Wehrhaftigkeit und Ehrenamt

Die Bundesregierung beschließt eine "Nationale Sicherheitsstrategie" in Zeiten von Krieg und Krise und will in diesem Rahmen Ehrenamt und Klimaschutz stärken.

Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. So soll die erste Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung sein, die am 14. Juni dieses Jahres im Kabinett als „oberstes sicherheitspolitisches Dachdokument Deutschlands“ beschlossen worden ist. Darin – Sie ahnen es schon – geht es unter anderem um die „Klimakrise“. Ich habe mir für Sie das Dokument und auch die entsprechende Bundestagsdebatte, die am vergangenen Freitag stattfand, näher angeschaut. Die Debatte dauerte exakt eine Stunde und 19 Minuten; die Drucksache umfasst 76 Seiten. Außerdem habe ich den Mitschnitt der Bundespressekonferenz, die eine Stunde und 35 Minuten dauerte, eine Mitteilung des Bundesministeriums der Verteidigung sowie eine Erklärung der Bundesregierung zur Nationalen Sicherheitsstrategie herangezogen Für alle, die ihre Nerven schonen und Zeit sparen wollen, folgt hier eine Zusammenfassung.

Beginnen wir mit der Erklärung der Bundesregierung. Unter der Schlagzeile „Es geht um die ganze Palette unserer Sicherheit“ befindet sich eine wirre Grafik aus Strichen und Punkten, die mit etwas gutem Willen als Netzwerk gedeutet werden kann. Ihr ist zu entnehmen: „Nationale Sicherheitsstrategie fasst Bedrohungen von außen und innen zusammen, legt Verantwortlichkeiten fest, benennt Ziele und Maßnahmen, zum Beispiel das Ehrenamt stärken, Cybersoforthilfen in der NATO oder Rohstoffreserven aufbauen“.

Wenn Sie bei Sicherheit eher an „Bundeswehr stärken“ als an „Ehrenamt stärken“ gedacht haben, sind Sie also falsch gewickelt respektive schlichtweg nicht auf der Höhe der Zeit. Denn „ein verändertes sicherheitspolitisches Umfeld, eine zunehmende Multipolarität, Bedrohungen für die Demokratie, Gesellschaft und Wirtschaft und die Auswirkungen der Klimakrise“ erfordern nun mal längst nicht mehr nur militärische Maßnahmen. Bundeskanzler Olaf Scholz wird denn auch mit den Worten zitiert: „Was sich früher als Weißbuch allein auf die Verteidigungspolitik beschränkte, folgt nun einem viel umfassenderen, systematischen Gesamtansatz.“ Bei allen Veränderungen bleibe es jedoch die zentrale Aufgabe des Staates, ohne Abstriche für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Denn ohne Sicherheit gebe es keine Freiheit, keine Stabilität und auch keinen Wohlstand.

Regierung mit "360° Perspektive"

Gemeinsam mit Außenministerin Annalena Baerbock, Bundesfinanzminister Christian Lindner, Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Verteidigungsminister Boris Pistorius stellte der Kanzler in der Bundespressekonferenz nach der Kabinettssitzung die Sicherheitsstrategie vor. Dieses bemerkenswerte Aufgebot biete „ein Bild der engen Ressortkooperation und Geschlossenheit“, wie auf der Webseite des Verteidigungsministeriums betont wird. Scholz beendete seine Einführung mit der Feststellung, dass drei Dinge entscheidend seien, nämlich „die Stärke unserer demokratischen Institutionen, die Stärke unserer Wirtschaft und der Zusammenhalt unserer Gesellschaft“.

Außenministerin Baerbock sagte, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe gezeigt, „dass Frieden und Freiheit nicht vom Himmel fallen“. Die Herausforderungen für die Sicherheit Deutschlands zögen sich durch alle Lebensbereiche. Dies gelte etwa für Medikamente genauso wie für die sozialen Netzwerke oder die Sauberkeit von Wasser. Die Bundesregierung sehe das Thema Sicherheit unter einer „360-Grad-Perspektive“, bestätigte Bundesfinanzminister Lindner. Die Corona-Pandemie und der Energiepreisschock des vergangenen Jahres wären unter anderen Umständen mit erheblichen Gefährdungen der sozialen Sicherheit und des sozialen Friedens verbunden gewesen, „wenn wir nicht über die fiskalischen Reserven verfügt hätten, um die Vernichtung von Existenzen abzuwenden“.

