Wir leben in eitlen Tugendrepubliken, die sich von diskursorientierten, demokratischen Gesellschaften darin unterscheiden, dass sie Teilen ihrer Bevölkerungen den Mund verbieten. Was politisch unerwünscht und dazu geeignet scheint, „den Falschen“ in die Karten zu spielen, wird als böse verfemt und in die Schweigespirale verbannt.
Politik braucht Überhöhung: Helden, Ikonen, Haltung und Bewusstsein. Mit ihren Kulten um Personen, absoluten Ideen und Utopien entrückt jede postmoderne Politik irgendwann dem Sein bis zur Realitätsfremdheit. Denn die Helden und das „Bewusstsein“ sind Konstrukte machtpolitischer Zielsetzungen, oft genug begleitet von einer Korruption des Geistes, von Opportunismus. Die politischen Eliten und die Digitalität haben darüber hinaus zu einer Beschleunigung von Entfremdungsprozessen geführt. Vor allem in der „westlichen Welt“, wo ursprünglich fast alles sein durfte, was möglich war (solange es nicht gegen Gesetze verstieß), spielt heute die Realität als Basis für vernunftbegabtes Handeln immer weniger eine Rolle, aber Haltung als zwanghafter Beleg für Tugendhaftigkeit und soziale Ansprüche eine immer größere.
Wir leben im „Westen“ bereits in eitlen Tugendrepubliken, die sich von diskursorientierten, demokratischen Gesellschaften darin unterscheiden, dass sie Teilen ihrer Bevölkerungen immer mehr den Mund verbieten und sie von pluralistischer Teilhabe auszuschließen versuchen. Der Staat als „Sugardaddy“ und Dompteur tritt in eine mehr als zweifelhafte Rolle: In seiner „Manege“ füttert er die Gefügigen und schwingt die Peitsche vor den Aufmüpfigen. Er bläht sich vorm zahlenden Publikum auf in einem bunten Kostüm, das einer Uniform gleicht, und zeigt sein erstarrtes Lächeln. Doch sind nicht die Lebewesen, die er vorführt, Raubtiere. Die Verhältnisse könnten sich verkehrt haben. Was also steckt hinter diesem „Lächeln“ des Staates?
Die Duldungsschwelle für „moralisches Versagen“ hängt tief in unseren „zivilisierten“ Gesellschaften des Westens und führt schnell zum Ausschluss von Ideen und Meinungen, die von der Meinungsfreiheit nicht nur gedeckt sein sollten, sondern nichts anderes beanspruchen, als Diskursangebote zu liefern. Man will nicht zulassen, dass Menschen ihre Stimme für Angelegenheiten erheben und Vorschläge machen, die gegen die spezifischen Vorgaben manierierter Haltungskodizes verstoßen (beispielsweise Identitätspolitik und Gendern).
Tugendeifer unter Ausschluss jeglicher Kritik
Was politisch unerwünscht und dazu geeignet scheint, „den Falschen“ in die Karten zu spielen, wird als böse verfemt und in die Schweigespirale verbannt. Die Titulierung als „Leugner“ zeigt schon, dass es nicht um politische Standpunkte geht, sondern um Glaubensgrundsätze, deren Anzweiflung als Ketzerei angeprangert wird – siehe „Klimadebatte“, die schon lange keine mehr ist. Die meisten Parteien haben bei dieser Art der Verleumdung und Verletzung der Meinungsfreiheit munter mitgeholfen und sich dabei noch als deren Retter aufgespielt. Der Fisch stinkt vom Kopf, wie man so schön sagt, denn dort sitzt das leichter verderbliche, weiche Hirn.
In den Debatten um Migration war solcher Tugendeifer unter Ausschluss jeglicher Kritik jahrelang tonangebend – bis hin zur Verschleierung von statistischen Daten. Themen wie Antisemitismus bei muslimischen Migranten und Flüchtlingen oder deutlich höhere Kriminalitätsraten bei migrantischen Gruppen im Vergleich zu Deutschen können erst wieder diskutiert und angemahnt werden, seit der judenfeindliche Mob offen auf Straßen demonstriert und die neuen Statistiken zur Migrantenkriminalität faktisch nicht mehr umzudeuten sind.
