Weil die vorgeblich Falschen aus dem richtigen Buch vorlesen wollten, hat der Reclam-Verlag, der über die Rechte an Victor Klemperers Klassiker über die Sprache des Dritten Reiches verfügt, eine Lesung zum 9. November in Dresden untersagt. Die falschen Vorleser sind u.a. Kabarettist Uwe Steimle, Ex-CDU-MdB Arnold Vaatz und Grünen-Renegatin Antje Hermenau.
Bei Victor Klemperers Buch "LTI – Notizbuch eines Philologen" über die Sprache des Dritten Reichs handelt es sich um einen Klassiker, aus dem man am 9. November durchaus öffentlich vorlesen kann. Zumal in Dresden, wo der Literaturwissenschaftler gelebt hat und dank der Bombardierung im Februar 1945 seiner Deportation entkam. Die dortige Stadtratsfraktion Freie Wähler/Freie Bürger will im Rahmen einer Veranstaltung eine solche Lesung anbieten. Klemperer liegt allerdings seit weniger als 70 Jahren unter der Erde, so dass noch Urheberrechtsansprüche bestehen. Auf dieser Grundlage verwehrt der Reclam-Verlag den Veranstaltern der Lesung „unsere Genehmigung als Rechteinhaber, die wir ihnen weder erteilt haben noch erteilen werden“. Wie die Sächsische Zeitung berichtet, stößt man sich an den angekündigten Vorlesern: Kabarettist Uwe Steimle, Ex-CDU-MdB Arnold Vaatz und Grünen-Renegatin Antje Hermenau. Steimle wurde schon vom MDR und anderweitig gecancelt, Achgut-Gastautor Vaatz bei einem Festakt im sächsischen Landtag boykottiert, und die frühere Abgeordnete Hermenau dürfte in ihrem einstigen politischen Lager nicht mehr in allzu hohem Ansehen stehen.
Eine weitere „Umstrittene“ tritt als Einladerin auf: Die Buchhändlerin Susanne Dagen, die für die Freien Wähler/Freien Bürger im Stadtrat sitzt und auf deren Buchladen 2021 ein Anschlag verübt worden war. Der Verlag mit den gelben Heftchen treibt sich derweil bei Blue Sky herum, dem Safe Space für Twitter-Allergiker, und war um die Jahreswende auch auf Mastodon aktiv. Das lässt vermuten, dass sich dort bereits beim Gedanken an die sächsische Landeshauptstadt Hautausschlag bildet. Vielleicht findet sich andere passende Lektüre für den Abend.
Georg Friedrich Händel
Auch tote Komponisten können anecken. Wurde kürzlich Mussorgsky in Bayreuth nicht gespielt, weil er Russe war, trifft es nun Georg Friedrich Händel. Nicht seiner deutschen Herkunft, sondern des Inhalts seines Oratoriums Saul wegen. Eine Operngruppe an der Universität Cambridge führt das geprobte Werk nicht auf, weil es der Organisation angesichts „der derzeitigen sensiblen politischen Situation und bedauerlichen Eskalation der humanitären Krise in Gaza und Israel“ unangemessen erscheint. In dem Stück kommen gewaltsame Konfrontationen zwischen Israeliten und Philistern vor. Aus den Philistern, die vor Jahrtausenden unter anderem Gaza bevölkerten, hat sich sprachlich schon vor langer Zeit der Begriff „Palästinenser“ entwickelt. Biblische und sprichwörtliche Bedeutung errang der Philister Goliath, der durch den Israeliten David – eine Hauptfigur in Händels Saul – zu Tode kam. Bereits erworbene Tickets für die Show werden zurückerstattet.
