechte Machtübernahme“. 

Gestern früh schrieben wir noch „Chemnitz ist ein Skandal“. Heute gilt es zu präzisieren: Chemnitz ist zwei Skandale. Der eine betrifft die von der Regierung verbreitete Falschnachricht und die anschließenden politischen und medialen Entgleisungen. Der zweite Skandal ist der regierungsamtliche Umgang mit der Falschnachricht nach ihrer Enttarnung.

Damit lieferten Politik und Medien ausgerechnet das, was sie letzte Woche so ausgiebig und erfindungsreich zu ergründen versuchten: eine weitere Ursache für Spaltung, Verhärtung, Abwendung, ja Trotz in der Bevölkerung. Die Quittung für Chemnitz wird kommen.

Ist damit #Allesgesagt zu #SemantischeDebatte?
Nein. Noch lange nicht.

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Leserpost

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Josef Kraut / 06.09.2018

Sehr schön zusammengefasst. Und das ist auch das tatsächlich Schlimme an “Chemnitz“. Dass 50 “echte“ Nazis mitmarschierten? Nicht schön, aber auch kein Grund zur Sorge. Dass hinterher 1.000 Antifa-Faschisten nach Chemnitz gekarrt werden, um Kritik an Merkel niederzuknüppeln? Schon schlimmer, aber leider auch nichts neues. Dass Journalisten nicht objektiv berichten, sondern als linke Aktivisten Fake News streuen? Schon schlimmer. Dass dies auch Journalisten der öffentlich-rechtlichen tun? Hier beginnt es mehr als kritisch zu werden. Dass aber die Regierung dies tut: Supergau der Demokratie. Und die Leute, die nur die entsprechenden Medien lesen oder sehen, werden es nie erfahren.

Nadja Schomo / 06.09.2018

Bilder, Bilder, Videos -  als ob Bilder alles erzählten!  Hätte Merkel gesagt: “ich habe mich umgehört - allem Anschein nach lag da eine Pogromstimmung in der Luft ...”  das wäre glaubhaft, fast seriös gewesen. Sogar im ideologiefreien Fußball sind Videos als Beweisstücke umstritten. Einst fand Kommunikation im Wesentlichen über das geschriebene oder gesprochene Wort statt, es zählte allein die Glaubwürdigkeit der Person und deren Redekunst.

Karl Schmidt / 06.09.2018

Nein, Herr Loewenstern, diesmal reden wir über die Hauptsache - und das ist nicht, ob die AfD ein 120%-Vorbild sein muss. (Warum auch, wo ihre politischen Konkurrenten die Maßstäbe jeden Tag senken?).  Wir reden mal nur über die Hauptsache: Eine Presse, die sich offenbar von Linksextremisten steuern lässt, eine Regierung, die die eigenen Bürger angreift und Lügen in die Welt setzt, die sie nicht korrigieren möchte (!), eine Kampagne, die offenbar nur die Beobachtung der (derzeit) erfolgreichsten Opposition durch Geheimdienste im Sinn hat (wozu Sie übrigens mit Ihrer Anmerkung zur AfD beitragen). Der Staat setzt seine Mittel wieder gegen die eigenen Bürger ein. Da macht mir die Opposition keine Sorgen, denn die sitzt nicht an den Hebeln der Macht. Keine Opposition hat Deutschland je in eine Katastrophe geführt - das waren und sind stets die Regierungen. Es kommt auch darauf an, die richtigen Schwerpunkte zu setzen. Das ist Ihnen leider hier nicht ganz gelungen. Die AfD hat - soweit ich das beobachten kann - weder die Ursache der Vorkommnisse in Chemnitz gesetzt noch trägt sie Verantwortung für die “Chemnitzer Hetzjagd” - also das Zusammenwirken von Linksextremisten, Medien und Regierung, die Erfindung eines Skandals.

