Von Dushan Wegner.
Moralstücklein linker Zeigefinger beginnen regelmäßig mit den Worten „Wir müssen reden, über x“, oder Variationen davon, wie „Wir müssen über x reden“. All ihr vorgebliches Fortschrittsdenken mündet am Ende in dieselbe Formulierung, mit welcher Eltern die Familienkonferenz einleiten: „Wir müssen reden!“ Beispiele:
Bei „Die Zeit“ und ihren Ausläufern verwendet man „Wir müssen reden“ gern als „Kicker“ (die kleine „Schlagzeile über der Schlagzeile“, die den Kontext setzt), etwa so: „Wir müssen reden: Macht das Internet uns eifersüchtiger?“ Wie erwartet finden wir eine Lagerhalle voll von „Wir müssen reden“ bei bento, der Jugendabteilung des Spiegel. Eine Frau Weßling hat dort auch irgendwie etwas Kolumnenartiges, das sie mit „Wir müssen mal reden“ betitelt. (Es ist exakt so, wie Sie erwarten: „Wir müssen mal reden. Über Kommentare zum eigenen Körper. […] Ich habe in den letzten 3 Monaten etwa 10 Kilo zugenommen“, und so weiter, und so fort.)
Früher war mehr Meta
Sie können via Google nach „wir müssen reden“ und seinen Varianten suchen. Sie werden feststellen: Es sind tatsächlich regelmäßig die Themen, die man einst im Familienkreis verhandelt hätte.
Früher erklärten die Eltern und Großeltern, wie man mit seinem sich entwickelnden Körper klarkommt, wie man zusammenlebt mit Menschen anderer politischer Gesinnung oder warum das andere Geschlecht plötzlich wie außerirdische Lebewesen wirkt. Heute machen das Mindestlohn-Schreiberlinge in Jugendmagazinen. Was ihnen an Lebenserfahrung, geistiger Reife und seelischer Bildung fehlt, das machen sie mit Selbstbewusstsein, Clickbaitzeilen und „Haltung“ wieder wett.
Früher wollten die schreibenden Theoretiker noch die Arbeiterklasse befreien. Das hatte noch Dimension! Manche tragen noch immer T-Shirts mit dem Konterfei eines rassistischen Massenmörders, aber das ist mehr Verwirrung als Gesinnung – und gewiss schon lange kein Versuch eines großen Wurfs.
Lügenreden
Dieses „Wir müssen reden“ ist natürlich gelogen. Kein einziger Artikel, der mit „Wir müssen reden“ einsteigt, will wirklich „reden“, die Gedanken des Gegenübers erst korrekt verstehen, dann abwägen, dann vielleicht sogar selbst aufnehmen. Die Eltern, die ihr Kind an den Küchentisch zitieren, wollen ja auch nicht den Input des Kindes, sie wollen erziehen und anordnen.
„Wir müssen reden“, ist ein Euphemismus für „Halt die Klappe und hör zu“. In diesem Sinne, liebe Billigkolumnisten und Medienhilfskräfte, haltet die Klappe und hört kurz zu: Nein, wir müssen nicht reden. Was wir müssen, was wir mindestens sollten, das ist: denken! Wer aber denken will, der darf nicht die ganze Zeit nur reden.
Dushan Wegner wurde 1974 in Tschechien geboren, emigrierte zweijährig nach Australien und sechsjährig nach Deutschland. Er arbeitete als Programmierer in der New Economy, studierte Theologie, wechselte dann zur Philosophie. Sein Buch „Relevante Strukturen“ beschäftigt sich mit philosophischen Fragen und der Entwicklung von Debatten.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Dushan Wegners Blog-Magazin hier.