Gastautor / 15.03.2014 / 15:57 / 0 / Seite ausdrucken

Kochen für Europa

Markus Somm

Mitte der Achtzigerjahre war ich nach Deutschland gegangen, um Geschichte zu studieren: zuerst nach München, weil dort mit Christian Meier ein beeindruckender Alt-Historiker lehrte, dessen Vorlesungen so beliebt waren, dass er ohne Weiteres mit Eintrittskarten hätte reich werden können. Dann wechselte ich nach Bielefeld, einer im Vergleich zu München trostlosen Stadt am Teutoburger Wald, deren historische Fakultät aber damals weltberühmt war. Hier regierte die sogenannte Bielefelder Schule, die mit ihrem innovativen sozialgeschichtlichen Ansatz und mit Giganten der deutschen Historiografie wie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka für Furore sorgte – weit über Deutschland hinaus.

Als ich zum ersten Mal in der Uni Bielefeld herumirrte, um mich einzuschreiben, wäre ich am liebsten gleich wieder nach München zurückgekehrt, so entsetzlich kam mir alles vor. Der grösste Fehler meines Lebens. Der Tag war grau, die Uni noch grauer: plumpe, abweisende Treppenhäuser aus Beton umstellten das Hauptgebäude wie die Türme einer Kreuzritterburg, und befand man sich erst im Innern, fühlte sich das an wie in einem schlecht konzipierten Hallenbad aus den frühen Siebzigerjahren. Wäre mir jetzt der Geruch von Chlor in die Nase gestiegen, es hätte mich nicht aus der Fassung gebracht.

Und ein Pils beim Griechen
Auf dem Boden spannte sich ein brauner oder grüner genoppter Kunststoffbelag, der sich bestimmt leicht abwaschen liess, ganz gleich welche giftigen Flüssigkeiten auf ihm ausgebracht worden waren; an den finsteren Betonwänden hingen zahllose von Hand vollgekritzelte Plakate, die auf WGs oder Juso-Treffen oder Mitfahrgelegenheiten hinwiesen, irgendwo in einer Ecke schliesslich entdeckte ich ein Restaurant ohne jeden Charme, das natürlich griechische Spezialitäten anzubieten behauptete, sodass man sich nach dem Seminar beim «Griechen» verabreden konnte, als lebte man auf Kreta – was ich aber erst später zu schätzen lernte.

Eine Welt für sich, abseits der Stadt, die im Zweiten Weltkrieg flachgebombt worden war, ein Shopping Center der Bildung, eine Mall der Hässlichkeit, aber eine exzellente Uni, deren Bibliothek, die den ganzen ersten Stock einnahm, rund um die Uhr offen hielt. Wer hier studierte, dem blieb nichts anderes übrig als zu studieren. Sonst war hier nichts zu erleben.

Ein Besuch beim Genie
«Prof. Dr. H.-U. Wehler», stand auf dem Schild. Ich klopfte. Aus Nervosität wohl abgemessen. Weil ich wissen musste, ob ich nach dem Grundstudium in München, wo ich mich vor allem auf Alte Geschichte eingelassen hatte, gleich ein Seminar bei Wehler, dem bewunderten Titanen der modernen Geschichte, belegen durfte, um dessentwillen es mich überhaupt ins ferne Ostwestfalen verschlagen hatte, wollte ich mich beim Lehrer persönlich erkundigen. Die Tür öffnete sich  – und ein Buch in der Hand, die Brille halb auf der Nase, erschien der Meister. Er begrüsste mich so glücklich, als gehörte ich seit Jahren zu seinen Lieblingsstudenten. «Ah, Sie kommen aus der Schweiz? Haben Sie bei Braun studiert?» «Nein, noch nicht, aber er hat Sie empfohlen.»

Was mir entgegenschlug, war ein Charisma, wie ich es selten danach erlebt habe. Zugänglich, humorvoll, unkompliziert und neugierig, blickte mich ein Professor an, dessen Augen sich freundlich in mich bohrten, als hätte ausgerechnet ich ihm weiss Gott etwas zu erzählen. Princeton, Harvard, Stanford: Überall war Wehler gern gesehen und mit Ehren überhäuft worden, dennoch gab er mir das Gefühl, als wäre gerade diese eine Begegnung mit mir für ihn besonders wertvoll.