Problembücher
Bleiben wir in Cambridge. Dort begibt sich die Universitätsbibliothek jetzt auf die Jagd nach „problematischer“ Literatur in ihren Beständen. „Problematisch“ steht im Wörterbuch der Woken für rote Tücher, die man aus den Augen und aus dem Sinn schaffen will. Die traditionsreiche Unibibliothek mit Millionen Bänden hat die dezentralen Bibliotheken der Hochschule aufgerufen, „problematische“ Bücher zu melden. Dies betrifft insbesondere, aber keineswegs ausschließlich, das Thema „Dekolonisierung“, wo es unter anderem gegen die hohe Zahl von Texten „weißer“ Autoren geht. Die Bibliothek bestreitet, zensieren zu wollen. Man wolle lediglich Leser, die davon negativ betroffen seien, durch eine solche Schwarze Liste „unterstützen“. Der Soziologe und Achgut-Gastautor Prof. Frank Furedi befürchtet, dass Bibliothekare sich nun „verhalten wie Therapeuten, besessen vom Mikromanagement der Gedanken und Gefühle der Leser“. „Es gibt keine problematischen Bücher“, fährt er fort, „sondern nur problematische Zensoren.“
Professorin mit „falscher“ Meinung
Vera Hagemann tritt ihr Amt als Dekanin der Wirtschaftswissenschaft der Uni Bremen nicht an. Die Professorin für Wirtschaftspsychologie und Personalwesen war im Juli an die Spitze ihres Fachbereichs gewählt worden, die Uni hat die entsprechende Meldung von ihrer Website gelöscht. Der AStA hatte Hagemann nämlich zur Last gelegt, „Beiträge von AfD-Politiker[…]n geteilt zu haben, die gegen Migrant[…]en und die Coronapolitik hetzen“. Dazu sollen ein Post von Georg Pazderski zu nach Europa immigrierenden „Fachkräften“ und einer von Markus Krall (kein AfD-Mitglied), der Corona-Medikation „Giftspritzen“ nannte, gezählt haben. „Giftspritzen“ dürfe man nicht sagen, findet Jona Dirks vom AStA, und äußerte Zweifel, ob die Wissenschaftlerin bei einem vom Bundesbildungsministerium geförderten Forschungsprojekt zu „Langzeitfolgen der Corona-Krise im Arbeitsleben“ gut aufgehoben sei.
Die taz fand einen mutmaßlichen Zweitaccount Hagemanns auf Twitter – inzwischen genauso gelöscht wie der offizielle. Dort habe sie „unter anderem auch einen Beitrag geteilt, in dem ein Video der Freien Sachsen eingebettet ist“. Es handelte sich dabei mutmaßlich um einen Tweet des Magazins Krautzone, der eine brutale Körperverletzung durch einen 14-jährigen vorbestraften Iraker im sächsischen Flöha zeigt. Das darin enthaltene Video stammt offenbar aus dem Umfeld des Täters und nicht von den als rechtsextrem eingestuften Freien Sachsen, die vor Verbreitung nur ihr Logo in die Datei gesetzt haben. Ohnehin gilt nach Tucholsky in Deutschland „derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht."
Die Bremer Uni distanzierte sich von ihrer Professorin: „Wir stehen für Demokratie, Pluralismus und ein respektvolles Miteinander.“ Das schließt die demokratisch gewählte AfD, den Meinungspluralismus und Respekt vor Andersdenkenden selbstverständlich nicht mit ein. Nach Gesprächen mit Rektorat und Kollegen entschloss sich Hagemann zum Rücktritt und erklärte auf Anfrage, sich von den Inhalten, die sie geteilt hatte, zu distanzieren. Der AStA unterstellt ihr allerdings einfach mal so, sie wolle wohl Studenten rassistisch diskriminieren.
