Felix Perrefort / 24.11.2022 / 13:00 / Foto: Bayern.de / 66 / Seite ausdrucken

WM: Der Werte-Verrat war früher

Der Verrat westlicher Werte fand hier statt – vor allem 2020. Und nicht in Katar.

Manuel Neuer trägt die Binde nicht, Empörung im ganzen Land. Immerhin zeigt sich: Das ganze virtue signalling um antirassistische Kniefälle und Stadien in Regenbogenfarben gibt sich nun bundesweit als ein Theater zu erkennen, dem jede Substanz und Konsequenz fehlt. 

Fast schon mitleiderregend erscheint es, wenn Bierhoff säuselt: „Man kann uns die Binde nehmen, aber die Werte nicht.“ Das erinnert doch stark an Otto Wels' Worte, mit denen er 1933 das Nein der SPD zu Hitlers Ermächtigungsgesetz begründete: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Es passt zum woken Pathos, sich beim Einknicken auch noch als widerständig zu gerieren. 

Was genau mit jenen Werten gemeint sein soll, weiß man gemeinhin auch nicht ganz so genau – jedenfalls akzeptieren wir Schwule und verhaften sie nicht wie in Katar. Denn dort bildet die Scharia das Zentrum der Rechts- und Gesellschaftsordnung, die, anders als in deutschen Wertegemeinschaften gegen rechts, von islamischen Rechtsgelehrten nicht nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip ausgelegt wird. Ein Mullah macht sich den Islam nicht, wie er dem Deutschen gefällt. Darum sind dortige WM-Botschafter so homophob.

Die Werte, die zu verteidigen wären, sind Errungenschaften der westlichen Zivilisation und fanden in der Erklärung allgemeiner Menschenrechte ihre erste Kodifizierung mit universalem Anspruch. Danach wurden sie ein verbindliches und einklagbares Fundament bürgerlicher Republiken, auch für Menschen, die ursprünglich nicht von hier kommen. Wenn Antirassisten „mit öffentlich-rechtlichem Gütesiegel“ eine solche Sichtweise  als „ahistorisch und rassistisch“ diffamieren, sollte man das verlachen. Die heutige Zivilisation ist westlich, weist in ihrem Anspruch und ihrer Bedeutung aber über ihre Herkunftsregionen weit hinaus. 

Nun ist sie nicht auf Fortschritt programmiert, sondern kann hinter sich selbst zurückfallen. Wir waren Zeuge davon. 2020 wurden die westlichen Freiheitsrechte der Bekämpfung eines Virus geopfert, das sich von anderen kursierenden Atemwegsinfektionen nicht wesentlich unterscheidet. Seitdem sind westliche Werte (Abwehrrechte gegen den Staat, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Gesicht zeigen, Unschuldsvermutung, …) hier nicht mehr gesellschaftsbildend, sondern müssen wieder erkämpft werden.

Die Aufweichung der westlichen Ideale begann in Deutschland aber früher. Seit 2015 wurden hier nicht etwa individuelle Menschen, sondern im großen Stil Kulturen begrüßt, die eine Menge davon im Gepäck haben, was an Katar nun selbstzufrieden boykottiert wird. Der wichtige Unterschied zur „Flüchtlingskrise“ besteht aber hierin: Mit der vermeintlichen Virusbekämpfung wurde diese Entwertung unseres Wertefundaments, staatlicherseits und mehrheitlich mitgetragen, bis ins letzte Kinderzimmer durchgesetzt. 

Jetzt echauffieren sich alle über Nationalspieler, die in fernen Ländern unsere Werte nicht verteidigen würden, anstatt sich zu fragen, was sie im eigenen Land mit ihnen angestellt haben. 

Foto: Bayern.de

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Ilona Grimm / 24.11.2022

Entschuldigung, aber wenn ich dieses Foto als Verkörperung von Scheinheiligkeit sehe, wird mir schlecht wie einst Max Liebermann. Ich habe nichts vergessen. Und vergeben werde ich nur, wenn ich explizit darum gebeten werde und vorher öffentlich Reue bekundet und Wiedergutmachung geleistet wird. - Der unwerten „Weicheierschaft“ in Katar wünsche ich eine brutal blamable Niederlage gegen Spanien, so dass sie bei Nacht und Nebel und geschlossenem Flughafen im moralinverkleisterten Deutschland einfliegen müssen

Paul Franklin / 24.11.2022

Bereits nach der ersten rot grünen Regierung unter Schröder sagte Fr Roth, dass die größte Leistung der Koalition darin bestanden habe, dass Schwule und Lesben nun freier leben können. Dazu mag man stehen wie man will, aber es zeigt das völlige Abhandenkommen des Fokus. Wirklich wichtige Dinge werden gar nicht mehr als solche wahrgenommen, daher ist Scheitern vorprogrammiert (z. B. Energiewende, Katastrophenschutz). Die Fußballer spiegeln dies wider. 2018 mit moralischer Erhöhung über Türken unter Erdogan krachend gescheitert. 2022 mit derselben moralischen Überhöhung gegen Katar. Bevor die Truppe merkt, warum sie eigentlich bei der WM dabei ist, fährt sie schon mit Flicks Bus nach Hause.

Marcel Seiler / 24.11.2022

“Wir waren Zeuge davon. 2020 wurden die westlichen Freiheitsrechte der Bekämpfung eines Virus geopfert, das sich von anderen kursierenden Atemwegsinfektionen nicht wesentlich unterscheidet.” –– Dies ist in dieser Verkürzung falsch. Im Jahre 2020, jedenfalls am Anfang, bestand die begründete Angst, das Corona tödlich sei wie die Pest oder jedenfalls wie die Cholera. Wäre das der Fall gewesen – und es gab anfangs gute Gründe, dies zu glauben! –, wären die Maßnahmen angemessen gewesen. Leben ist eben auch ein Menschenrecht. Die gemachten Fehler kamen später. Diese wiederum sind nicht nur der Politik, sondern ebenso den angstgeilen Medien sowie einer hysteriegeneigten Öffentlichkeit zuzuschreiben. Wir leben inzwischen nicht nur in einer Massen-Demokratie, sondern auch in einer Mob-Demokratie.

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