In der schriftlichen Mitteilung auf der Webseite der Bundesregierung heißt es weiter: Die Bundesregierung bekenne sich unverrückbar zu NATO und EU. Die Bundeswehr solle gestärkt werden (also doch nicht nur das Ehrenamt!), um ihren Kernauftrag – die Landes- und Bündnisverteidigung – zu gewährleisten. Durch einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz sollen auch die Zivilverteidigung und der Bevölkerungsschutz unterstützt werden. Unverändert stehe die Bundesregierung zu ihrer Verantwortung im internationalen Krisenmanagement. Denn die Sicherheit Deutschlands sei untrennbar verbunden mit der Sicherheit und Stabilität anderer Weltregionen.

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung müsse gegen illegitime Einflussnahme von außen geschützt und verteidigt werden. Gemeinsam mit den internationalen Partnern trete die Bundesregierung ein für eine freie internationale Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen. Ziel sei es auch, einseitige Abhängigkeiten in der Rohstoff- und Energieversorgung durch Diversifizierung der Lieferbeziehung zu reduzieren. Die Bundesregierung werde Rohstoffprojekte gemeinsam mit der Wirtschaft gezielt fördern und strategische Reserven anlegen. Außerdem werde sie die Cyber-Sicherheit stärken und auch der Weltraumsicherheit mehr Aufmerksamkeit widmen.

Wer verbirgt sich hinter "wir"

Eine fundamentale Bedrohung – insbesondere für die kommenden Generationen – erwachse aus den Folgen der Klimakrise und der Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen. Bei der Bekämpfung der Klima-, Biodiversität- und Ökosystemkrise, der Stärkung der globalen Ernährungssicherheit und der globalen Pandemieprävention gelte daher für die Bundesregierung: Frühzeitiges Handeln rettet Leben. Die Strategie, so Scholz, sei nicht „Endpunkt, sondern Ausgangspunkt“ für einen kontinuierlichen Prozess, bei dem alle staatlichen Ebenen - aber auch Wirtschaft und Gesellschaft - für eine dauerhafte Stärkung der Sicherheit zusammenwirken. Und Außenministerin Baerbock ergänzte: „Die Sicherheitsstrategie wird nur funktionieren, wenn wir sie europäisch und transatlantisch verankern“. Nötig sei eine viel engere Zusammenarbeit mit Partnern auf anderen Kontinenten.

Wenn Ihnen diese Ausführungen der Bundesregierung etwas vage vorkommen, sind Sie nicht allein. Sogar auf der Webseite des Bundestags sind kritische Worte zu lesen. Hier heißt es: „Nationale Sicherheitsstrategie stößt auf geteiltes Echo“. Demnach kritisierten die Union und die AfD unter anderem, dass die Koalition sich nicht auf die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates einigen konnte. Die Linke monierte hingegen die Aufrüstungspläne der Koalition. Aber vielleicht enthält das Dokument zur Nationalen Sicherheitsstrategie, das übrigens den Titel „Integrierte Sicherheit für Deutschland“ trägt, ja doch mehr Substanz auf seinen 76 Seiten, als aus den Mitteilungen darüber zu schließen ist? Werfen wir also einen Blick hinein. Es beginnt mit je einem Vorwort von Scholz und Baerbock.

Scholz betont, dass Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine die europäische Sicherheitsordnung fundamental in Frage stelle. Zugleich verändere sich die globale Ordnung: Die Welt des 21. Jahrhunderts sei multipolar. Der menschengemachte Klimawandel bedrohe unsere Lebensgrundlagen. In nur wenigen Monaten hätten wir uns aber aus der Abhängigkeit von russischer Energie befreit und Alternativen geschaffen.Wen Scholz mit „Wir“ meint, wird nicht ganz klar: die Bundesregierung, Deutschland, die EU? Es sei jedoch ein breiterer Sicherheitsbegriff nötig. Wir bräuchten eine sichere Energie- und Rohstoffversorgung unseres Landes (hier meint er also eindeutig Deutschland) und müssten daher unsere Handelsbeziehungen breiter aufstellen. Außerdem sei es wichtig, dass unsere Gesellschaft vorbereitet und widerstandsfähig sei, beispielsweise bei Katastrophen und Cyber-Angriffen, aber auch bei gezielten Desinformationskampagnen.