Obwohl ich bloss ein unbekannter, kleiner Student war, behandelte er mich, als gehörte ich dem Nobelpreis-Komitee an. Je brillanter ein Wissenschaftler, diese Erfahrung machte ich später auch in Amerika, desto uneitler sein Umgang: Wer etwas kann, hat es nicht nötig, arrogant zu sein. Auch das lehrte mich Wehler.

An den Füssen trug Wehler Turnschuhe, was mir sehr amerikanisch vorkam, und er bewegte sich geschmeidig wie ein junger Turner. Als Student hatte er für Zeitungen Sportreportagen geschrieben, um sich das Studium zu verdienen, was man seinen Texten danach, vor allem den polemischen, noch ansah: ein rascher Duktus, ein eleganter, knapper Stil, mit Drang zum Tor.

«Ich würde gerne in ihr Seminar kommen, denn alles andere zählt für Braun nichts», fing ich unsicher an. «Na klar. Gerne!» Ohne lange nachzudenken, hatte mich Wehler in sein Seminar zum Ersten Weltkrieg eingeladen, auch wenn ich streng genommen das Grundstudium noch nicht erledigt hatte. Doch die Tatsache, dass ich ja in der Schweiz mein Studium abzuschliessen gedachte, war ihm Grund genug, alle bürokratischen Vorgaben in den Wind zu schlagen, sofern es sie gab. Kein Formular musste ich ausfüllen, keinen Schein vorweisen, keine Bewerbung verfassen. Mit Handschlag verabschiedete sich Wehler. Studieren im Ausland vor Erasmus. Keine Hexerei.

Ist die Schweiz verloren?
Seit das Schweizer Volk die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen hat – und die EU so tat, als ob sie das Land bestrafen wollte, indem sie die Teilnahme der Schweiz am neuen Erasmus+-Programm aussetzte, wurde da und dort der Eindruck erweckt, diese einseitige Massnahme führte uns in die bildungspolitische Wüste. Unsere Jugend verdurstet. Unsere Professoren vereinsamen zwischen St. Margrethen und Genf, weil sie nicht mehr über die Grenze kommen. Unsere Forscher verstummen, denn niemand hört mehr auf sie.

In zahlreichen Medien traten Studenten auf, die darüber klagten, dass sie nun sozusagen ausgesperrt würden, manche Journalisten, die einst von einem Erasmus-Austausch profitiert hatten, schrieben ihre Erinnerungen nieder, die sich anhörten wie die süssen Geschichten der Veteranen aus dem WK. Politiker rangen die Hände: Was können wir tun, bevor wir untergehen?

Kochen für Europa
Ein paar Tage später, nachdem die Basler Zeitung aufgedeckt hatte, dass das Erasmus-Programm schon im Januar akut gefährdet war, weil sich die EU und die Schweiz im Finanziellen nicht einigen konnten, hat sich der pompöse Protest in kleinlautes Murren zurückgebildet.

Zumal manchen erst jetzt klar wurde, dass bloss etwa ein Drittel der Millionen für Erasmus dem eigentlichen Studentenaustausch zugute kommt, während das Übrige in Brüssel oder in der Schweizer Bürokratie verdunstet oder in Programme strömt, die nichts mit Studentenaustausch, aber viel mit Unsinn zu tun haben. «Tasting Europe», heisst ein Projekt, das das Collège Madame de Staël in Carouge entworfen hat: «Tasting Europe invokes tasting food and tasting life», lautet der Projektbeschrieb in ärmlichem Englisch: «The final product tasting Europe, the European Cookbook with nutrition and health tips expresses deep reflection on consumer responsibility and solidarity. It will be distributed to spread the work and support charity activities concerning food.» Zu Deutsch: Man schreibt ein Kochbuch und glaubt, die Welt zu retten. Für dieses Kochbuch erhält das Collège einen Beitrag von 22000 Euro. Wenn das ein Beamter selber zahlen müsste, würde er das tun?

