Vera Lengsfeld / 31.12.2023 / 14:00 / Foto: Imago / 4 / Seite ausdrucken

Sie kommen!

Der Schweizer Autor Volker Mohr hat wieder einen Band mit neun Geschichten vorgelegt, in denen unglaubliche Dinge geschehen. Abwegiges wird zu einer neuen Norm, die Freiheit verschwindet und Widerstand wächst. 

Der Schweizer Autor Volker Mohr, dessen Bücher ich auf diesem Blog regelmäßig besprochen habe, hat wieder einen Band mit Novellen vorgelegt. Das Buch verließ am 9. November das Druckhaus. Auf seinem Blog reflektiert Mohr dieses Datum: 1848 Scheitern der Märzrevolution, 1918 die Ausrufung der Republik (eigentlich zweier Republiken, einer bürgerlichen und einer sozialistischen), 1923 das Scheitern Hitlers, die Macht zu ergreifen, 1938 die Reichsprogromnacht, 1989 der Mauerfall. 

„Auch heute ist es wieder so weit. Die Freiheit steht auf dem Spiel“. Erneut überrascht, wie scharfsichtig Mohr die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen beschreibt, ohne sie direkt beim Namen zu nennen. Seine Sprache ist leise, zurückhaltend. Das macht seine Erzählungen um so wirkungsvoller. Sie gehen buchstäblich unter die Haut. 

In der Titelgeschichte geht die Nachricht um: „Sie kommen!“ Wer wann wie kommt, bleibt im Dunklen, was das Kommen für Folgen hat, ebenfalls. Aber der gesellschaftliche Druck, sich zu beugen, ist enorm. Alle, die sich dem Kommenden in vorauseilendem Gehorsam anbiedern wollen, tragen blau-gelbe Klamotten, die ganz Vorsichtigen auch nachts. Jugendliche warnen vor dem Kommenden und begehen spektakulär Selbstmord, um „ein Zeichen zu setzen“. Sie werden als „Helden“ gefeiert, aber es bleibt bis zum Schluss unklar, was in Zukunft geschehen wird. 

In schwefelgelbem Licht

In der Geschichte „Das Rathaus“ geht Buchmann morgens aus dem Haus. Es herrscht ein merkwürdiges schwefelgelbes Licht.

Als er auf den Hauptplatz der Stadt kommt, sieht er anstelle des preisgekrönten modernen Rathauses eine abweisende alte Villa. Wirklichkeit oder Einbildung? Keiner der Passanten, die Weiß befragt, sieht, was er sieht. Dann bemerkt Buchmann, wie ein Mann offen von einem anderen beschattet wird. Aber als er ihn darauf anspricht, bestreitet der Mann, den Beschatter zu sehen, obwohl der genau hinter ihm steht. Buchmann beschließt, sich nicht mehr um Rathaus und Beschatter zu kümmern. Aber er macht die Erfahrung, dass es auf die Dauer unmöglich ist, mit dem Strom zu schwimmen, wenn man dagegen gepolt ist. Er kann nicht Smalltalk machen, wenn es um die wichtigen Dinge geht.

Er sieht, dass die Verfolger ebenfalls verfolgt werden, dass es eine endlose Kette von Verfolgern gibt, deren Anfang und Ende nicht auszumachen ist. Er muss den Dingen auf den Grund gehen. Er betritt die alte Villa, die anstelle des Rathauses steht und an der die Passanten die Schritte beschleunigen, wenn sie vorübergehen. Er bemerkt beim Eintreten, dass neben dem Portal zwei Fahnenmasten stehen, an denen rote Fahnen wehen, in deren Mitte er einen weißen Kreis mit einem schwarzen Symbol ausmacht. Das Vestibül ist leer, bis auf zwei Männer in hellbraunen Uniformen, mit einer roten Armbinde. Sie kommen Buchmann so nahe, dass er sie sagen hört, dass die Operation Neustart begonnen hätte. Diesmal die Dauerlösung, fragt der eine. Ja. Und wer ist betroffen? Selbstverständlich alle. Nicht nur Buchmann wurde da schwarz vor Augen. Mir auch. Als B. die Villa verließ, herrschte wieder dieses schwefelgelbe Licht.

In „Der Vortrag“ muss Roland Weiß den Saal verlassen, weil ihn seine Blase drückt. Er bemüht sich, als er sich durch die Reihen zwängt, die erstaunten Blicke zu ignorieren. Hinter der Saaltür atmet er auf. Der Raum, in dem sich die Toiletten befinden, ist von dämmrigem Licht und meditativer Musik erfüllt. Weiß erstaunt seine Größe. Sie entspricht mindestens der des Vortragsaals, den er eben verlassen hat, nur dass es hier zahllose Türen gibt. In einer Ecke gewahrt er eine Frau an einem Tischchen, auf dem ein Münzteller steht. Sie erinnerte Weiß an eine Unke, und was sie sagte, klang nach einem Unkenruf: „Sehen Sie sich vor, nicht jeder kommt zurück.“

Das Ganze ist etwas anderes als seine Teile

Weiß versucht, sie zu ignorieren und eine Tür zu öffnen, hinter der er eine Toilette vermutet. Eine Sirene erklingt. Ein Rauchmelder? Weder er noch die Frau rauchten. Eine Stimme ertönt: „Weder noch“. Erschrocken geht Weiß zur nächsten Tür. Die Stimme meldet sich wieder: „Weitere“. Weiß kann den Schmerz, den seine volle Blase verursacht, kaum noch ertragen. Aber er hat Angst bekommen, dass es sich um eine Kunstinstallation handelte – und wer wollte schon beim Verrichten der Notdurft gefilmt werden. Weiß gewahrt einen Gang, der um die Ecke führt. Weitere Türen. Als er sich einer nähert, forderte die Stimme „Inter“. Der quälende Schmerz endet, als Weiß seine Hose öffnet und in den Gang pinkelt. Da wiederholt die Stimme mehrmals: Mann, Mann, Mann. Danach nur noch Stille.

