Beda M. Stadler, Gastautor / 17.01.2009 / 19:34 / 0 / Seite ausdrucken

Eier ab

Männliche Ferkel werden kastriert, damit sie nicht nach «Säuli» stinken. Der hinterhältige Eingriff geht zu weit. Man könnte die armen Schweinchen auch impfen.

Wer kein Blut sehen oder nicht mit der Tatsache leben kann, dass wir Affen sind, sei gewarnt: Es geht darum, ob die Schweizer Fleischproduzenten weiterhin Ferkel kastrieren sollen. Da Dinge rund um die Hoden ein delikates Thema sind, betrachtet man sie am besten aus einer wissenschaftlichen, in unserem Fall der evolutionsbiologischen Warte.
Die Hodengrösse korreliert nämlich mit der Promiskuität von Säugetieren. Streng monogam lebende Affen, wie etwa die Gibbons, haben kleine Hoden. Die Gorillas, die es mit der Treue nicht so genau nehmen, haben grössere. Die allergrössten Hoden haben die Schimpansen. Sie repräsentieren in diesem Sinn die Krönung der «Schöpfung». Monogame Partner schaften verlangen nämlich nicht nach überdimensionierten Samenfabriken wie bei den Schimpansen, die ihre sozialen Konflikte gerne mit Sex lösen. Dabei sind sie, mit menschlichen Massstäben gemessen, unmoralisch, weil sie nicht einmal vor Kindern haltmachen. Nachwuchs kriegt also der Schimpanse, der nicht nur am meisten Gelegenheit hatte, sondern viel Samen produziert: survival of the sexiest.
Unsere Hoden sind kleiner als die der Schimpansen, aber grösser als jene der Gibbons. Nun, was hat dies mit der Ferkelkastration zu tun? Jemandem die Eier abzuschneiden, ist auch eine moralische Frage, und weil grundsätzliche moralische Werte ein evolutionäres Programm sind, muss man sich fragen, was wäre, wenn wir Menschen so grosse Hoden hätten wie die Schimpansen.
Jedem Wissenschaftler leuchtet ein, dass belastende Tierversuche an nahverwandten Säugetieren zu unterlassen sind. Auch die Tierärzte, denen man noch vor wenigen Jahren dozierte, die fachgerechte Kastration sei problemlos, da kleine Ferkel nicht so schmerzempfindlich seien, haben dazugelernt. Die Schweizerische Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (STVT) hat bereits Ende November ein Pressecommuniqué an alle grösseren Tageszeitungen der Schweiz versandt. Darin weist die STVT darauf hin, dass es neben modernen Ebermasten eine erprobte und in der EU zugelassene Impfung gibt, die verhindert, dass ein Eber nach «Säuli» stinkt.
Der Ebergeruch beruht vor allem auf Skatol und Androstenon. Beide Stink-Stoffe fallen nach einer Impfung unter die menschliche Wahrnehmungsgrenze. Der Impfstoff hinterlässt keine Rückstände im Fleisch und ist schmerzlos in der Anwendung. Bei der Kastration, mit oder ohne Betäubung, verenden an den Folgen bis zu einem Prozent der Eber. Die umweltbelastende Gasnarkose ist keineswegs narrensicher und führt manchmal trotzdem zu einem schmerzvollen Eingriff. Niemand redet übrigens von postoperativen Schmerzen und Infektionen. Wahrscheinlich weil kleine Eber, mit oder ohne Schmerzen, wie Glücksschweine aussehen.
Die Grossverteiler haben alle von der Kastration während der gesetzlichen Übergangsfrist profitiert, obwohl die Impfalternative in der Praxis bereits erprobt war. Ansonsten ist dieser Gilde jedes Label gut, um den Umsatz zu steigern. Sogar «mit ohne Gentechnik» wird als sinnvoll erachtet. Warum also nicht ein neues Label: «mit ohne Hoden ab»? Es wird vorgeschoben, der Konsument wolle keine geimpften Tiere. Oh ja, solche Konsumenten gibt es, das sind wahrscheinlich die gleichen, die auch ihre Kinder nicht gegen Masern impfen, aber schon etliche Lachse verzehrt haben, die gegen Furunkulose geimpft sind. Vielleicht sind sie auch durch die impfkritische Broschüre der schweizerischen Stiftung für Konsumentenschutz irregeführt worden? Die Mehrheit der Konsumenten reagiert anders. Laut einer Studie von ProSchwein haben bereits 2007 68 Prozent der Konsumenten angegeben, die Eberimpfung zu akzeptieren. Die Grossverteiler sollten in der Nähe ihrer Fleischtresen einen Videofilm laufen lassen, der zeigt, wie man kastriert oder wie man impft. Dies würde langwierige Diskussionen oder einen runden Tisch, wie kürzlich vom Präsidenten von Suisseporcs, Peter Hofer, vorgeschlagen, unnötig machen.
Die verpönte Impfung kostet rund fünf Franken. Der Krampf mit der Betäubung, wie er jetzt aus unverständlichen Gründen durchgestiert wird, geht selbst Karnivoren wie mir zu weit. Die Grossverteiler müssen endlich Farbe bekennen. Man kann doch nicht ständig von «glücklichen Schweinen» und «Bio» reden und dann hinterrücks ohne Notwendigkeit mit dem Skalpell den männlichen Nachwuchs verunstalten, womit wir wieder am Anfang wären. Die geistige Evolution und die Erkenntnisse aus der Biologie müssen bei derart vitalen Problemen miteinbezogen werden. Die meisten von uns haben schliesslich Marx und Freud verarbeitet, jetzt ist die geistige Verarbeitung von Darwin dran. Wer es geistig nicht schafft, sollte es wenigstens mit dem Magen tun.

