Henryk M. Broder / 02.08.2007 / 22:43 / 0 / Seite ausdrucken

“Manche Juden wären lieber unsichtbar”

Von Alexander Roda Roda stammt der Satz: “Aus dem Antisemitismus könnte schon was werden, wenn sich nur die Juden seiner annehmen würden.”  Man könnte auch sagen: Der Antisemitismus ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie den Nichtjuden überlassen könnte. - In der aktuellen Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen sprechen Ingo Way und Benjamin Weinthal mit Alvin Rosenfeld über jüdischen Antisemitismus und linke Israel-Gegner:

Herr Professor Rosenfeld, gibt es jüdischen Antisemitismus?

Rosenfeld: Ich würde gerne sagen, nein. Aber leider existiert er. Er
hat eine lange Geschichte, die mindestens bis ins Mittelalter
zurückreicht. Wenn man sagt, dass es einen jüdischen Antisemitismus gibt, erzählt
man leider nichts Neues. Zur Zeit ist er allerdings wieder so
verbreitet wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

Der deutsche Publizist Sergey Lagodinsky sagt, dass es Juden gibt, die
sich antisemitisch verhalten oder sich antisemitisch äußern, glaubt
aber, dass es übertrieben ist, von „jüdischem Antisemitismus“ zu sprechen.
(Vgl. Jüdische Allgemeine vom 26. April.)

Rosenfeld: Ich halte mich mit dem Begriff Antisemitismus sehr zurück.
Von Zeit zu Zeit ist er jedoch angebracht. Antisemitismus verändert sich
im Laufe der Zeit. Der heutige Antisemitismus hat wenig zu tun mit dem
christlichen Antijudaismus oder dem rassischen Antisemitismus der
Nazis. Heute zeigt er sich in der extremen Feindseligkeit gegen jede
Ausprägung jüdischen Nationalgefühls und seine Verkörperung, den Staat
Israel.

Sie sagen, dass jüdischer Antisemitismus zunimmt. Woran liegt das?

Rosenfeld: Es hat einmal damit zu tun, dass der Antisemitismus seit dem
Jahr 2000 insgesamt angestiegen ist. Manche Juden reagieren darauf,
indem sie abstreiten, überhaupt jüdisch zu sein. Sie wären als Juden
lieber unsichtbar. Es ist ihnen unangenehm, wenn Juden zu sehr im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Manche präsentieren sich als „gute
Juden“, die sich vom jüdischen Staat distanzieren und ihn als militaristisch,
nationalistisch, theokratisch bezeichnen. Die Art und Weise, wie sie
das tun, verbindet sie häufig mit Antisemiten.

Ihr Essay „,Fortschrittliches‘ jüdisches Denken und der Neue
Antisemitismus“ hat in den USA eine Flut von Reaktionen ausgelöst. Wieso haben
Sie damit einen Nerv getroffen?

Rosenfeld: Hauptsächlich, weil die New York Times über meinen Essay
berichtet hat. In dem Artikel wurde behauptet, ich würde liberale Juden
mit Antisemitismus in Verbindung bringen. 85 bis 90 Prozent der
amerikanischen Juden definieren sich selbst als „liberal“ im amerikanischen
Sinne, also linksliberal, und fühlten sich diffamiert. Aber in meinem Text
benutze ich nirgends das Wort „liberal“, sondern „progressiv“. Diese
Unterscheidung ist wichtig. Viele der heftigen Reaktionen beruhen auf
diesem Missverständnis. Der Finanzmagnat George Soros hat mir vorgeworfen,
ich würde allen progressiven Juden „jüdischen Selbsthass“ vorwerfen.
Aber auch diesen Begriff finden Sie nirgendwo in meinem Artikel.

Wie beurteilen Sie die starke Medienpräsenz von jüdischen
„Israelkritikern“ wie Alfred Grosser, Tony Judt, Uri Avnery oder Noam Chomsky in
Deutschland?

Rosenfeld: Das Phänomen, über das wir reden, zeigt sich in jedem
westlichen Land, einschließlich Israel. Deutsche sind wegen ihrer
Vergangenheit vorsichtig, wenn sie sich in der Öffentlichkeit über Juden und
Israel äußern. Daher beziehen sich diejenigen, die etwas gegen Juden und
Israel haben, auf Leute wie Chomsky oder Judt. Sie spielen jüdische
Stimmen gegen jüdische Interessen aus und bleiben selbst im Hintergrund. Es
ist bequemer, seine Ressentiments nur indirekt auszudrücken, indem man
gewissen Juden zustimmt, die sie ganz unverblümt äußern. Chomsky ist in
Europa viel populärer und wird dort viel mehr als legitimer jüdischer
Sprecher gesehen als in den USA.

Die Genannten würden Sie also explizit als jüdische Antisemiten
bezeichnen?

