Galgenholz ist selten geworden, und auch der Strick eines Gehängten ist nicht leicht aufzutreiben. Mit solchen Accessoires unter dem Kopfkissen glaubten früher manche Menschen, von den richtigen Lottozahlen zu träumen. Auch heute noch reißt das Lottospiel einige Abgründe in der Volksseele auf, wie sich gerade jetzt wieder zeigte, da ein für deutsche Verhältnisse rekordmäßig gefüllter Jackpot enormen Zulauf brachte. Genau das ist übrigens seine Funktion: Durch die Einführung der sogenannten Superzahl vor exakt 16 Jahren wurden die ohnehin ziemlich geringen Chancen auf die höchste Gewinnklasse nochmals um 90 Prozent reduziert, damit sich der Jackpot öfters fülle. Denn Lotto lebt von der Abwegigkeit. Lotto ist negative Vernunft. Lotto ist Hysterie.
Nun hat die Vorstellung des ganz großen Geldes, auf der das Lottospiel beruht, in letzter Zeit eine interessante Umwertung erfahren. Da ist zum Beispiel die surrealistische Abgehobenheit der Finanzmärkte, auf denen sich tagtäglich die wildesten Umverteilungsphantasien ganz ohne Revolution erfüllen. Da sind die Gehälter und/oder Abfindungen von Bank- und Industriemanagern, die Onkel Dagoberts Privatvermögen als Peanuts erscheinen lassen. Und da ist die Entkopplung von Leistung und Luxus, von Können und Kohle in einer epidemisch gewordenen Celebrity-Welt.
All das läßt selbst die tollsten Auswüchse des Lottofiebers als nachgerade rational erscheinen. Denn Lotto ist bekanntlich die einzige Möglichkeit, auf anständige Weise zum großen Geld zu kommen, schließlich haben alle Spieler ihre Einsätze freiwillig gezahlt. Der Traum vom großen Geld aber hat etwas peinlich Kleinbürgerliches, das durch sämtliche Werbeanstrengungen der Glücksspielindustrie hindurchschimmert. Der Sehnsuchtshorizont spannt sich zwischen ein paar wuchtigen Konsumgütern und einem aufgepeppten Eigenheim aus. Doch kleiner Mann, das große Geld ist ganz was anderes!
Das große Geld changiert nämlich ins Metaphysische; man spricht von ihm in Flüssigkeitsmetaphern: es stellt eine Essenz dar, ein Destillat, das strömt, gefriert und abgeschöpft wird. Das große Geld ist sogar über-flüssig; wer es hat, kann es gar nicht verbrauchen. Von solcher Liquidität war unser deutscher Lotto-Jackpot weit entfernt.
Er stimuliert nur die biedere Privat-Metaphysik, die man sich insgeheim und unter Mißachtung jeder mathematischen Wahrheit zurechtlegt. Dazu gehört zum Beispiel eine Form von gefühlter Wahrscheinlichkeit, die übrigens das Gegenstück zu unserer Risikowahrnehmung im Alltag ist. Das kommende Jahr wurde vom Bundeswissenschaftsministerium zum Jahr der Mathematik ausgerufen. Vielleicht werden wir uns dann darüber klar, wie schlecht die Lottochancen wirklich stehen.