Von Ansgar Kruhn.
Bei der Entstehung der modernen Welt und der bis dahin unerreichten Freisetzung von Energie haben zwei Faktoren eine entscheidende Rolle gespielt. Erstens: Die Bündelung der staatlichen Ressourcen durch die Bürokratie, die dem Staat ein abstraktes Gesicht und Regeln gegeben hat, an denen sich die Bürger unabhängig davon, wer ihnen als Staatsdiener gegenübersaß, orientieren konnten. Und zweitens: Die freie Entfaltung der Bürger in wirtschaftlicher und geistiger Hinsicht. Eine Vielzahl von staatlichen und privaten Organisationen ist so entstanden, die zunehmend Systeme ausgebildet haben, die nach eigenen Regeln funktionieren. Diese Zusammenhänge beschreibt die Systemtheorie.
Bereits Max Weber hat erkannt, dass die Bürokratisierung ein so starkes Instrument zur Kontrolle der Menschen und ihrer Belange darstellt, dass hier kein Rückschritt mehr denkbar ist, sondern vielmehr von einer ständig zunehmenden Bürokratisierung ausgegangen werden muss. Es ist evident, dass dies vom heutigen Standpunkt aus zutrifft. Allerdings scheint ein Rückschritt gerade im Gange zu sein; zwar nicht im Hinblick auf die weiterhin ausufernde Bürokratie, aber im Hinblick auf die Eigenständigkeit der verschiedenen Systeme.
1983 haben die beiden amerikanischen Soziologen Paul K. DiMaggio und Walter W. Powell in einem Aufsatz die These aufgestellt, dass sich die verschiedenen Organisationen in einem „Organisationsfeld“, dasheißt ein durch ein bestimmtes Thema bestimmtes, allgemein wahrgenommenes Feld (zum Beispiel die Bankenbranche, der Lebensmittelhandel oder die städtische Verwaltung), immer stärker aneinander angleichen. Für diese voranschreitende Homogenisierung seien verschiedene „Isomorphism“ verantwortlich: So zum Beispiel Druck von außen, zum Beispiel durch Gesetze, ebenso wie die Übernahme der Strukturen von erfolgreichen Konkurrenten oder die geteilte Sozialisation der Angestellten.
Diese Homogenisierung wirkt sich wirtschaftlich durch eine zunehmende Reduzierung der Firmenvielfalt und der unterschiedlichen Geschäftsmodelle aus, noch wichtiger aber scheint es zu sein, dass die Bürokratie zunehmend auf die freie Wirtschaft ausstrahlt. Neben der steigenden Zahl von Vorschriften und zu leistenden Rechtfertigungen, was beides zur Ausprägung einer firmeninternen Bürokratie führt, werden zunehmend gedankliche Überzeugungen auf die Struktur von Firmen übertragen: das herausstechende Beispiel hierfür wäre die Frauen- oder angedachte allgemeine Minderheitenquote.
An diesem Beispiel lässt sich erkennen, dass es keineswegs nur institutionelle Homogenisierungen sind, die stattfinden, sondern vielmehr von einer gedanklichen Homogenisierung gesprochen werden kann, die sich in erster Linie auf eine zunehmend geteilte Sozialisierung der Entscheidungsträger in Politik, Bürokratie und Wirtschaft zurückführen lässt. Die Vermutung liegt nahe, dass eine solche Homogenisierung der Ideen zur Entstehung einer gedanklichen Orthodoxie führen wird, die sich um eine Reihe von de facto unhinterfragbaren Grundüberzeugungen (Dogmen) gruppiert. Findet man diese Dogmen in allen Lebensbereichen wieder, dann verstärkt sich die Suggestionskraft der Orthodoxie. Als Beispiele hierfür mögen Geschlechtergerechtigkeit, Umweltschutz, Diversity als Wert an sich, Emotionalität oder Religions- und Esoterikfreundlichkeit dienen.
Wo es aber Orthodoxie gibt, da muss es auch Häresie geben
Wo es aber Orthodoxie gibt, da muss es auch Häresie geben. Durch die kontinuierliche Bestätigung der eigenen Ansichten sinkt die Akzeptanz gegenüber Ansichten, die den eigenen Dogmen widersprechen. Der Häretiker wird nicht als Mensch mit berechtigten Ansichten empfunden, sondern als letztlich unmoralischer Kritiker der Orthodoxie. Um die eigenen Dogmen zu verteidigen, muss der Häretiker abgelehnt und möglichst entfernt werden. Dem Häretiker bleibt in dieser Situation der geistige Rückzug in seine eigenen vier Wände (und ggf. die Privatheit der Wahlkabine) oder aber der Beitritt zu einer Sekte, welche die Orthodoxie attackiert, wo sie kann. In diesen Sekten findet freilich wiederum eine Homogenisierung der Häresie statt, in der die verschiedenen im Gegensatz zu einzelnen Dogmen stehenden Gedanken zu einem eigenen Weltbild mit entsprechenden Gegen-Dogmen verdichtet werden. Die Folge ist ein Kampf der Weltbilder, der weniger auf der inhaltlichen Ebene, weit mehr auf der moralischen Ebene ausgetragen wird, was zu einem stetig steigenden Grad an Emotionalität in Orthodoxie und Sekte gleichermaßen führt.
Die gedankliche Homogenisierung bewirkt indes mehr als nur eine Konstituierung von Orthodoxie und Häresie: Sie führt zu einer Rückkopplung der verschiedenen Systeme, deren Abgrenzung untereinander ein Zeichen der Moderne ist. Die Dogmen gilt es, in allen Systemen zu verwirklichen bzw. alle Systeme zur Verwirklichung der Dogmen heranzuziehen. Deutlich lässt sich dies im Bereich des Gendermainstreamings erkennen, welches im System Wissenschaft engagiert von den Gender Studies, deren Ziel weniger die abstrakte Erkenntnis, sondern die engagierte Durchsetzung von Theorien ist, vertreten, seinen Weg in das System Politik gefunden hat, von wo es über Gesetze, aber auch Anregungen schließlich in die Welt der freien Wirtschaft gewandert ist, deren eigentliches Systemziel, die Erwirtschaftung von Gewinn, diesbezüglich überschrieben wird von einem sozialpolitischen Ziel. Man kann das Beispiel ausdehnen auf den Journalismus, das Sub-System Arbeitnehmervertretungen etc.
Gibt man Max Weber in der Ansicht recht, dass sich die Bürokratisierung immer mehr ausbreiten wird, dann kann einen die hier skizzierte Entwicklung nicht wundern: Bürokratie stellt im Kern die regelhafte und umfassende Verwaltung von normierten Ereignissen dar. Aus der Funktionslogik der Bürokratie heraus stellen individuelle Sonderfälle sowie Bereiche, die sich den bürokratischen Regeln entziehen, Probleme dar, die heute unter der geschickten Ausnutzung einer Homogenisierung der Gedanken behoben werden können. Für die Leistungserbringung einer modernen Gesellschaft wird sich dies negativ auswirken. Bedenkt man aber, dass die Moderne seit ihrer langsamen Genese von linker wie von rechter Seite – gerade im Hinblick auf die funktionale Ausdifferenzierung, den kalten Leistungswillen und die Überwindung einer einheitlichen Geisteshaltung – attackiert wurde, dann lässt sich fragen, ob die aktuelle Entwicklung nicht den Träumen der Menschen entspricht; auch wenn es die Träume von Bürokraten sind.
Ansgar Kruhn ist Historiker und nebenbei Reisender in Sachen Weltanschauungstourismus .