Baerbock schlägt in die gleiche Kerbe, wenn sie darauf hinweist, dass „unsere Friedensordnung nicht in Stein gemeißelt“ sei. Und sie fährt fort: „Das sehen wir spätestens seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch die Klimakrise gefährdet die Sicherheit der Menschen in unserem Land, mit Fluten und Hitzewellen. Die Corona-Pandemie,Cyberattacken, Desinformationskampagnen – all diese Bedrohungen zeigen, wie verwundbar wir sind.“ Deswegen sei unsere Abhängigkeit von Energie aus Russland beendet worden.

Sicherheit durch "Investitionen in unser Klima"

Und sie bekräftigt: „In Zukunft werden wir Sicherheitspolitik stärker mitdenken bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Das gilt bei der Frage, wo wir Medikamente, Rohstoffe und Energie kaufen. Aber auch mit Blick darauf, welche Akteure in unsere kritische Infrastruktur investieren dürfen. Wir diversifizieren unsere Wirtschaft, damit sie stabiler ist.“ Keine der Veränderungen unserer Zeit sei dabei so tiefgreifend wie die Klimakrise. Baerbock konstatiert: „Heute fliehen mehr Menschen vor den Auswirkungen der Klimakrise als vor bewaffneten Konflikten.“ Als großes Industrieland habe Deutschland eine besondere Verantwortung dafür, seine Emissionen zu reduzieren. Aber auch dafür, neue technologische Wege aufzuzeigen und Partnerschaften mit Ländern zu stärken, die besonders unter immer stärkeren Stürmen, Dürren und Hitze leiden. Und sie prognostiziert: „Investitionen in unser Klima verhelfen Menschen überall auf der Welt zu Wohlstand und Entwicklung und fördern unsere Sicherheit.“

Auffällig ist, dass das Vokabular von Scholz und Baerbock haargenau demjenigen der EU-Kommission ähnelt. Wer sich beispielsweise den Mitschnitt des europäischen Wirtschaftsforums, das am 4. Mai in Brüssel stattfand (wir berichteten hier) zu Gemüte führt, hört die exakt gleichen Worthülsen zu den identischen Themenfeldern. So verwundert wenig, dass sich die Bundesregierung erklärtermaßen hinter das Ziel eines EU-Beitritts der Staaten des Westbalkans, der Ukraine, der Republik Moldau und perspektivisch auch Georgiens stellt. Auch die Neuausrichtung des Verhältnisses zu China ist ganz und gar auf EU-Linie: China bleibe „ein Partner, ohne den sich viele der drängendsten globalen Herausforderungen nicht lösen lassen“. O-Ton Scholz: „Wir wollen kein Decoupling, wir wollen Derisking“. Genau dieses Vokabular hört man auch aus Brüssel. Die Nationale Sicherheitsstrategie ist also offenbar weniger national als auf die EU-Ebene ausgerichtet. So ist die Zusammenfassung des Inhalts auf Seite 11 denn auch mit der Überschrift versehen: „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

In ähnlich moralischem Höhenflug geht es weiter: „Als bevölkerungsreichstes Land und größte Volkswirtschaft im Herzen Europas trägt Deutschland besondere Verantwortung für Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Stabilität sowie einen nachhaltigen Umgang mit unseren Lebensgrundlagen. Diese Verantwortung nehmen wir auch im Bewusstsein unserer Geschichte wahr. Deshalb sind wir dankbar für die Aussöhnung mit unseren europäischen Nachbarn und übernehmen weiter Verantwortung für das Existenzrecht Israels.“ Im Mittelpunkt steht aber die „Klimakrise“: „Die Klimakrise bedroht unsere Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen. Sie hat bereits heute sicherheitspolitisch relevante Folgen. Die Auswirkungen dieser Krise können wir nicht mehr komplett verhindern, sondern nur noch eindämmen. Armut und Hunger, Krankheiten und die Zerstörung natürlicher Lebensräume bedrohen Millionen von Menschen weltweit.“

