Gunnar Heinsohn / 10.05.2014 / 10:18 / 6 / Seite ausdrucken

Nietzsche und Boko Haram

Als Nigerias Islamisten im Jahre 2002 antreten, geht das Land durch eine imposante Vermehrung. Im halben Jahrhundert seit 1950 springt es von 38 auf 130 Millionen Eiinwohner. Heute prunkt es mit 177 Millionen und bis 2030 werden 275 Millionen das Land auf den fünften Platz der Welt katapultieren (hinter Indien, China, USA und Indonesien). Hätte Deutschland sich ebenso fulminant fortgepflanzt, wäre es von 70 Millionen 1950 auf 326 Millionen 2014 gestürmt. 2030 hätte es mit über 500 Millionen (statt nur 80) das Potential nicht nur für tödliche Bandenkämpfe und Dörfer-Abschlachtungen daheim. Gepaart mit erstklassiger Waffentechnik könnte es ganz Europa in Angst und Schrecken versetzen.

Natürlich braucht es das Nachzeichnen all der Wendungen, Ungerechtigkeiten und Steigerungsformen, um Boko Harams Aufstieg in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen. Aber bewirkt tatsächlich das von Reportern immer wieder beschworene Schicksal des Gründers Mohammed Yusuf mit seinen flammenden Predigten und seinem Lynchende im Staatsgewahrsam, dass seinem Nachfolger Abubakar Shekau Freiwillige ohne Ende zulaufen? Werden in Afrikas Führungsmacht ideologische Konflikte ausgetragen? Sorgen aus dem Ruder gelaufene religiöse Abweichungen für all die Toten? Gibt es derartige Differenzen nicht immer, obwohl für sie keineswegs zu allen Zeiten ein mörderisches Ringen in Gang kommt?

1882, als Deutschland – alsbald global verspürte – Geburtenraten wie heute Nigeria oder Gaza durchstehen muss und Europa die bald zu spüren bekommt, verfasst Friedrich Nietzsche (1844-1900) Die Fröhliche Wissenschaft. Im 38. Aphorismus über „Die Explosiven“ zeigt der Thüringer das Gespür des Genies für jenes grausam-begeisterte Rasen, das sehr viel später erst die Youth-Bulge-Forschung mit Zahlen untermauert: „Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: Das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte, - nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!”

Wie sehr diese demographisch unterfütterte Einschätzung damals in der Luft liegt, vermerkt Preußens meistgelesener Truppeninstrukteur, Colmar von der Goltz (1843-1916). Ein Jahr nach Nietzsches Aphorismus lobt er in Das Volk in Waffen (1883) die ohne Aussicht auf Positionen in den Lebenskampf eintretenden Jungen: „Leicht trennt nur die Jugend sich vom Leben. […] Die Sehnsucht nach Erlebnissen macht sie kriegslustig. […] Sie tritt mit Freude und Sorglosigkeit in den Kampf, die beide zu der blutigen Arbeit nothwendig sind.“

Von 1950 bis 2000 zieht – ganz wie seinerzeit in Preußen – jede Frau in Nigeria drei bis vier Söhne auf. Erst für 2020 hofft man darauf, dass die Geburtenrate unter 5 sinkt (Europa hat seit Jahrzehnten nur 1,5). Im traditionellen Kampfalter von 15 bis 24 Jahren kann Nigeria heute 17 Millionen Jünglinge ins Feld stellen, nach gerade mal 5 Millionen im Jahre 1967, als der genozidale Krieg um Biafra beginnt. 21 Millionen potentielle Krieger werden es 2020 und 28 Millionen 2030 sein. Die Hassprediger werden dann längst andere Namen und die Generale noch protzigere Uniformen tragen. Bei den bisher 1500 Ermordeten wird es nicht geblieben sein und einer Gnade käme es gleich, wenn Vergewaltigungen und Entführungen durch die Männerbünde ein Horror der Vergangenheit wären. Vielleicht wächst dem Land zwischendurch ein Denker zu, der nicht nur das Versagen von Politik und Polizei beklagt, sondern vom weiterhin wuchtig nachwachsenden Eifer für die brennende Lunte zu reden weiß.

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Leserpost

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Franz Roth / 13.05.2014

Gibt es denn eine empirische Untermauerung, dass Youth Bulges tatsächlich die Ursache kriegerischer Auseinandersetzungen ist und nicht nur ein Faktor einer Reihe von Faktoren? Wäre nett, hier mal entsprechende Quellen und Studien kennenzulernen.

