Eben erst hat Günter Wallraff die wirklich skandalösen Praktiken bei einem Paketlieferanten aufgedeckt. Und schon folgt der nächste investigative Coup: Der Mann, der bei “BILD” Hans Esser war, hat in einer deutschen Behörde gearbeitet, um die unmenschlichen Arbeitsbedingungen dort zu dokumentieren.
Auszüge:
Der Wahnsinn beginnt bereits mit den Arbeitszeiten. Sie sind jeden Tag der Woche anders: Mo. 8.00–16.00, Di. 7.00–15.00, Do. 8.00–18.00, Fr. 8.00–13.00 Uhr. Wer soll sich so etwas merken? Mittwochs ist ganz geschlossen, da ist der Beamte gezwungen, zu Hause zu bleiben und “Britt” zu kucken. Kann man tiefer sinken? Das Einwohnermeldeamt schafft mich schon, bevor ich mich zum ersten Mal hinter den Schalter gesetzt habe.
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Es geht los, mein erster Arbeitstag. Um nicht aufzufallen, trage ich einen senffarbenen Pullunder und einen betont mürrischen Gesichtsausdruck zur Schau. “Morgen!” Überall schallen mir freundliche Begrüßungen entgegen. Die Solidarität der Kolleginnen und Kollegen rührt mich zutiefst. Und ist so etwas wie eine Lebensversicherung, wenn man den inhumanen Verhältnissen der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts ausgeliefert ist.
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Schon um acht ist das Kundenzentrum knackevoll, der Geräuschpegel so hoch, dass mir fast das Trommelfell platzt. Werde spätestens heute Mittag den Betriebsarzt aufsuchen, wenn es hier so was gibt.
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Beamte sind in Deutschland Menschen zweiter Klasse, man reißt blöde Witze über sie und ihren angeblichen Büroschlaf, der, wie ich bald erfahre, auch nicht wirklich erholsam ist. Dabei sind Beamte Menschen wie Du und ich. Da ist zum Beispiel Heinz, der mit den abgenutzten Ärmelschonern. Die Jahre im Einwohnermeldeamt haben ihn rapide altern lassen, er erinnert ein wenig an den späten Jopie Heesters. Dabei ist er erst 32, wie er mir erzählte. Müde und abgespannt schlurft er zur Kaffeemaschine. Hier bringt einen nur Koffein über den Tag.
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Das ewige Sitzen treibt mich in den Wahnsinn. Gesundheitsschädlich ist es natürlich auch. Und es geht nicht nur mir so: Zwei von drei Schalterbeamten erkranken im Lauf ihres Arbeitslebens an einschlägigen Beschwerden. Häufigste Diagnose: Arschkrebs. Und irgendwann macht sich bei jedem das Bore-Out-Syndrom bemerkbar. Ein nicht sichtbares Leiden, aber für die Betroffenen ist es die Hölle. Noch ein Stempel, eine Unterschrift, wieder ein Herumklicken auf der Tastatur – kein Wunder, wenn man den Kunden da mal vor dem Gang zum Gebührenautomaten falsch instruiert.
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Ein weiteres Problem: die Verständigung mit den Bürgerinnen und Bürgern. Wir verstehen uns als Dienstleistungsbetrieb, aber dann scheitert jede zweite Kommunikation früher oder später an der Sprachbarriere. Warum werden eigentlich immer noch keine für alle Beamten verbindlichen Türkisch- und Arabischkurse angeboten?
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Eben kreuze ich auf einem Formblatt gewissenhaft die auszufüllenden Stellen an, da klingelt auch noch das Telefon. Jetzt ist wirklich Land unter. Zum Glück bin ich Multitasker und kann diese Ausnahmesituation bravourös meistern. Marion hingegen, die am Schalter nebenan sitzt, ist bereits schwer gezeichnet, hat hektische rote Flecken im Gesicht. So muss es in den englischen Bergwerken des 19. Jahrhunderts zugegangen sein. In mir steigt der Zorn hoch über diese unhaltbaren Zustände. Ich nicke Marion aufmunternd zu, für sie sicher ein Licht in diesem dunklen Tunnel.
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So hart habe ich mir das Leben als Staatsbediensteter nicht vorgestellt. Das ist ein Knochenjob, um 16.00 Uhr ist man ausgepowert wie Berlusconi nach einer Bunga-Bunga-Party. Ich kann nicht mehr – und das will was heißen, schließlich bin ich harte Arbeit gewohnt und selbst in meinem Alter (69, gefühlte 40) noch zäh wie Leder. Ich bedaure das Bürokollektiv, das bis zum Ruhestand diese Hölle auf Erden tagtäglich erlebt. Für mich ist Feierabend, mit dem Liegerad schaffe ich es gerade noch nach Hause, wo ich mich erschöpft aufs Sofa sinken lasse. Noch so ein Tag, und ich werde das Experiment abbrechen. Ich habe genug gesehen.
Demnächst: Wie ich als Sänftenträger für Josef Ackermann arbeitete und für Inkasso Moskau einem säumigen Schuldner die Finger brechen musste.