Weiter hinten wird noch mehrmals nachgelegt, zum Beispiel: „Die Eindämmung der Klimakrise und der Umgang mit ihren Auswirkungen ist eine der fundamentalen und zugleich drängendsten Aufgaben dieses Jahrhunderts. Erforderlich ist eine drastische Reduktion der globalen Emissionen. Zugleich liegen große Chancen in einer globalen, nachhaltigen, grünen und sozial gerecht ausgestalteten Transformation, die nicht nur saubere Energie, sondern auch weniger Abhängigkeiten bedeutet.“ Und: „Die Bundesregierung wird ihren Beitrag dazu leisten, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen.“ Der europäische Green Deal lässt grüßen. Ausdrücklich wird auch auf die Agenda 2030 verwiesen. In diesem Zusammenhang heißt es: „Die Bundesregierung will die globale Ernährungssicherheit durch eine Transformation hin zu nachhaltigen Agrar- und Ernährungssystemen stärken.“ Voll und ganz auf WHO-Linie befindet sich die Bundesregierung wiederum, wenn sie festhält: „Die globale Prävention von und schnelle Reaktion auf Pandemien ist unverzichtbar für die Gewährleistung menschlicher Sicherheit.

"Abwehr künftiger Pandemien"

Die Bundesregierung intensiviert daher ihr internationales Engagement auf diesem Gebiet. Sie verfolgt dabei einen `One Health´-Ansatz, der die Verbindungen der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt in den Blick nimmt. Zugleich werden wir unsere nationale Resilienz durch die langfristige Absicherung unserer medizinischen Versorgung und Lieferketten, die Ausbildung spezialisierter Expertinnen und Experten, die Verbesserung der Früherkennung von Pandemiegefahren sowie Investitionen in sicherheitsrelevante Forschung und Entwicklung stärken.“ Auf europäischer Ebene werde sich die Bundesregierung zudem für eine stärkere Koordinierung von Maßnahmen zur Vorbereitung auf und Abwehr künftiger Pandemien einsetzen, etwa im Rahmen der neuen EU-Strategie zu globaler Gesundheit, und außerdem das neu geschaffene Zentrum der WHO zur Pandemie-Früherkennung (Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence) mit Sitz in Berlin sowie den Pandemiefonds bei der Weltbank unterstützen. Zugleich werde sie sich für verbindlichere völkerrechtliche Regelungen beim Umgang mit Pandemien einsetzen, vor allem im Rahmen der Verhandlungen für ein neues Pandemieabkommen und bei der Reform der internationalen Gesundheitsvorschriften (wir berichteten hier). Mit anderen Worten: Die Bundesregierung ist fröhlich dabei, Kompetenzen an global agierende Institutionen abzugeben.

Immerhin wird aber auch das neu geschaffene Sondervermögen für die Bundeswehr angeführt, durch das „im mehrjährigen Durchschnitt“ der „2%-BIP-Beitrag zu den NATO-Fähigkeitszielen“ erbracht werden soll. Und als fundamentales Interesse wird neben der „Festigung der transatlantischen Allianz und der engen und vertrauensvollen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika“ ein „offenes, regelgeleitetes internationales Wirtschafts- und Finanzsystem“ genannt. Insgesamt besticht die Broschüre der Bundesregierung eher durch ihre zahlreichen Farbfotos als durch ihre Texte. Und sie gleicht einem Rundumschlag auf allen Politikfeldern in Einklang mit den EU- und UN-Vorgaben. Der „Aufdeckung gezielt gestreuter Desinformation durch in- oder ausländische Akteure“ kommt in der Strategie eine besondere Bedeutung zu. Freie und unabhängige Medien hätten hierbei eine zentrale gesellschaftliche Rolle inne. (Vermutlich meint die Bundesregierung damit gerade nicht Medien wie die Achse des Guten.)

Um die „Abwehrkräfte gegen Desinformation und die Resilienz unserer Demokratie zu stärken“, soll unter anderem eine Strategie zum Umgang mit Desinformation vorgelegt werden, die „Instrumente der Früherkennung von manipulativer Kommunikation im Informationsraum“ enthalten soll. Die Bundesregierung werde „anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung zum Thema Desinformation verstärkt fördern“. So sollen „Angebote zur Stärkung der Digital-, Daten- und Medienkompetenz“ entwickelt und „gemeinsam mit den Ländern Konzepte zur Resilienzsteigerung in Bildungseinrichtungen“ erarbeitet werden. Darüber hinaus wolle die Bundesregierung die Rechte von Minderheiten auf internationaler Ebene und insbesondere in der EU stärken und sich in den Vereinten Nationen für eine Konvention für die Rechte von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen (LSBTI) einsetzen. Die Digitalisierung soll gefördert werden, und die wirtschaftliche Innovationsfähigkeit bedürfe zudem einer ausreichenden Zahl an Fachkräften. Die Bundesregierung werde in Bildung und Weiterbildung investieren und zugleich „mit einer intelligenten Anwerbepolitik gezielt Zuwanderung ermöglichen“.

