Burkhard Müller-Ullrich / 01.09.2014 / 22:29 / 7 / Seite ausdrucken

Ich hab keinen Koffer in Berlin

Jetzt ist mir klar, warum das mit Deutschland alles nichts wird. Wir haben nämlich eine Hauptstadt, die wie folgt funktioniert: Gestern bin ich mit Airberlin von Köln nach Berlin geflogen. Keine Umsteigeverbindung über Catania, Cali oder Cape Town, sondern ein Direktflug, Dauer: 50 Minuten. Von meinen zwei aufgegebenen Gepäckstücken bekam ich nach der Ankunft genau 50 Prozent. Der zweite Koffer fehlte einfach. Das Wort einfach kommt mir angesichts der Umstände (Bluthochdruck, Schweißausbrüche, Hyperventilation) irgendwie falsch vor, aber es ist wirklich ganz einfach: das Fließband hält an, die Gepäckausgabe ist beendet, und der Koffer ist nicht da.

Okay, ich bin Vielflieger und habe schon manches gehört und einiges erlebt. Noch bestand Hoffnung, daß sich bis zum Abend alles wieder einrenken würde. Der Koffer trug ja nicht nur mein Namensschild, sondern hatte auch den Gold-Status-Kunden-“Priority”-Tag bekommen, ein rotes Fähnlein, das dem Ladepersonal “Achtung, dieses herrliche Gepäckstück gehört einem unserer teuersten VIP-Kunden, zu dem wir ganz besonders lieb sein wollen” signalisiert.

Die Liebe kühlte aber schon in den folgenden Minuten ab. Am Airberlin-Gold-Status-Kunden-Schalter wurde mir erklärt, mit meinem Koffer habe man gar nichts zu tun, ich müsse mich an eine Firma namens GlobeGround wenden. Der Schalter der Firma GlobeGround war glücklicherweise gleich nebenan, aber leider unbesetzt. Eine andere Angestellte erklärte mir, der Kollege sei in einer Stunde zurück. In einer Stunde! Ich hatte bereits eine halbe Stunde auf den Koffer gewartet, und in Berlin standen wichtige Termine an.

Ich fuhr ohne Koffer in die Stadt. Während der Taxifahrt versuchte ich die Super-duper-Goldkunden-Service-Hotline von Airberlin telefonisch zu erreichen. Nach 20 Minuten, als das Taxi beim Hotel ankam, beendete ich die telefonische Warteschlangenmusik und die Ansage, der nächste freie Irgendwas sei gleich für mich da. Noch besser aber dann die fermündliche Kommunikation mit GlobeGround: Die spielen ein Band mit der Erklärung ab, sie hätten viel zu tun und man solle es später erneut probieren. Zack, aufgelegt. Wenigstens keine falschen Versprechungen. Und so den ganzen Nachmittag: kein telefonisches Durchkommen möglich.

Das allerbeste an GlobeGround aber ist: sie sind überhaupt nur bis 20 Uhr zu sprechen. Der Flughafen Berlin-Tegel, die Brücke der deutschen Hauptstadt zur Welt, leistet sich einen für Passagiere existentiellen Notfallservice, der von 8 bis 20 Uhr funktioniert. Gute Nacht, Deutschland. Ich weiß, es klingt überzogen, von seinen kleinen Mißgeschicken auf den Zustand der Welt zu schließen, aber bittesehr: es geht nicht um meinen blöden Koffer. So etwas kann vorkommen. Es geht um ein marodes System.

Im letzten Winter vergaß ich meinen Kindle in der Airberlin-Maschine nach der Landung auf Madeira. Erst am Abend im Hotel, es war der 26. Dezember, fiel es mir auf, und ich schrieb mit klammen Fingern und wenig Hoffnung um 21.11 Uhr eine E-Mail an die Lost & Found-Stelle des Flughafen Funchal. Um 22:37 Uhr kam die Antwort: „Good Evening! We have here in our Portway lost and Found desk, a ebook but you need confirm the flight because that flight ab2426 not existed today! Maybe AB2647 from Dusseldorf!? Best Regards, Alexandra”. Alexandra hatte recht: ich hatte mich vor Aufregung in der Flugnummer vertan.