Nürnberg ohne Rückfahrkarte
Twitter wurde auch dem Niederländer Jasper Rekers zum Verhängnis. Der Parlamentskandidat der Bauern-Bürger-Bewegung hatte in der Hochzeit der Corona-Transformation über einen pseudonymen Account etablierte Politiker heftig beschimpft und diesen Umstand seiner Partei verschwiegen. „Kinderschänder“, „Pharmahure“, und „Nazibitch“ gehörten zu den Etiketten, mit denen er Verantwortliche der Coronapolitik versah. Premier Rutte stellte er in eine Nazi-Ecke, und dem früheren Gesundheitsminister de Jonge empfahl er eine „einfache Fahrt nach Nürnberg“ – wohl zu einem Tribunal. Nachdem dies öffentlich wurde, erklärte Rekers jetzt, ein etwaiges Mandat nicht annehmen zu wollen. Die Kandidatenliste ist nicht mehr änderbar, da die niederländische Parlamentswahl bereits Ende dieses Monats stattfindet. Mit seinem Listenplatz 13 wären ein Einziehen Rekers in die Zweite Kammer oder ein späteres Nachrücken nicht ausgeschlossen. Die Fachhochschule, an der er sich als nebenamtlicher Dozent betätigt, prüft Konsequenzen.
Unperson Arndt
Ernst Moritz Arndt war Professor, Rektor, nationalistischer Dichter, politisch Unterdrückter und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, außerdem Antisemit, Rassist sowie glühender Franzosenhasser. Arndt, „eine neue Unperson“, verlor vor ein paar Jahren seinen Status als Namenspatron der Uni Greifswald – gegen große Widerstände. Sogar sein Geburtshaus wurde während einer Mitgliederversammlung der Ernst-Moritz-Arndt-Gesellschaft zum Angriffsziel. Um nach ihm benannte Straßen wurde und wird vielerorts gerungen; im Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf (siehe vergangenes Jahr) traf man nun die Entscheidung, den Namen beizubehalten und Ergänzungsschilder zur Erläuterung, also Warnhinweise, anzubringen.
In Bonn, wo Arndt lange gelebt und bis zu seinem Tode gewirkt hatte, kam jetzt eine Debatte über die Bezeichnung des städtischen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums auf. In der Bezirksvertretung Bonn, die zwar örtlich, aber nicht sachlich zuständig ist, wurde eine Umbenennung thematisiert. Ein Vertreter der Sonneborn-PARTEI zog den Hamas-Terror als Begründung dafür heran. Die Grünen würden eine Namensänderung begrüßten, die CDU äußerte sich skeptisch. Schließlich vertagte man sich und will das erst mit der Schule besprechen. Entscheiden müsste das allerdings der Stadtrat. In der Bundesstadt befinden sich außerdem eine Arndtstraße, ein nach ihm benanntes Haus sowie ein Denkmal der Persönlichkeit. Am Montag demonstrierten Rechtsidentitäre vor der Schule für die Beibehaltung ihres Namens.
Uni-Säuberung
TERFs sind bekanntlich Feministen, die der woken Genderideologie kritisch gegenüberstehen. „TERFS und ihre Kollaborateur*innen raus der Uni“ fordert ein Antifa-Aushang an der Uni Göttingen. Der Zettel nennt verschiedene Kommilitoninnen mit Vornamen, eine sogar mit vollem Namen: Joelle Rautenberg, die ein Praktikum bei Nius gemacht hat. „Darüber, welche psychologische Wirkung (auf Betroffene und weitere Studenten) das hat, brauchen wir gar nicht zu reden“, so Nius-Reporter Jan A. Karon. Achgut-Autorin Anabel Schunke ergänzt: „Die Jagd auf Frauen ist eröffnet.“
Hausverbot für AfD aufgehoben
Die Gemeinde Michendorf in Brandenburg wollte der AfD die Nutzung ihres Gemeindezentrums untersagen. Obwohl andere Parteien die Räumlichkeit nutzen können, wurde eine Bürgerveranstaltung den Blauen untersagt. So jedenfalls ein Beschluss der Gemeindevertretung mit dem Inhalt, dass Gruppierungen, die der Verfassungsschutz des Extremismus verdächtigt, ausgeschlossen seien. Laut Bürgermeisterin Claudia Nowka habe es Beschwerden gegeben, dass die AfD bei solchen Terminen Angst vor „Überfremdung“ schüre. Außerdem gelte ein solches Verbot auch für die Hamas.
