„Morgen, Kinder, wird’s was geben.
Morgen werden wir uns freun!
Einmal werden wir noch wach,
heysa, dann ist Weihnachtstag.“
So heißt es in einem der Weihnachtslieder, das zwar besonders bekannt, aber nicht besonders weihnachtlich ist. Es ist ein säkularisiertes Lied, das ohne christliche Motive auskommt. Es kommt kein Tannenbaum vor (es glänzen lediglich die Kerzen), der Weihnachtsmann ist überhaupt nicht vorgesehen (es ist immer nur vom „Weihnachtstag“ die Rede) und das Jesuskind wird auch nicht erwähnt.
Die Geschenke kommen – wer hätte es gedacht? – von den Eltern, die sich schließlich auch die ganze Mühe gemacht haben, und so werden die Kinder folgerichtig ermahnt, ihren Eltern dafür zu danken:
„Unsre guten Eltern sorgen
Lange, lange schon dafür.
O gewiß, wer sie nicht ehrt,
Ist der ganzen Lust nicht werth.“
„Morgen kommt der Weihnachtsmann. Allerdings nur nebenan.“
Es war ein vergleichsweise nüchternes Lied ohne jedes weihnachtliche Brimborium. Doch für Erich Kästner war es offenbar noch nicht nüchtern genug, nicht sachlich genug. Und so schrieb er seine eigene Version – Weihnachtslied, chemisch gereinigt –, in der er anklagend auf die soziale Frage hinweist:
„Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte Euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt. (…)
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.“
Bei Kästner tritt der Weihnachtsmann auf – als Person –, doch es kommt gar nicht auf den „Mann“, sondern auf den „Tag“ an. Kaum ein Lied ist so sehr an einen Termin gebunden, wie Morgen, Kinder, wird’s was geben. Da wird ein Termin genannt: Morgen. Genauer: in den Abendstunden, wenn die Kerzen brennen.
Doch erst kommt der Sandmann
Erst Morgen kommt der Weihnachtsmann. Heute kommt um diese Zeit noch ein letztes Mal der Sandmann. Mit dem Sandmann stand ich auf Kriegsfuß.
Warum sollte ich ausgerechnet immer dann ins Bett, wenn das richtige Leben anfing? Ich wollte noch nicht ins Bett gesteckt werden, und ich kann immer noch alle Kinder verstehen, die das auch nicht wollen. Man fühlt sich ums Leben betrogen, als würde einem von der kostbaren Lebenszeit etwas abgeknabbert.
Es war doch klar wie dicke Tinte, dass das richtige Leben erst dann losging, wenn die Kinder im Bett waren. Dann wurden die Großen lustig, sie sangen sogar, sie tranken Erdbeerbowle und andere geheimnisvolle Getränke, die nichts für Kinder waren. Sie erzählten sich tolle Witze, die Kinder nicht verstehen konnten, und lebten überhaupt erst richtig auf. Ganz klar: Das wahre Leben war das, von dem Kinder ausgeschlossen waren.
Ich kann mich erinnern, dass ich einmal aus dem Bett geholt wurde und draußen in den Nachthimmel schauen durfte, weil man den Sputnik mit bloßem Auge erkennen konnte, der hoch oben am Himmel flog wie ein ungeduldiger Stern. Dann hieß es gleich wieder: husch, husch, ins Bettchen. Das war die große Ausnahme. Ansonsten galt: wenn der Sandmann durch war, war Schicht.
Der Weihnachtsmann als Alternative zum Sandmann
Doch es gab eine Ausnahme. Den Weihnachtstag. Sandmann und Weihnachtsmann hatten in etwa die gleichen Erscheinungstermine. Sie kamen immer dann, wenn die Kinder ins Bett gehörten. Doch der Unterschied konnte nicht größer sein: Wenn der Sandmann kam, war Schluss; wenn der Weihnachtsmann kam, wurde das Glück möglich, dann ging es überhaupt erst richtig los. Das war der Tag, an dem man nicht ins Bett musste.
Man durfte wach bleiben und spielen, bis man über den Geschenken eingeschlafen war; man durfte sie sogar mit ins Bett nehmen. Wenn der Weihnachtsmann kam, hatte der Sandmann Pause. Auch wenn man sonst von dem Rummel um Weihnachten nichts hielt, es war immerhin der Tag, an dem der Sandmann Hausverbot hatte.
Der brachte sowieso nur Versprechungen, nur Träume, die meistens gar nicht so toll waren – der Weihnachtsmann dagegen brachte den Zugang zur Nacht und zum richtigen Leben. Also: einmal werden wir noch wach, doch ein einziges Mal lassen wir noch den Sandmann ran.
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Noch ein Tipp: Geschichten und Gedichte zu Weihnachten von den so genannten Dienstagspropheten (das ist eine Gruppe von Literaten und Musikern – Martin Betz, Sebastian Krämer, Bernhard Lassahn und Georg Weisfeld –, die im Zebrano-Theater in Berlin am zweiten Dienstag des Monats auftreten) gibt es hier: Diesmal wird Weihnachten ein Dienstag