Und wo bleibt Europa?

 Anmerkungen zur Kiew-Reise von US-Außenminister Antony Blinken, seinem Auftritt in einem Musikclub und einer versteckten Botschaft.

Antony Blinken, Spross einer wohlsituierten französisch-amerikanischen Familie ist ein Unikum. Er wurde schulisch in Frankreich sozialisiert. Seine Mutter, Judith Pisar, eine bekannte Sponsorin (der Pariser Oper) gehört zu den vermögendsten und kultiviertesten Erscheinungen der Pariser Haute Volée Seinen Stiefvater, Samuel Pisar, bewunderte Blinken stehts. Kein Wunder, denn ausweislich dessen Buch „Das Blut der Hoffnung“ (1979) kann man vor der Lebensleistung von Samuel Pisar nur den Hut ziehen. 

Kurzum, die Ernennung von Blinken als eine der ersten Entscheidungen der Regierung Biden durfte mit Recht als ein hoffnungsvolles Signal von den Europäern verstanden werden. Seit Henry Kissinger, dem Mann aus Mittelfranken, gab es im amerikanischen State Department, also der Schaltstelle für US-Außenpolitik, nie wieder jemanden, der so tief in europäischer Kultur mit verwurzelt war wie Blinken. 

Nun begab sich Blinken kürzlich wieder einmal zu Besuch bei dem Schauspielerpräsidenten Selensky. Er nutzte die Visite zu einem Auftritt in einem Musikclub und stellte eindrucksvoll unter Beweis, dass er ein fetziger Typ ist und im Übrigen sehr gut Gitarre spielen kann. Ob ein US-Außenminister dieses Instrument musikalischer Ermutigung nutzen sollte, kann hier nicht diskutiert werden. Gewiss ist diese Geste nicht nur für die Kiewer Musikszene, sondern für die gesamte Ukraine und darüber hinaus für den um Freiheit ringenden Teil Osteuropas ein zeitgenössisches Symbol. Beunruhigend sind indessen die Worte, mit denen Blinken seine musikalische Intervention begleitet: “Die Vereinigten Staaten sind mit euch. Und auch andere in der Welt.“

Europa in einer Nebenrolle?

Wen er mit „den anderen in der Welt“ meinte, hat Blinken wohl vergessen zu erwähnen. Immerhin kommen riesige, wenn auch mit US-Hilfe unvergleichbare Militärrüstungspakete besonders aus Deutschland in der Ukraine an. Europa als logistisches Hinterland des ukrainischen Widerstands ist unverzichtbar, auch für eine Weltmacht wie die USA. Ohne Ramstein und die vielen U.S. Militärbasen in Deutschland wäre die Unterstützung der Ukraine organisatorisch kaum möglich. Vielleicht schlagen also doch nicht zwei Seelen in der Brust des amerikanischen Außenministers, weil er im Herzen viel mehr Amerikaner ist als Europäer. 

Nun soll nicht über die eventuell unbedachten Worte endlos räsonniert werden. Was man nach einem musikalischen Gruß in die Mikrophone blabbert, ist nicht immer gefeilte Diplomatensprache. Dennoch wissen wir jetzt – wir in Europa, mit dem Krieg in der Ukraine vor unserer Haustür – dass im amerikanischen Außenministerium die Meinung vertreten wird, die USA seien die wesentlichen Unterstützer der Ukraine, Europa schnüre bestenfalls Nebenpakete.

Dies ist nicht nur Wasser auf die Mühlen des europäischen Oberstrategen Macron, der nur einen Bruchteil jener Waffenhilfe liefert, die von Europa in die Ukraine fließt, aber den strategischen Takt geben will, sondern auch ein Grund tieferen Nachdenkens über die Organisation der atlantischen Allianz, die sich Nato nennt. Ob und wann die Ukraine Mitglied der Nato werden soll, dürfte und muss von allen Mitgliedstaaten und insbesondere den Europäern bestimmt und mitbestimmt werden. Ein Nato-Oberausschuss unter Mitwirkung eines ehemaligen Nato-Generalsekretärs und der Imperial-Politikerin Hillary Clinton mögen Empfehlungen aussprechen. Doch damit ist nichts präjudiziert. 