Dazu gibt es schon lange Rechtsprechung: Wenn die Widmung solcher öffentlichen Räume der Kommune, z.B. Stadthallen, parteipolitische Veranstaltungen zulässt, gilt das für alle (nicht verbotenen) Parteien. Sie sind dabei gleich zu behandeln. Dementsprechend beanstandete die untere Kommunalaufsicht den Beschluss von SPD, Linkspartei, Grünen, FDP und einer lokalen Liste. Die obere Kommunalaufsicht, das Brandenburger Innenministerium, bestätigte diese Sicht nun: Die Gemeinde muss ihre rechtswidrige Entscheidung rückgängig machen. „Ab und zu zuckt der Rechtsstaat noch“, kommentiert Sänger und Aktivist Björn Banane. Der hat den Vorgang begleitet, in dessen Zuge auch gegen das Hausverbot für die AfD demonstriert worden war.
Von der Kunstfreiheit gedeckt
Ebenfalls um die Nutzung kommunaler Räumlichkeiten geht es im rheinland-pfälzischen Trier. Im Kulturspektrum, einer zentral gelegenen Veranstaltungsstätte, findet von heute bis Mitte Dezember ein „Festival für Frieden, Freiheit und Freude“ statt. Zu den auftretenden Künstlern zählen u.a. der Kabarettist Uli Masuth – den wir im Sommer behandelt haben – und der Musiker Jens Fischer Rodrian. Diese beiden „sind in jüngerer Zeit mit politischen Äußerungen öffentlich in Erscheinung getreten, die ausdrücklich nicht den Positionen der Stadt Trier entsprechen“, teilt diese mit und distanziert sich. Den Hintergrund erläutert die Lokalzeitung: Fischer Rodrian und Masuth „stehen der Partei Die Basis und der sogenannten Querdenkerszene nahe“. Wer politisch anders tickt als die Stadt Trier, soll dort offenbar nicht auftreten.
Dem Wunsch der Stadtverwaltung, die beiden Künstler wieder auszuladen, kamen die Veranstalter allerdings nicht nach. Zähneknirschend, so die Behörde, „werden die Auftritte im Sinne der Kunstfreiheit hingenommen“. Allerdings soll eine städtische „Info-Veranstaltung in Kooperation mit der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung“ anberaumt werden. Das erinnert an den Komiker Hape Kerkeling, der jüngst den Corona-Protesten „furchtbaren Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit“ unterstellte. Kerkeling saß mal für die Merkel-CDU in der Bundesversammlung und war einst als Bürgermeisterkandidat der Recklinghäuser Grünen im Gespräch. Vielleicht entsprechen seine Äußerungen auch „den Positionen der Stadt Trier“.
Sorry für die Desinformation
Das Cabinet Office, die Staatskanzlei Großbritanniens, musste sich bei Julia Hartley-Brewer entschuldigen. Die britische Journalistin und Talkshow-Moderatorin war in einem internen Dokument einer Einrichtung gegen Corona-„Desinformation“ nämlich als „bekannte Impfskeptikerin“ bezeichnet worden. Dieses Dossier wurde nicht nur an Regierungsstellen innerhalb des Landes geschickt, sondern auch an eine Antiterror-Einheit der US-Regierung, die sich inzwischen mit Propaganda aus Russland, China, Nordkorea und dem Iran befasst. Hartley-Brewer hat zwar an der Corona-Politik den Impfdruck kritisiert, steht Impfungen generell sowie der Covid-Spritze (jedenfalls für Ältere) aber keineswegs ablehnend gegenüber und habe sie sich auch selbst verabreichen lassen. Ans Licht gekommen waren die Vorgänge dank Recherchen der Bürgerrechtsorganisation Big Brother Watch. Deren Geschäftsführerin Silkie Carlo zeigt sich empört, dass eine Regierungsstelle gegen Falschinformationen Journalisten beobachtet und über diese genau solche Falschinformationen verbreitet hat.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn. Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind die Betreiber der Webseite auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie ihnen gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de.