In der Mitteilung des Verteidigungsministeriums zur Nationalen Sicherheitsstrategie nimmt die Bundeswehr erwartungsgemäß etwas mehr Raum ein. Verteidigungsminister Boris Pistorius sei „mit der Ukraine ständig im Austausch und auf dem Laufenden, was den Bedarf Kiews an Waffen, Gerät, Ausstattung und Ausrüstung in seinem Abwehrkampf gegen Russland betreffe, auch wenn nicht jeder Wunsch befriedigt werden könne“. Die Ukraine werde so lange unterstützt, wie es nötig sei. Es brauche „eine moderne, in allen Bereichen voll ausgestattete und umfassend einsatz- und kampfbereite Bundeswehr und eine starke Reserve“. Pistorius bezeichnete in der Bundespressekonferenz die dauerhafte Umsetzung von zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes für den Verteidigungsetat allerdings als ehrgeizig. Und er erteilte Fragen nach „zwei Prozent plus“ im Wehretat eine Absage, indem er entgegnete: „Wer nach höher hängenden Früchten greifen will, sollte mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen.“

Kompass und Konzept

Pistorius sprach sich außerdem für eine Neuausrichtung der Rüstungsexportpolitik Deutschlands aus. Zwar solle die bisherige restriktive Grundlinie beibehalten werden, aber Rüstungsexporte seien Teil des strategischen Instrumentenkastens. Das Verteidigungsministerium hebt hervor, dass die Bundeswehr künftig mehr Verantwortung bei der Landes- und Bündnisverteidigung übernehmen werde, etwa an den NATO-Außengrenzen und insbesondere an der Ostflanke der Allianz. Zudem sei Deutschland zentrale Drehscheibe bei der Verlegung von Truppen der NATO und der EU. Gleichzeitig leiste die Bundeswehr weiterhin ihren Beitrag in den Einsätzen zur internationalen Krisenprävention und zum Krisenmanagement. Die Nationale Sicherheitsstrategie unterstreiche: Deutschland nehme in Europa eine Führungsrolle ein, und die Bundeswehr sei ein Grundpfeiler der Verteidigung Europas.

Federführend bei bei der Formulierung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands war das Auswärtige Amt, wobei das Verteidigungsministerium „umfassend“ mitwirkte. Die Bundesregierung habe auch den Austausch mit dem Bundestag, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Think-Tanks, Verbänden, Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen gesucht.Darüber hinaus flossen Aspekte aus dem Strategischen Kompass der EU und dem Strategischen Konzept der NATO ein. Wer sich über die bisherigen sicherheitspolitischen Grundlagendokumente informieren möchte, wird hier fündig. Durch den Überfall Russlands auf die Ukraine sei die Sicherheitsarchitektur in Europa grundlegend beschädigt worden. Olaf Scholz sprach daher schon am 27. Februar 2022 im Parlament von einer „Zeitenwende“. In seiner konkreten Ausgestaltung lege „das Dokument deshalb vor allem die Konsequenzen aus der Zeitenwende dar“.

Abschließend soll noch kurz auf die Bundestagsdebatte vom 16. Juni 2023 eingegangen werden. Darin gab es Reden von Annalena Baerbock (B'90/Grüne, Bundesministerin des Auswärtigen), Jürgen Hardt, Roderich Kiesewetter und Thomas Silberhorn für die CDU/CSU, Svenja Schulze (SPD, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung),Thomas Hitschler (SPD, Parlamentarischer Staatssekretär der Verteidigung), Dr. Nils Schmid und Sebastian Hartmann für die SPD, Joachim Wundrak und Dr. Alexander Gauland für die AfD, Alexander Graf Lambsdorff und Manuel Höferlin für die FDP, Sevim Dagdelen für Die Linke, Jürgen Trittin für B90/Grüne sowie Johannes Huber (fraktionslos). Den Auftakt machte Baerbock, die die von Scholz verwendete Formulierung der „Zeitenwende“ aufgriff und noch einmal hervorhob, dass die Klimakrise „die größte Sicherheitsgefahr dieses Jahrhunderts“ sei. Hardt kritisierte vor allem, dass nicht alle relevanten Akteure angemessen bei der Erstellung der Strategie beteiligt worden seien und dass kein Nationaler Sicherheitsrat vorgesehen sei. Schulze betonte, dass die Gesellschaften weltweit gerechter und widerstandsfähiger werden müssten, weswegen durch Entwicklungspolitik die Schere zwischen Arm und Reich verringert und soziale Ungleichheiten als Treiber von Konflikten bekämpft werden müssten.

