Von Oswald Metzger
Kein Begriff wird in der politischen Debatte stärker missbraucht als das Wort Gerechtigkeit. Es ist das Totschlagsargument schlechthin, das Politiker immer dann instrumentell nutzen, wenn sie neue Leistungsversprechungen in die Welt posaunen und sich gegen den Vorwurf der Unfinanzierbarkeit zur Wehr setzen. Dabei stehen am Beginn der grassierenden Überschuldung der öffentlichen Budgets immer wohlfeile staatliche Leistungen, die ohne Rücksicht auf ihre solide Finanzierung eingeführt werden.
Wie mühsam sich das Einsammeln großzügiger Sozialleistungen im politischen Alltag gestaltet, sehen wir derzeit vor allem im bankrotten Griechenland. Hier sind sich deutsche Politiker, die Medien und auch die Bürgerinnen und Bürger schnell einig, dass Deutschland ohne massive Einsparungen in Griechenland keine weitere Unterstützung leisten darf.
Dabei sind wir blind für die aktuellen Entwicklungen im eigenen Land. Sehenden Auges ruft die bürgerliche Koalition in Berlin in den nächsten Monaten nach einer neuen Sozialleistung, dem Betreuungsgeld. Rund 2 Milliarden Euro wird der Bundeshaushalt künftig jährlich aufbringen müssen, damit Eltern für die Nichtinanspruchnahme von Kinderbetreuungsplätzen für ihre Sprösslinge – vor dem 3. Lebensjahr – anfangs monatlich 100, später 150 Euro vom Staat erhalten. Die Fehlanreize, die diese staatliche Gießkannenförderung gerade auf Eltern mit niedrigem Einkommen ausüben kann, will ich hier nur kurz streifen. Aber für viele Kinder aus Problemfamilien ist jede Stunde, die sie in einer Kinderbetreuungseinrichtung verbringen, ein Gewinn – von vernünftiger Ernährung, spielerischer Zuwendung bis zu sprachlicher und feinmotorischer Förderung. Vor der Glotze verdummen und verdicken Kinder in einer Kita eher nicht.
Doch die absurde gesellschaftspolitische Debatte läuft anders: Die Befürworter des Betreuungsgeldes finden es ungerecht, wenn Eltern arbeiten, ihre Kinder in teure Kitas „stecken“, dafür nur etwa 15 Prozent der echten Kosten als Elternbeitrag bezahlen müssen und durch ihre Erwerbsarbeit ein höheres Einkommen erzielen. Dass sie dafür Steuern und Sozialabgaben bezahlen, mit denen unter anderem auch Sozialtransfers bezahlt werden, interessiert nicht. Und dass auch diese Eltern für ihre Kinder verantwortlich und keine Rabeneltern sind, wird gern ausgeblendet. Geld vom Staat für die Nichtinanspruchnahme einer Leistung: Was für ein Treppenwitz in der Gerechtigkeitsdebatte, die sich dann Wahlfreiheit der Erziehungsmodelle nennt. Dass die neue soziale Wohltat mit Krediten bezahlt werden muss, weil der Bundeshaushalt nicht ausgeglichen ist, interessiert die Gerechtigkeitsapostel mitnichten.
Ein weiteres Gerechtigkeitsanliegen wird von den Sozialpolitikern derzeit vorbereitet. Sie wollen die Rentenanwartschaften von Eltern, deren Kinder vor 1992 geboren sind, für deren Kindererziehungszeiten erhöhen. Denn erst für die ab 1992 geborenen Kinder erhalten Eltern drei Kindererziehungsjahre bei der Rente angerechnet. Das bringt einer Frau, die in den ersten drei Lebensjahren ihres Kindes nicht erwerbstätig war, eine Rentenanwartschaft, die den Pflichtbeiträgen eines Durchschnittsverdieners entspricht. Der Rentenwert für das Durchschnittseinkommen beträgt derzeit etwa 27 Euro Monatsrente. Auf den aktuellen Rentenwert umgerechnet erhöht also ein Kind die spätere Monatsrente um rund 81 Euro, sofern es ab 1992 geboren wurde. Die Eltern für alle zuvor geborenen Kinder erhalten dagegen nur ein Kindererziehungsjahr angerechnet, also 27 Euro monatliche Rentensteigerung.
Diese Ungerechtigkeit abzuschaffen, hätte einen hohen Preis. Innerhalb eines Jahrzehnts würden die Kosten für die Rentenversicherung um rund 6 Milliarden Euro jährlich ansteigen. Der jährliche Zuschuss aus dem Bundeshaushalt müsste entsprechend erhöht werden oder die Beitragssätze der Arbeitnehmer stiegen um bis zu einen Prozentpunkt. Davon reden die Sozialpolitiker nicht. Sie segeln ja nur unter der Gerechtigkeitsflagge. Die Finanzierungsfrage ist für sie zweitrangig.
Doch ein Staat, der konsumtive Leistungen mit Krediten finanziert, muss Leistungen kürzen und Privilegien abbauen. Nur so lassen sich die Ausgaben senken. Wer im Jahrzehnt der Überschuldungskrisen neue Leistungsversprechungen auf die politische Agenda setzt, gehört in die Anstalt, nicht ins Parlament.
Zuerst erschienen in der Fuldaer Zeitung am 11. Februar 2012