Gerd Handler / 10.05.2014

Nette Zahlenspielerei, nur bis dahin werden Bio- und Cyperinstrumente so weit fortentwickelt sein, dass sich die Jugend per Drohnen-WLAN mit Router direkt ins Hirn eingepflanzt ins Virtuelle zurückziehen können, um dort mordend durch den Busch zu ziehen. Die Geburtenrate - und ich weiss, das ist gewagt - wird im Jahr 2030 in Nigeria wie überall auf der Welt unter die magische 2 rutschen. Gefühlsecht immitierte Allmachtswelten für ein paar Pfennig eingebaut (vielleicht sogar gefördert durchs DoD), sie hätten sogar Hitler die blonden Jungscharen geraubt. Niemand wird sich mehr für das sog. “RL” interessieren, es sei denn er muss mal. Aber wer weiss, vielleicht wird uns das auch noch abgenommen…

Klaus Kalweit / 10.05.2014

Nicht nur wegen Nigeria, sondern auch wegen der vielen anderen Länder mit explosionsartig wachsender Bevölkerung: Ist es vorstellbar, daß die blutigsten Kriege der Menschheit noch bevorstehen?

Dr. Gerd Brosowski / 10.05.2014

Ich will eine naive, fast dümmlich anmutende Frage stellen: Woher weiß man, dass Nigeria heute 177 Millionen Einwohner hat? Wenn ich mich recht erinnere, lagen in den beiden zurückliegenden Volkszählungen in Deutschland die ermittelten Zahlen unter den zuvor offiziell geltenden; so gab es bei der Ende der achtziger Jahre durchgeführten Zählung knapp zwei Millionen Bundesbürger weniger als zuvor angenommen worden war. Das war ein Fehler von immerhin drei Prozent, und das in einem der am besten verwalteten Ländern der Erde. Wie groß werden die Fehler in einem Land wie Nigeria sein? Und werden diese Fehler nicht systematisch in dem Sinne sein, dass die tatsächlichen Zahlen stets tiefer als die offiziell geltenden sind? Vielleicht weil die offiziellen Zahlen auf Angaben örtlicher chiefs beruhen und diesen natürlich daran gelegen sein dürfte, sich als Vorsteher möglichst großer Volksgruppen darzustellen.

Max Wedell / 10.05.2014

Leider ist ein “Denker” noch nicht automatisch einer, der ein Problem gelöst hat. In der beschriebenen Konstellation ist eine Problemlösung, die auf etwas anderes hinausläuft als auf einen ähnlichen Mord und Totschlag, wie er aus der europäischen Geschichte bekannt ist, wohl eher unwahrscheinlich. Wenn es gelänge, den “Eifer für die brennende Lunte” auf Inhalte zu richten, die den Wohlstand mehren (und damit die Youth-Bulge-Quelle zum Versiegen bringen), so müsste dies auf eine generelle, die ganze Bevölkerung umfassende Weise passieren. Denn wenn sich in solchem Youth-Bulge-Szenario erstmal “abgehobene Schichten” und “abgehängte Schichten” bilden, ist die Gefahr sofort da, daß sich letztere nicht dem wohlstandsbildenden Eifer anschließen, sondern den ersteren einfach mit dem Gewehr in der Hand das Errungene abnehmen. Das System, das den Eifer auf die Wohlstandsbildung fokussieren konnte, bräche zusammen. Warum Wohlstand erwerben unter Aufwendung größerer Anstrengung als zum Durchdrücken eines Abzugs nötig ist? Das Testosteron, das zu solchem Handeln befähigt, ist jedenfalls ausreichend verfügbar. Wenn dann nach dem allgemeinen Abschlachten die Männerüberschüsse beseitigt sind, und darüber hinaus die verbleibenden Menschen zur Ansicht gelangt sind: “Sowas wollen wir nicht nochmal erleben”, dann bestünde eine Chance auf Ausbruch aus der tödlichen Mechanik. Nun, bevor es dazu kommt, wird - das ist voraussehbar - Druck im Kessel abgelassen, indem die Flut derjenigen, die sich auf den Weg machen ins gelobte Land Europa, in dem Milch und Honig fließen, stetig anwachsen wird.

Roger Nufer / 10.05.2014

Das mag alles ziemlich einleuchtend sein. Es erklärt aber nicht, warum in den meisten Konflikten extremistische Muslims am Werk sind.

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