Dushan Wegner, Gastautor / 14.01.2018 / 06:29 / Foto: Efras / 10 / Seite ausdrucken

Wir müssen reden? Nein. Wir müssen denken.

Von Dushan Wegner.

Moralstücklein linker Zeigefinger beginnen regelmäßig mit den Worten „Wir müssen reden, über x“, oder Variationen davon, wie „Wir müssen über x reden“. All ihr vorgebliches Fortschrittsdenken mündet am Ende in dieselbe Formulierung, mit welcher Eltern die Familienkonferenz einleiten: „Wir müssen reden!“ Beispiele:

  • „Mein Bruder wählt die AfD – wir müssen reden“ – bento.de
  • „Wir müssen über Sex reden“ – kleinerdrei.org
  • „Männer, wir müssen reden“ – Edition F

Bei „Die Zeit“ und ihren Ausläufern verwendet man „Wir müssen reden“ gern als „Kicker“ (die kleine „Schlagzeile über der Schlagzeile“, die den Kontext setzt), etwa so: „Wir müssen reden: Macht das Internet uns eifersüchtiger?“ Wie erwartet finden wir eine Lagerhalle voll von „Wir müssen reden“ bei bento, der Jugendabteilung des Spiegel. Eine Frau Weßling hat dort auch irgendwie etwas Kolumnenartiges, das sie mit „Wir müssen mal reden“ betitelt. (Es ist exakt so, wie Sie erwarten: „Wir müssen mal reden. Über Kommentare zum eigenen Körper. […] Ich habe in den letzten 3 Monaten etwa 10 Kilo zugenommen“, und so weiter, und so fort.)

Früher war mehr Meta

Sie können via Google nach „wir müssen reden“ und seinen Varianten suchen. Sie werden feststellen: Es sind tatsächlich regelmäßig die Themen, die man einst im Familienkreis verhandelt hätte.

Früher erklärten die Eltern und Großeltern, wie man mit seinem sich entwickelnden Körper klarkommt, wie man zusammenlebt mit Menschen anderer politischer Gesinnung oder warum das andere Geschlecht plötzlich wie außerirdische Lebewesen wirkt. Heute machen das Mindestlohn-Schreiberlinge in Jugendmagazinen. Was ihnen an Lebenserfahrung, geistiger Reife und seelischer Bildung fehlt, das machen sie mit Selbstbewusstsein, Clickbaitzeilen und „Haltung“ wieder wett.

Früher wollten die schreibenden Theoretiker noch die Arbeiterklasse befreien. Das hatte noch Dimension! Manche tragen noch immer T-Shirts mit dem Konterfei eines rassistischen Massenmörders, aber das ist mehr Verwirrung als Gesinnung – und gewiss schon lange kein Versuch eines großen Wurfs.

Lügenreden

Dieses „Wir müssen reden“ ist natürlich gelogen. Kein einziger Artikel, der mit „Wir müssen reden“ einsteigt, will wirklich „reden“, die Gedanken des Gegenübers erst korrekt verstehen, dann abwägen, dann vielleicht sogar selbst aufnehmen. Die Eltern, die ihr Kind an den Küchentisch zitieren, wollen ja auch nicht den Input des Kindes, sie wollen erziehen und anordnen.

„Wir müssen reden“, ist ein Euphemismus für „Halt die Klappe und hör zu“. In diesem Sinne, liebe Billigkolumnisten und Medienhilfskräfte, haltet die Klappe und hört kurz zu: Nein, wir müssen nicht reden. Was wir müssen, was wir mindestens sollten, das ist: denken! Wer aber denken will, der darf nicht die ganze Zeit nur reden.

Dushan Wegner wurde 1974 in Tschechien geboren, emigrierte zweijährig nach Australien und sechsjährig nach Deutschland. Er arbeitete als Programmierer in der New Economy, studierte Theologie, wechselte dann zur Philosophie. Sein Buch „Relevante Strukturen“ beschäftigt sich mit philosophischen Fragen und der Entwicklung von Debatten.  

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Dushan Wegners Blog-Magazin hier.

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Leserpost

netiquette:

Gabriele Schulze / 14.01.2018

Ich habe beschlossen, im nächsten Leben meine Gesprächsbeiträge zu reduzieren, auf “so, so”,  “ach was”, “nun denn” oder “wie Sie meinen” - nur um nicht permanent ohne meine Erlaubnis zugetextet zu werden. Oder eben “move talk” - Körpersignale senden. Dieses “wir müssen mal reden” stammt noch aus der therapeutischen Ära der Siebziger, ebenso wie “Menschen” statt “Leute” oder “Bürger”. Seitdem menschelt es ungeheuer pentrant und erlaubt unsägliches Geschwurbel allenthalben. Mit der Höflichkeit und im Namen der sog. Authentizität ist der Schutz vor Aufdringlichkeit geschwunden. Da hilft dann oft ein schlichtes “Nein”.

Andreas Rochow / 14.01.2018

Volltreffer! Leider!

Bernard van Akker / 14.01.2018

Sehr gut erkannt, Herr Wegner. Bravo!

Eva Thum / 14.01.2018

Der Artikel gefällt mir .Diese wir müssen reden erinnert mich an amerikanische Filme,.Dort weiß der Gucker, (Gucker find ich lustig)schon in voraus das erzogen wird und nicht diskutiert. Ich kann diese permanente Erziehung und Indoktrination kaum noch ertragen.Wirklich reden diskutieren, unterschiedliche Meinungen auch mal hitzig vertreten ist in der heutigen privaten Gesellschaft oder auch am Arbeitsplatz kaum noch möglich. Wir dürfen nicht mehr denken. Nicht mehr wach werden.Wir liegen im Koma.Am Leben gehalten mittels Lügen Angst und Falschinformation.      

Ulrich Jäger / 14.01.2018

Auch Wendungen wie „Hass und Hetze in den sozialen Medien“ kann man in der Neuzeit besser mit „da hat jemand eine andere Meinung als ich.“ übersetzen. Verbale Entgleisungen in Disputen gab es schon immer, und es war Sache des Angesprochenen, ob und wie er auf so etwas reagierte. Heute geht es nur noch in Superlativen. Das hat aber den Nachteil, dass man sie nicht mehr richtig einordnen bzw. werten kann.

Thomas Nuszkowski / 14.01.2018

ZITAT: “Früher wollten die schreibenden Theoretiker noch die Arbeiterklasse befreien” um sie dann in ihrem eigenen, journalistischen Gulag zu bevormunden. Kleine Scherzfrage: Ich sehe, sie waren erst Programmierer und haben dann Theologie studiert. Wollten sie ergründen, in welcher Programmiersprache Gott die Matrix geschrieben hat?

Rudolf George / 14.01.2018

Mindestlohn-Schreiberling? Vermutlich eher die Generation Praktikum, d.h. gänzlich ohne Bezahlung. Denn solche Kräfte überbieten sich an Radikalität, wenn man ihnen nur die Möhre vor die Nase hält, dass eine bezahlte Verwendung möglich wird, wenn der unbezahlte Beitrag der Redaktion gefällt.

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