Wer die 36 Seiten liest, in dem alle Projekte aufgelistet sind, welche die zuständige ch Stiftung für Eidgenössische Zusammenarbeit in Solothurn zwischen 2011 und 2013 gefördert hat, begibt sich auf eine Reise ins gut gemeinte Nirwana. Nie wurde die Welt so oft erlöst. Ein Projekt der Schweizerischen Vegetarischen Vereinigung in Winterthur nimmt sich zum Beispiel Folgendes vor: «Verringerung des Klimawandels, der Nahrungsmittelknappheit und sozialer Ausgrenzung durch Anpassung an einen gesunden und nachhaltigen Lebensstil». Was machen wir am Nachmittag?

Um diese säkularen Ziele zu erreichen, regen die Vegetarier an: «Broschüren und eine Internetseite werden erstellt sowie die Bevölkerung auf der Strasse mobilisiert.» Das ist die einzige Massnahme. Kostenpunkt: 16.000 Euro.

Assyrische Verwicklungen
Wenn ein Satiriker auf solche Ideen käme, man würde ihm vorwerfen, er ruinierte seine Witze, weil kein Mensch je glaubte, hier werde die Realität persifliert. Tatsächlich herrscht in Solothurn längst die Realsatire: 25855 Euro hat die Union Freie Frauen Bethnahrin für ein Programm erhalten, das offiziell so beschrieben wird: «Durch eine Öffnung für Bildung (Lebensbegleitendes Lernen) sollen Survoye-Assyrer Frauen die Möglichkeit erhalten, Zugänge zu Bildung zu finden. Dies soll sie dabei unterstützen, ihre an das Haus gebundene Rolle als Hausfrau und Mutter zu relativieren, um mehr Selbstbewusstsein und Stärke herauszubilden und ein europäisches Verständnis und eine gesunde Integration in die europäische Gesellschaft zu finden.» Da haben die Assyrer aber Glück gehabt.

Auch Yoga erscheint in einem ganz andern Licht, seit das Erasmus-Programm entsprechende Kurse bei Ariadne Hess in Menzingen bezahlt. Ich übersetze aus schlechtem Englisch:

«YOGA – Östliche Weisheit für westliche Bildung. In vielen Ländern Europas führen erwachsene Bürger einen Lebensstil, der auf raschem Rhythmus basiert, was deren wirtschaftliches und soziales Leben prägt, wobei ihnen der Anreiz abgeht, ihren eigenen Ausbildungsstand zu verbessern. Diese Lernpartnerschaft will die Möglichkeit überprüfen, ob Yoga-Praxis auf den Lernprozess von erwachsenen europäischen Bürgern angewandt werden kann.»

Ich empfehle jedem Leser, sich diese schönen Sätze vorlesen zu lassen, wenn er das nächste Mal seine Steuererklärung ausfüllt. Förderungsbeitrag dieses Kurses in Menzingen: 16.000 Euro.

Rückkehr in die Heimat
Vielleicht habe ich in keinem Seminar so viel gelernt wie bei Wehler, damals vor Jahren in Bielefeld. Nachdem ich die Seminararbeit von ihm zurückerhalten hatte, was mir unvergesslich bleibt, weil er selbst von Hand die Komma-Fehler angestrichen hatte, kehrte ich bald nach Zürich zurück.
Nun sass ich hier vor dem damaligen Oberassistenten des Historischen Seminars, Rudolf Jaun, heute ein bekannter Militärhistoriker, und wartete auf seinen Entscheid. Gemächlich, wenn auch mit Sympathie prüfte Jaun meine Scheine, welche meine Studienleistungen in München und Bielefeld nachwiesen. Als ob er das Gewicht der Scheine selbst physikalisch ermessen wollte, drehte er einen Schein nach dem andern in der Luft, wog ihn, betrachtete ihn, runzelte die Stirn, fragte nach. Es schien, als ob er die grosse Verantwortung genoss, die auf ihm lastete.

In eigener Regie hatte er zu beurteilen, ob mein Studium bisher etwas getaugt hatte. Endlich kam er zum Schluss: «Wir anerkennen alles, was Sie in Deutschland absolviert haben. Sie können Ihr Studium an der Universität Zürich fortsetzen.» Womöglich hatte er sich so viel Zeit genommen, um das Verfahren gewichtiger aussehen zu lassen. Tatsächlich war es simpel, persönlich und effizient. Studieren im Ausland vor Erasmus.

Es gab ein Leben vor der EU.

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