Nein, Leute, das hat nichts damit zu tun, daß Funchal viel kleiner ist als Berlin. Wenn das große Berlin um 20 Uhr dichtmacht, dann ist etwas faul. Und wenn da generell niemand erreichbar ist (eine E-Mail-Adresse für Leute, die ihr Gepäck vermissen, läßt sich nirgendwo finden, statt dessen steht auf der Webseite: „>>AUFGRUND DES AKTUELL HOHEN AUFKOMMENS AN BEARBEITUNGSFÄLLEN, KOMMT ES ZU VERZÖGERUNGEN. WIR BITTEN UM VERSTÄNDNIS. <<“), dann wird das auch eine Nummer größer (Berlin-Brandenburg International) schiefgehen.

PS Vom Koffer auch nach 30 Stunden keine Spur. Fortsetzung folgt.

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Leserpost

netiquette:

caroline Neufert / 02.09.2014

... weil er noch in Köln ist ;-) ... !!!

Siegfried Tauber / 02.09.2014

Nachts gibts Nachtzuschlag und der (zusammen mit dem gesamten Nachtzuschlag der kommenden 50 Jahre) wird gerade im neuen Flughafenterminal versenkt. Ganz einfach. Wie auch die Lösung: Einfach nichts rotes oder grünes mehr wählen.

Olaf Loewenberg / 02.09.2014

Herr Müller-Ullrich, Sie sprechen mir aus der Seele. Bis heute habe ich ein gespaltenes Verhältnis zu meiner Heimatstadt, die ich vor zwölf Jahren verließ. Ich empfinde Berlin nach wie vor als provinziell und weltfremd ...

Hilmar Türkowsky / 02.09.2014

Ich habe einen Tablet PC in einer easyjet Maschine liegen lassen, es allerdings schon 30 Minuten später bemerkt. Das Personal am Globe Ground Desk war ausgesprochen hilfsbereit und nach wenigen Minuten wurde das Gerät aus dem Tresor zu mir gebracht. Das war am Flughafen Berlin-Schönefeld. Also, auch bei uns kann das ganz gut funktionieren, so auch bei einem fehlenden Koffer meines Sohnes bei der Ankunft in Berlin Tegel, der beim Umsteigen in Amsterdam nicht an Bord der richtigen Maschine gelangte. Am nächsten Tag wurde er nach Hause geliefert. Ihr Erlebnis ist sicher extrem unangenehm, aber nicht tauglich zur Verallgemeinerung. Alllerdings war der Mitarbeiter beim Globe Ground nicht gerade anderwärtig unterwegs. mfg Hilmar Türkowsky, Berlin

Daniel Briner / 02.09.2014

In Deutschland gibt es viele atypische Arbeitsverhältnisse, wie Teilzeitarbeit, Minijob, Midi-Job, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit bzw. Arbeitnehmerüberlassung (auch Zeitarbeit genannt) und Telearbeit; aber hallo, sicher nicht nach 20 Uhr ... Unter Normalarbeitsverhältnis wird ein Arbeitsverhältnis verstanden, das nach der allgemeinen Verkehrsauffassung typisch ist für ein Arbeitsverhältnis; aber hallo, sicher nicht nach 20 Uhr ... Ich kam mal mit leerem Tank an einer Zubringer-Autobahn-Tankstelle nahe Mannheim so um Mitternacht herum an, alles Dunkel und geschlossen, am Kreditkartenleser (!) stand, nur während der Geschäftsöffnungszeit in Betrieb ... aber hallo, sicher nicht nach 20 Uhr ...

Waldemar Undig / 02.09.2014

Ich würde es mir überlegen, ob ich nochmals mit Airberlin flöge. Aber wenn die Lusthansa genauso schlecht ist, dann stimme ich den Gute-Nacht-Seufzern zu.  

Franz Roth / 02.09.2014

Tja, hätte man halt die Hauptstadt im beschaulichen Städtchen am Rhein belassen. Oder zumindest dorthin verlegt, wo die Hauptstadt des demokratischen Deutschland genaugenommen hingehört: In die Stadt, in der die Paulskirche steht.

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