Der Auftritt von Blinken mag also  die Medien bedient haben. Er sollte die politische Neugierde aller souveränitätsbewussten Europäer stimulieren. Es ist Zeit, über die Kräfteverhältnisse im nordatlantischen Bündnis intensiv nachzudenken.

 

 

Foto: U.S. Department of State via Wikimedia Commons

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A. Ostrovsky / 22.05.2024

@Gerd Maar : >>“Alles für Deutschland” war schon zu Napoleons Zeiten die Devise gegen die verhassten Nachbarn im Westen, vier Kriege gegen Frankreich waren die Folge.<< ## Napoleons Kriege gegen Frankreich? Ich dachte immer es ging gegen Deutschland, selbst als es das noch gar nicht gab. Der Dritte Napoleon hätte fast auch mal die Schweiz angegriffen. Oder war das der zweite Napoleon wegen dem Dritten? Egal, wegen Napoleon gab es immer Zoff. Ich würde mich damit näher beschäftigen, wenn das meiner Karriere nützen würde. Tuts aber nicht. Ich sage immer, wenn wir denen ihre Napoleonen so vergolten hätten, wie sie uns den Österreicher, würden dort auch diese neumodischen Plattenbauten stehen, wie in Deutschland überall. Oder auch nicht. Jedenfalls nichts Altehrwürdiges.

Fred Burig / 22.05.2024

“Die Vereinigten Staaten sind mit euch. Und auch andere in der Welt.“ .... Genau! Wenn es um Kriegstreiberei geht und um Einmischung in fremde innere Angelegenheiten - meist zum alleinigen Vorteil der USA - dann sind sie stets unter den Urhebern und Profiteuren der Konflikte zu finden ...... Angeblich werden schon weitere “bevorzugte” Gebiete in der Ukraine von transatlantischen “Investoren” ins Visier genommen - weil sie eben “mit denen ” sind - sicher auch “ohne die ” zu fragen! MfG

Silas Loy / 22.05.2024

Warum meinen Sie, sehr geehrter Herr Kerber, dass ganz Osteuropa um seine Freiheit ringt? Sind sie nicht “frei” westlich ihrer baltisch-polnisch-ungarischen Ostgrenzen? Und ist es nicht vielleicht Russland und dort eine enorme Mehrheit der Bevölkerung, die um ihre Freiheit von den USA ringt? Russland tut nichts weiter, als sich die Monroedoktrin zu eigen zu machen und danach zu handeln. Die NATO hätte den Krieg in der Ukraine verhindern können, indem sie mit Moskau einen Vertrag geschlossen hätte, in dem sie sich verpflichtet, weder die Ukraine noch Weissrussland in ihre Organisation aufzunehmen. Die NATO hätte damit den legitimen Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation stattgegeben, ohne dass die Selbstbestimmung dieser Länder tangiert worden wäre. Sie tat aber das Gegenteil, sprach Einladungen aus und wird deshalb in Moskau wohl zurecht als aggressiv eingeschätzt, als Vehikel zu Ausdehnung der amerikanischen Einflusszone und Bedrohung für die eigene Selbstbestimmung.

Gerd Maar / 22.05.2024

Man kann “loose cannon” Krah fast dankbar sein dass er mit seinen Äußerungen zur SS einen Eklat provoziert und damit die Idee eines Bündnisses europäischer Nationalisten ad absurdum geführt hat. “Alles für Deutschland” war schon zu Napoleons Zeiten die Devise gegen die verhassten Nachbarn im Westen, vier Kriege gegen Frankreich waren die Folge. Ohne die transatlantische Achse wäre Europa wohl wieder ein Trümmerfeld.

