Die Deutschen sind nicht nur sauber, sondern rein. Ihr Obst muss vom
Biobauern sein und darf keine chemischen Zusätze enthalten. Am Strand
ziehen sie sich splitterfasernackt aus, damit jeder sieht, dass sie
nichts zu verbergen haben. Ihre Frauen gelten als schön, wenn sie sich
nicht schminken. Ehrlich, authentisch, unverstellt: Mit diesen Maximen
gehen die Deutschen durchs Leben. Gegen die Insignien der Zivilisation
- das Technische, Artifizielle, Gekünstelte - hegen sie Misstrauen, das
nicht selten in Verachtung, gar Hass umschlägt.
Kein Wunder, dass in diesem Land diverse Reinheitsgebote strenger
beachtet werden als die Straßenverkehrsordnung. Und nebenbei will man
gern die ganze Welt erlösen, mit ökologischen Utopien,
Friedensbotschaften und Drittweltbetroffenheiten. Akut tobt sich die
moralische Supermacht in der Dopingdebatte aus. Mit einem Eifer, der an
Fanatismus grenzt, soll der Radsport rein gewaschen werden. Andere
Nationen - Franzosen, Italiener, Spanier, Belgier - gucken auf den
teutonischen Furor halb verwundert, halb spöttelnd. Ja, das Thema
Doping stellt sich als eine deutsche Obsession dar, die vielleicht weniger
über den Radsport aussagt als über uns.
Im Sport, dem Leistungssport zumal, wird seit jeher gedopt, ob beim
Sprinten, Schwimmen, Strampeln oder Gewichtheben. Wer erwischt wird,
scheidet aus. So läuft das Spiel. Kein Ben Johnson hat dem Zuschauer
die Olympischen Spiele verleidet, kein Jan Ullrich wird ihnen die Freude an
der Tour vermasseln. Allein die Deutschen scheinen unfähig zu jenem
augenzwinkernden Einverständnis mit den Fehlbarkeiten von Idolen zu
sein, mit diesem Sicheinrichten in der Imperfektion.
Also verhängt ausgerechnet das Volk, das normalerweise hypersensibel
auf Kollektivstrafen reagiert, wegen eines einzigen mutmaßlichen
Dopingfalls, vertreten durch seine öffentlich-rechtlichen Sender, eine
solche Kollektivstrafe gegen alle Fahrer der Tour. Der
Übertragungsboykott von ARD und ZDF ist gewissermaßen die moderne
Variante des Morgenthauplans, dem zufolge Deutschland nach dem Zweiten
Weltkrieg aufgeteilt, deindustrialisiert und in ein Agrarland
umgewandelt werden sollte. Der Morgenthauplan wäre gerecht gewesen,
wurde aber nicht verwirklicht. ARD und ZDF sind da etwas gnadenloser.
Zum Glück gibt’s inzwischen Privatsender wie Sat1, die ab und zu auch
an die Interessen des Publikums denken.
Im Sport wird gedopt, in der Politik gekungelt, in der Wirtschaft
geschmiert. Das ist normal und darf trotzdem nicht geduldet werden.
Ewige Reinheit indes wird es nie geben. Kam ein Medienverantwortlicher
während des CDU-Spendenskandals auf den Gedanken, bis zur Klärung
aller Vorwürfe die Übertragung von Bundestagsdebatten einzustellen?
Haben sich Zeitungen und Zeitschriften während der VW-Affäre
geweigert, in ihrem Mobilteil die Besonderheiten des Tuareg zu analysieren?
Natürlich nicht. Und so hat auch die Tour einen Erregungspegel
verdient, der einem Radrennen gemäß ist - und nicht einer
Staatsaffäre.
(Tagesspiegel, 2o.7.o7)