Zuerst erschienen in: Die Weltwoche vom 14.01.2009, Ausgabe 03/09

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Beda M. Stadler, Gastautor / 05.09.2020 / 06:00 / 87

Masken der Angst

Zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 gab es in der Schweiz (und auch in Deutschland/ Anm. der Redaktion) anfangs eine Strategie. Sie hieß „Flatten the Curve“ und…/ mehr

Beda M. Stadler, Gastautor / 12.06.2020 / 06:08 / 138

Corona-Aufarbeitung: Warum alle falsch lagen

Das Coronavirus verzieht sich allmählich. Was hat sich in den vergangenen Wochen eigentlich abgespielt? Die Experten haben grundlegende Zusammenhänge übersehen. Die Immunantwort gegen das Virus…/ mehr

Beda M. Stadler, Gastautor / 09.10.2015 / 11:15 / 3

Schweine im Schlaraffenland

Wir essen nicht mehr, um zu geniessen, sondern um gesünder zu werden. Was Spass macht, wird verboten. Wenn es so weitergeht, sind die Beipackzettel der…/ mehr

Beda M. Stadler, Gastautor / 09.08.2015 / 06:30 / 5

Wollen sie Ewig leben?

Möchten Sie ewig leben? Was fällt jemanden ein, wenn er sich vorstellt, dass es immer weiterginge? NZZ-Folio hat bei acht Prominenten nachgefragt. Bei mir auch.…/ mehr

Beda M. Stadler, Gastautor / 27.10.2014 / 13:43 / 2

Afrikas unheimliche Krankheiten

Von Aids bis Ebola: Der Schwarze Kontinent bleibt ein riskantes Gelände. Seine Krankheiten haben allerdings mehr mit sozialen Umständen als mit tödlichen Mikroben zu tun.…/ mehr

Beda M. Stadler, Gastautor / 05.04.2014 / 00:07 / 6

Haben die Veganer recht?

«Sentience», auf deutsch Empfindungsfähigkeit, ist die Bezeichnung für zwei Volksinitiativen in Bern und Basel damit Väterchen Staat uns vegane Menus in Kantinen von Schulen, Spitälern,…/ mehr

Beda M. Stadler, Gastautor / 20.03.2014 / 20:22 / 2

Macht Politik krank?

Als Nationalrat und GLP-Chef Martin Bäumle kürzlich einen Herzinfarkt erlitt, haben die Medien gemeinsam die Diagnose gestellt: Politiker führen ein ungesundes Leben. Die Liste der…/ mehr

Beda M. Stadler, Gastautor / 27.02.2014 / 17:37 / 0

Glaube und Demokratie

Wir werden oft gezwungen ja oder nein zu sagen. Ein derartiger Zwang führt aber meist zu einem No-Go. Schreit der brünstige Liebhaber während dem Koitus:…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com