In der Geschichte „Das Grabungsfeld wird Norbert Franzen mit der Frage konfrontiert, ob man aus den Bruchstücken der Vergangenheit auf das Ganze schließen kann. Nein, denn das Ganze ist etwas anderes als seine Teile. Was heute staatliches Eigentum ist, was aus der Erde gegraben wurde, gehörte früher Anderen, die Grabungen als Grabschändung betrachten. Die Tatsachen werden verdreht. Was Wahrheit war, wird nicht mehr anerkannt. 

Gemeinsam ist den neun Geschichten, dass sich alle um das heutige Zeitgeschehen drehen. „Die Ungereimtheiten und Repressionen des Alltags“, heißt es in der Buchankündigung, „werden dabei subtil durchleuchtet und von den Protagonisten, die unfreiwillig in das jeweilige Geschehen miteinbezogen werden, allmählich ihrem Wesen nach erfasst“. Es geschehen unglaubliche Dinge, die aber von den unsichtbaren Mächten legitimiert zu sein scheinen. Abwegiges wird zu einer neuen Norm. Die Menschen werden eingeengt, die Freiheit verschwindet. Aber, so schreibt Mohr auf seinem Blog: „Es formiert sich Widerstand: Seelisch, Geistig, Real. „Sie kommen!“

Volker Mohr: „Sie kommen!“, Loco Verlag 2023, bestellbar hier


Vera Lengsfeldgeboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.

Foto: Imago

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

A.Schröder / 31.12.2023

“Sie kommen!”. Vielleicht die Russen? Früher mal nur als Bedrohung gerufen. Heute kann es (wieder) eine Befreiung sein. Der Ami schickt keine Kehrpakete, der schickt Knechtschaft und nicht mittels Flugzeug.

Justus Liebig / 31.12.2023

Das ist sicher eine lesenswerte Lektūre, allerdings brauchen wir nicht noch eine weitere Analyse der aktuellen Verhältnisse im In- und Ausland. Wer sehenden Auges durch die Welt geht, dem zwängen sich die aktuellen Fehlentwicklungen geradezu auf. Was es hingegen braucht sind Lösungen, die sich auch auf unterstenden gesellschaftlichen Ebenen in die Tat umsetzen lassen. So zb Demonstrationen und Streiks auf breiter Ebene, die von der herrschenden Klasse nicht ignoriert werden können. Von daher könnte der 8. Januar 2024 einen Wendepunkt in Deutschland markieren. Allein die Zeit wird es zeigen.

Gerhard Schweickhardt / 31.12.2023

Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Wenn lebt und gegen den Strom schwimmt, sieht man wie viel Müll einem entgegen kommt. Frau Lengsfeld sind Sie immernoch in der CDU? Alles Gute zum Neuen Jahr.

Thomas Szabó / 31.12.2023

Die Novelle vom Grabungsfeld erinnert mich an eine Kurzgeschichte die ich noch in der Kunstschule schrieb: Leonardo da Vinci wird mittels einer Zeitreise in die Gegenwart versetzt. Er bewundert eine sozialistische Plattenbausiedlung in der ehemaligen DDR, dessen geraden Straßen bis zum Horizont reichen. Zentralperspektive! Gewaltige gleichförmige Häuser in Reih und Glied! Die ideale Renaissance-Stadt! Florenz ist ein Mauseloch dagegen! Ein riesiges Werbeplakat nimmt ihm den Atem. Das Foto einer dümmlich grinsenden halbnackten jungen Frau bewirbt irgendwas. Er hält das Plakat für ein Gemälde und sucht nach dem Namen des Künstlers: “Gruber Werbefotograf”. Leonardo fällt erschüttert auf die Knie: “O göttlicher Gruber! Meister aller Maler!” Leonardo gerät plötzlich wieder in seine eigene Zeit ins 15 Jahrhundert. Er zerreißt die Mona Lisa und verbrennt alle seine Gemälde. “O göttlicher Gruber! Nur du unter Gottes gebrechlichen Geschöpfen bist würdig ein Maler genannt zu werden! Ich gebe die Malerei auf und werde Buchhalter.” 5 Jahrhunderte später: Niemand hat je etwas von Leonardo da Vinci gehört. Der äußerst mittelmäßige Werbefotograf Gruber erfährt nie, dass er das Lebenswerk eines der größten Künstlers aller Zeiten vernichtet hat. Grubers Werbeplakat beeindruckt die grellgeschminkte Samantha: “Wow! Du bist ein Künstler!” und sie nimmt seine Einladung auf einen Drink an. Gruber wird seinem Kosenamen “Grapscher Gruber” gerecht und die Samantha knallt ihm eine.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com