In der Flut der lobenden Worte über die Parteitagsrede des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück ist die wahre Größe dieser Rede regelrecht untergegangen. Darum sei hier nachträglich darauf hingewiesen, dass wir Zeuge eines nicht nur rhetorischen sondern auch biologischen „Wunders von Hannover“ wurden.
Steinbrücks Rede erinnert in Bedeutung und Aussagekraft an die Rede, die John F. Kennedy 1963 in Berlin hielt. „Ich bin ein Berliner!“ rief der Präsident den zustimmend jubelnden Berlinern zu. Bis zuletzt hatte ja der Eindruck vorgeherrscht, dass Kennedy ein Amerikaner und kein Berliner sei. Vergleichbare Zweifel gab es auch bei Peer Steinbrück. Der fasste sich zwar nicht so kurz und sagte, was er sagen wollte, nicht in so deutlichen Worten. Das wäre vielleicht auch unangebracht gewesen. Aber über eine Stunde lang rief er den Delegierten in vielen Umschreibungen zu: „Ich bin ein Sozialdemokrat!“ Und die anfangs skeptischen Sozialdemokraten jubelten ihm zustimmend zu.
Kennedy belegte sein Berlinertum emotional, indem er es scheinbar spontan, vom Herzen her und durch den Ort des Geschehens inspiriert, hervortreten ließ. Man kann sagen: Der Amerikaner sprach plötzlich in Zungen, als ihm der große Satz auf deutsch über die Lippen kam.
Steinbrück musste nicht in Zungen sprechen, aber er schöpfte den deutschen Wortschatz fast ganz aus, um sein Sozialdemokratentum zu beschreiben. Anders als Kennedy belegte er seine Zugehörigkeit weniger spontan-emotional als vielmehr forschend-historisch. Und siehe: Im Laufe seiner Schilderung der Verdienste und Errungenschaften der 150jährigen Partei verwischten sich immer mehr die Konturen zwischen ihm und der SPD. Am Ende waren sie eins. Per Steinbrück und die SPD waren ineinander aufgegangen. Jeder Versuch zwischen ihm und der SPD ein Blatt einzufügen ist fortan zum Scheitern verurteilt. Die Beinfreiheit, die er bei der Nominierung noch gefordert hatte, hat sich in Überflüssigkeit aufgelöst. Steinbrück und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sind derart zu einer Einheit verschmolzen, dass sich einzelne Gliedmaßen gar nicht mehr ausmachen lassen.
Wie weit die Verschmelzung gegangen ist, lässt sich am deutlichsten am Mienenspiel des Kanzlerkandidaten ablesen. Peer Steinbrück hat bei der Verschmelzung immer wieder Anflüge eines Lächeln gezeigt. Man kannte seinen Mund bisher eigentlich nur im Zustand des alsbaldigen Zuschnappens, also bissig, nicht lächelnd. Aber die Einswerdung hat ein, wenn auch noch verschämtes, Lächeln auf seinen Mund gezaubert. Sogar seine kämpferischen Aussagen umwehte ein Hauch von Herzensgüte. Oder anders gesagt: Ihn umwehte ein Hauch von Sozialdemokratie.
Damit ist die Frage beantwortet, ob Peer Steinbrück über das notwendige Herz verfügt, ohne das die Sozialdemokratie nun mal nicht leben kann. Die Frage wurde auf die einfachste und schönste Art umschifft: Die SPD hat Steinbrück ihr Herz geschenkt. Beide, Kandidat und Partei, sind ein Herz und eine Seele. Selbst Wackersteine können sie nicht zertrennen. Der Parteitag in Hannover war Schauplatz einer wunderbaren Vereinigung zweier scheinbar unvereinbarer Geschöpfe, der ein völlig neues Gebilde entsprang, die Steindemokratische Sozialbrückpartei.