Rosenfeld: Ich bezeichne diese Leute nicht als Antisemiten und habe das
auch in meinen Texten nicht getan. Aber ganz sicher tun sie sich
schwer mit dem jüdischen Staat. Und wenn man sich nicht nur anhört, was sie
sagen, sondern auch den Ton, in dem sie es sagen, dann findet man bei
ihnen tiefe Erbitterung, Feindseligkeit und sogar Wut. Das heißt nicht,
dass sie Antisemiten sind, wohl aber, dass Israel für sie, als Juden,
ein großes Problem ist. Ein Professor des Bard-College bei New York,
Joel Kovel, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Overcoming Zionism“.
Darin schreibt er, dass Israel ein rassistischer Staat sei, der kein
Recht habe, zu existieren. Kovel hat einen jüdischen Hintergrund,
definiert sich aber nicht als Jude – außer in seinem Widerstand gegen Israel.
Er ist ein Beispiel dafür, wie einige ihre Identität als Jude gerade in
ihrer Feindschaft gegen Israel finden.

Warum entdecken so viele Leute gerade dann ihren jüdischen Hintergrund,
wenn sie Israel kritisieren?

Rosenfeld: Da muss man sich jeden Einzelfall ansehen. Aber ein bisschen
kann man schon verallgemeinern. Um an dem teilzuhaben, was heute
allgemein als links gilt, glauben viele, sie müssten gewisse Anschauungen
unterschreiben. Es gibt bestimmte „Anti“-Begriffe, die man sich zueignen
muss: Antikapitalismus, Antiglobalisierung, Antiamerikanismus und oft
Antiisraelismus. Wenn man ein Linker sein will, muss man, so meinen
diese Leute, das ideologische Gesamtpaket kaufen. Sonst wird man aus der
Gruppe ausgeschlossen, verliert sein Ansehen, seinen Ruf, sein Umfeld,
wird an den Rand gedrängt. Das möchte niemand, also geben sie dem
Gruppendruck nach und schließen sich der übertriebenen Israelkritik an. Ich
bin kein Psychoanalytiker, aber in einigen Fällen haben wir es sicher
auch mit individuellen Pathologien zu tun.

Hat Antiisraelismus eine besondere Qualität, wenn er von Juden kommt,
oder ist das nicht nur ein Teil einer breiteren antizionistischen
Strömung?

Rosenfeld: Sicher ist es das. Aber ich bin selber Jude, und mir liegt
die Zukunft der Juden, und das heißt ja auch meiner Kinder und Enkel,
sehr am Herzen. Diese Zukunft kann ich mir ohne den Staat Israel nicht
vorstellen. Und solange der jüdische Staat umkämpft bleibt und seine
Zukunft (und damit auch unsere) alles andere als gesichert ist, halte ich
es für die Pflicht aller Juden, diejenigen nicht auch noch zu
unterstützen, die Israel verschwinden sehen möchten. Daher beschäftige ich mich
besonders mit jüdischen Israelkritikern. Ein anderer Grund ist der schon
erwähnte, dass es Antisemiten ihren Job erheblich erleichtert, wenn
sie ihre Anklagen von jüdischen Sprechern bestätigen lassen können. Der
Jurist Richard Falk von der Universität Princeton zum Beispiel
bezeichnet die israelische Politik wörtlich als „genozidal“ und behauptet, den
Palästinensern stünde ein „Holocaust“ bevor. Das ist ein gefundenes
Fressen für Antisemiten. Denn Falk bezeichnet sich selber als Jude, und
folglich kann jeder Antisemit sagen: „Na bitte, die sagen’s ja selbst.“

Also sind das Hauptproblem nicht die jüdischen Antisemiten selbst,
sondern eher diejenigen, die sich auf sie berufen?

Rosenfeld: Beide sind das Problem. An vielen amerikanischen
Universitäten und Colleges ist Antizionismus gleichsam Teil des Lehrplans, und
etliche der Dozenten sind jüdisch – das verleiht ihnen ein Standing, das
sie sonst nicht hätten. So dringt der Antizionismus von den Rändern in
den Mainstream vor.

Gibt es denn auch linke, progressive Juden, die pro-israelisch sind?

Rosenfeld: Natürlich. Nehmen Sie etwa den Philosophen Michael Walzer
und sein Dissent Magazine. Oder die englische Engage-Website
(http://www.engageonline.org.uk) oder das Euston Manifesto, das vorwiegend britische
Akademiker verfasst haben, um gegen Antisemitismus auf der Linken zu
protestieren. Aber solche Leute haben viel weniger Einfluss als die andere
Seite.

Haben einige der Kritisierten ihre Meinung inzwischen geändert? Haben
Sie eine selbstkritische Debatte angestoßen?

Rosenfeld: Ja. Ein Beispiel: Der Forward, eine linksliberale,
ursprünglich jiddische Zeitung, hat einen bissigen Leitartikel gegen meinen Text
gebracht mit dem Titel „Infamie“. Noch nie habe ich im Forward einen
so harschen Artikel gelesen. Und das in einer Zeitung, für die ich
selber schon geschrieben habe. Man warf mir vor, ich wolle Andersdenkende
zum Schweigen bringen. Nach einem Gespräch mit mir sagte mir der
Herausgeber des Forward, nun würde er anders über meine Thesen denken. Und
einige Wochen später erschien ein Essay eines anderen Autors im Forward,
mit dem Titel „Alvin Rosenfeld hat recht“. Und die Debatte geht weiter.
Im Oktober gibt es in New York eine Konferenz, die sich mit meinen
Thesen beschäftigen wird, und nächsten Frühling eine Konferenz in Boston.
Einige scheinen ihre Position also zu überdenken.

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