Die schärfsten Worte aus der Opposition wählte Wundrak, der von einer „umfangreichen Sammlung von Phrasen“ sprach und forderte, dass die sicherheitspolitische Strategie „wie in allen anderen relevanten Ländern absolute Chefsache“ sein müsse und ins Kanzleramt gehöre. Er bedauerte, dass Scholz bei der Debatte selbst nicht anwesend war und dass „Angsttreiber der Globalisietung“ wie etwa die „konstruierte Klimakrise“ oder die „zum Impfzwang genutzte Pandemie“ weiter geschürt würden. Lambsdorff sprach hingegen von einem „guten Tag“ für das Land und lobte die Nationale Sicherheitsstrategie als einen „Erfolg liberaler Außenpolitik“. Dagdelen monierte die „gigantische Aufrüstung“, die „auf Pump finanziert“ sei, und warf der Bundesregierung vor, dass sie sich eher an die Interessen der USA und nicht der eigenen Bevölkerung hänge, die Energie und Nahrungsmittel kaum mehr finanzieren könne. Außerdem forderte sie die Aufklärung des Terroranschlags auf die Nord-Stream-Pipelines, deren Verursacher sie in Washington oder Kiew vermutet.

"Zivile Reserve" ausbauen

Trittin gratulierte Baerbock und sprach sich gegen die Einrichtung eines Sicherheitsrates aus, während Kiesewetter die Scharnierfunktion Deutschlands in Europa etwa zwischen dem Osten und dem Süden anmahnte und den Freiwilligendienst als „zivile Reserve“ ausweiten möchte. Hitschler wiederum möchte den „europäischen Pfeiler“ in der Nato stärken, und Gauland erinnerte daran, dass von Deutschland nie wieder ein Krieg ausgehen sollte (war das nicht früher einmal die Forderung der Grünen?), stattdessen aber gerade ein großes NATO-Luftmanöver über Ostdeutschland stattgefunden habe. Die USA seien ein nicht immer unproblematischer Partner, und die Migrationsströme hingen mit den US-Interventionen zusammen.

Huber bezeichnete Migration gar als Waffe, Hüferlin nannte die Nationale Sicherheitsstrategie einen „Meilenstein“, Schmid lobte, dass sie europäisch ausgerichtet sei, Silberhorn insistierte auf die Einrichtung eines Sicherheitsrates, und Hartmann wiederholte noch einmal den Begriff der „Zeitenwende“: Es werde keine Bundesregierung mehr geben, die nicht an der Nationalen Sicherheitsstrategie fortschreiben werde. Mit anderen Worten: Die Sprecher der Ampelkoalition lobten ihre Sicherheitsstrategie über den grünen Klee, während die Oppositionsvertreter vor allem das Fehlen eines Sicherheitsrats bemängelten.

Am heutigen Montag findet von 17 bis 19 Uhr die öffentliche Anhörung des Auswärtigen Ausschusses zur Nationalen Sicherheitsstrategie statt. Sie wird live im Parlamentsfernsehen (abrufbar auf der Website des Deutschen Bundestages www.bundestag.de) übertragen und ist ab dem Folgetag in der Mediathek abrufbar. Und hören Sie doch bitte mal bei Minute 1:08:26 in die Bundespressekonferenz hinein: Habe ich mich nur verhört, oder sagt Baerbock da tatsächlich: „Alle haben dran mitgewürgt“?

Foto: Bundesarchiv/ Hirschberger, Ralph CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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P. Wedder / 19.06.2023

Nur so zur Info… der RBB schrieb am 3.6.2023 „Brandenburg baut 308 Anlaufstellen für Fälle von Blackouts auf“. Es werden also längerfristige Stromausfälle erwartet. Nur in Brandenburg, oder auch in anderen Bundesländern? Auf der anderen Seite… es soll, laut Regierung, keine Energieengpässe geben, oder doch? Bin da nicht mehr so auf dem Laufenden.

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