Albert Pelka / 22.05.2024

Wer zahlt, bestimmt die Musik, sorum dreht sich nunmal auch die Welt der sogenannten “Sicherheitsordnung”, “unserer deutschen Schutzinteressen” und letztlich unseres Überlebens vor allem. Als selbstverzwergter Bittsteller auf diesen Staatsmacht-Terrain,  auch noch mit einem steten Hang zur demonstrativen Selbstüberhebenden Altruistischen Selbstauslöschung, sicher wohl aufgrund eines gewissen, wohl völkisch-residuellen Kamikaze-und-Endsiegs-libidinösen Ursprungs, müssen wir angeblich geläuterten Deutschen,  als ein Volk ohne Militärraum also,  eben warten , was für uns an Brosamen von Tische der Militärisch Potenten zufällt. PS: Leider haben sich die potentiellen und erst recht die wirklich aktuellen Verteidigungsfälle nicht im gleichen Maße verzwergt, wie wir die Militätausgaben jahrzehntelang, und damit unsere Verteidigungsfähigkeiten,  verzwergt haben. Dafür sind wir aber unbestritten, wenigstens für uns aus unserer Däulingsperpektive selbst nämlich ,  die Absolute Großimperialmacht des Guten und der unangefochtene SIeger als Weltmoralpolizist.

Gerd Maar / 22.05.2024

Kann man den Amerikanern verdenken dass sie Deutschland als unsicheren Kantonisten betrachten? Schließlich hat schon Schröder kräftig antiamerikanische Ressentiments geschürt und Merkel hat die Landesverteidigung und NATO-Verpflichtungen als optional angesehen. Erst Russlands Angriffskrieg hat die naiven Deutschen aus ihrem Traum des “Wandel durch Handel” geweckt.

Hans Maier / 22.05.2024

Herr Kerber malt sich die Welt mal wieder, wie Sie im gefällt. Er schreibt selbst das Blinken französisch Sozialisiert ist und setzt das gleich, mit europäischer Sozialisation. Das Franzosen, anders als wir Deutschen, ihre Identität als Franzosen niemals aufgeben, und immer France First leben, blendet er völlig aus, obwohl es mehr als genüg Belege gibt. In der französischen Politik gibt es nur zwei Arten, die Franzosen die Europa als Steigbügelhalter für das aufsteigende Frankreich sehen, und die Franzosen, die Europa als Bremse für ein aufsteigendes Frankreich sehen. Aber der Franzose, der seine französische Identität für eine europäische aufgibt, muss meiner Meinung nach, erst noch geboren werden. Nur die deutsche Politik-Eilte würde Deutschland lieber heute als morgen abschaffen um nur noch Europäer zu sein. Europa ist keine Nation, es hat keine Seele, keine Identität, also warum genau sollte Außenminister Blinken, Europa im selben Atemzug wie Amerika nennen ? Also Herr Kerber nochmal als Erinnerung, auch wenn Sie es wahrscheinlich gleich wieder ausblenden. Europa ist keine Nation, also kann es auch nicht als Nation genannt werden. Außenminister Blinken als Diplomat hat das verstanden, manch Europäer mit deutschen Wurzeln, verdrängt es täglich, aber die Realität lässt sich eben leider nicht verleugnen.

Margit Broetz / 22.05.2024

@Rolf Mainz: “Oder wollen die USA allen Ernstes Russland militärisch angreifen”? Die USA wollen Russland so zerlegen wie sie es mit Jugoslawien gemacht haben (divide et impera). Die Pläne findet man sogar auf US-Regierungsseiten (Adresse endet auf .gov statt .com), geben Sie mal “Decolonizing Russia: a Moral and Strategic Imperative” oder “decolonized Russia” in die Suchmaske. Ausgerechnet das Imperium wirft Russland Imperialismus vor! Was die Demokratie betrifft haben Sie recht.

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