Stefan Leikert / 06.09.2018

Das ist ja eigentlich hochinteressant mit den Worten und den Bildern (den sprachlichen vor allem). Und darüber gibt es natürlich eine Unmenge Literatur (wissenschaftliche und andere). Also, ich denke, eigentlich wissen wir so gut wie alles über das Phänomen Sprache. Und dennoch fällt so ein Regierungsmitglied oder ein Journalist nicht nach hinten um, wenn er offensichtlich Mißbrauch betreibt, also infolge des Gegenwindes, der ihm entgegenbläst. Ach nein, da bläst gar nichts und niemand, sind nur laue Lüfte. Oder anders gesagt: wir haben uns an die Lüge gewöhnt. Psychologen würden wohl sagen, wir sind von klein an daran gewöhnt. Und sie würden wohl auch raten, auf lügnerische Reden nicht mit einer Gegenrede versuchen zu antworten, denn die hat der Lügner schon vorher einkalkuliert. Die Reaktion muß von anderer Art sein, um beeindruckend und wirksam zu sein. Dennoch bedanke ich mich für die viele Kleinarbeit, die hier von den Achse-Autoren und auch den Kommentatoren geleistet wird!

Gotthelm Fugge / 06.09.2018

Hetzjagden, Hitlergruß, . . .  Des Adlatus Seiberts semantische Debatte! Es bröckelt mehr und mehr - Jetzt vielleicht doch ein linker Agent Provocateur. t-online /  20180906: ““In eigener Sache - Korrektur zu unserer Chemnitz-Berichterstattung: Die Hitler-“Gruß”-Fälle wurden vielfach auf Fotos und in Videos dokumentiert. In den sozialen Medien verbreiten manche Nutzer seitdem die Behauptung, die Hitlergruß-Zeiger seien nicht Rechtsextreme, sondern “Provokateure”, die von linken Gegendemonstranten oder “den Medien” eingeschleust worden seien. Wir bezeichneten ein Foto von einem der Hitlergruß-Zeiger als Fotomontage. Das ist falsch. Nachdem wir das vorliegende Material sowie weitere Aufnahmen noch einmal genauer geprüft haben, sind wir zu dem Schluss gekommen: Auf der Hand des abgebildeten Demonstranten sind tatsächlich die Schriftzeichen “RAF” zu erkennen.”“ Also KEIN Fake-News, Tiefschlag für IM Victoria. Vielleicht wird diese Person noch (wie auch immer) korrekt von einem Mitmenschen als eben solch Provocateur erkannt!

Bernd Müller / 06.09.2018

Lieber Herr von Loewenstern, das ist alles richtig, was Sie sagen, aber in einer Sache, irren Sie sich meines Erachtens: Es enstünde der (für die Regierung) angenehme Nebeneffekt, dass der breite Widerstand in der Bevölkerung gegen Merkels Migrationspolitik diskreditiert, kleingeredet und weggedrückt werden konnte und nun stattdessen über Dunkeldeutschland, braunes Sachsen und dräuende „rechte Machtübernahme“ schwadroniert werden würde.  Wie bitte? Nebeneffekt? Ich glaube, langsam aber sicher gibt es keinen Grund mehr, Merkel zu unterschätzen oder ihr (wohlwollend) bloß politische Dummheit oder Tolpatischigkeit zu unterstellen….......Mit den allerbesten Grüßen aus Offenburg, Bernd Müller

Dr. Inge Frigge-Hagemann / 06.09.2018

Zu dieser Bundesregierung und ihrer Kanzlerin läßt sich nur noch konstatieren: ERBÄRMLICH. Und das nicht erst seit Chemnitz, aber wegen Chemnitz nochmal verdeutlicht.

Frank Box / 06.09.2018

“Natürlich müssen sich AfD und andere zu Recht die Frage gefallen lassen, wie genau sie es mit Pegida und bestimmten Pegida-Vertretern halten” - Ich teile ausdrücklich die Ansicht, dass eine Partei, die sich als “Rechtstaatspartei” bezeichnet, sich keinesfalls mit multikriminellen Wiederholungstätern, wie Bachmann, gemeinsam auf eine Bühne stellen darf. Das ist wie ein Geistlicher, der in allen seinen Predigten die Gläubigen vor dem “Teufel” warnt, dem dann aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Hand schüttelt. Mit einem sochen Verhalten macht man sich unglaubwürdig!

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