Die Politik wird von der normativen Kraft dieser Tatsachen nun eingeholt, hat aber das Vertrauen derart verspielt, dass die Wähler rechts überholt haben und von dannen sind. Die östlichen Bundesländer drohen mehrheitlich an die AfD zu fallen. Schuld daran sind weder die AfD noch ihre Wähler. Die hohen Umfragewerte für die Partei korrelieren dementsprechend mit der Unzufriedenheit an der deutschen Regierung, vor allem ihrer Klima-, Energie- und Migrationspolitik. Es ist bezeichnend, wenn gerade jetzt verstärkt ein Parteienverbot gefordert wird. Die Hürden dafür sind hoch und den Befürwortern des Verbotsverfahrens muss klar sein, dass viele Wähler – nicht nur die, die die AfD aus tiefer Überzeugung wählen – dieses Ansinnen als weiteren Beleg dafür heranziehen werden, dass „unsere“ Demokratie hinfällig und unglaubwürdig ist.
Freiheit und „Bewusstsein“ fremdeln miteinander
Das geforderte Verbotsverfahren zeigt auch, wie nervös die Parteien sind. Sie befürchten, dass ihnen die Legitimation entgleiten könnte, und einige Politiker ziehen trotzdem die falschen Schlüsse. Statt die (nicht handelnden) Profiteure des Regierungsversagens verbieten zu wollen, denen das Missmanagement, die Anmaßung und die Repression eines politisch gekaperten Staatsapparats Wählerstimmen regelrecht zutreiben, sollten die „etablierten“ Parteien schlicht schauen, was dem Souverän auf der Seele liegt. Jede demokratische Politik hat sich generell für die Meinung und Stimmungslagen aller Bürger zu interessieren. Das wäre die einzig legitime und passende Antwort auf die AfD. (Dem Dompteur könnte bald das Lächeln vergehen, wenn er seine Peitsche missbraucht.)
Volk und Staat, Demokratie und Souverän, Parteien und Lebenswirklichkeiten, Freiheit und „Bewusstsein“ fremdeln miteinander und stehen sich teilweise schon feindlich gegenüber. Solcher weltanschauliche Dissens führt schnell zu Schnappatmung auf beiden Seiten, angefeuert von Parteien und Politikern, die dem Selbstzweck ihrer wetteifernden Empörung verhaftet bleiben, Diskurs verweigern und mit Verweis auf ihre Helden und Utopien keinen weiteren Gesprächsbedarf sehen. Dabei verkennen sie, dass die Halbwertszeiten ihrer Utopien mitunter kurz sind, die ihrer Helden sogar noch kürzer. Am Ende werden diese Parteien vielleicht nicht mehr mitreden können, weil sie demoskopisch kein Gewicht mehr haben. Kleine Parteien wie die FDP oder die Grünen wird es im Osten zuerst ereilen, wenn man die Trends der Umfragen weiterdenkt.
Zudem zerlegen sich die ersten Ikonen und Helden selbst (die antisemitische Greta), die ersten Utopien verdampfen in Hinblick auf ihre Finanzierbarkeit: Am vergangenen Donnerstag (16. November 2023) kippte das Bundesverfassungsgericht den Nachtragshaushalt der Ampel für Klimaschutzprojekte. Es fehlen nun plötzlich 60 Milliarden im Haushalt. Deutungshoheiten wanken – auch in der Flüchtlingsfrage müssen linksgrüne Politiker mittlerweile die „Aufnahmefähigkeit“ unserer Gesellschaft in Betracht ziehen und eine vorbehaltlose Diskussion um „Obergrenzen“ tolerieren, denn in den überlasteten Kommunen kracht es im Gebälk. Die Vox Populi wird lauter. Da ist längst kein Verständnis für die Flüchlingskampagneros und ihre Utopien mehr.
Daumen hoch, Daumen runter
Wie kommt es, dass man in den „Eliten“ der „zivilisierten“ Welt zunehmend den Blick auf Realitäten verweigert? Es mag an der Beschleunigung und Erreichbarkeit von Information und Desinformation liegen, aber auch an den digitalen Simulations- und Erregungspotenzialen neuer Kommunikationsmethoden, die unsere Sinne beeinflussen, und bei denen nicht der Wahrheitsgehalt oder Realitätsbezug, sondern neue Kategorien wie Reichweite und soziale Anerkennung im Vordergrund stehen.
„The Medium is the Message“, das Medium ist die Botschaft, stellte der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan in seinem Buch „Understanding Media: The Extensions of Man“ (1964) fest. Heute müsste man fortsetzen: „Die Aufmerksamkeit ist die Botschaft“. In seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ (1962) schreibt McLuhan: „Wenn eine neue Technologie einen oder mehrere unserer Sinne in die soziale Welt ausdehnt, werden sich neue Verhältnisse zwischen allen unseren Sinnen ergeben.“
Je weiter eine „Information“ verbreitet ist, je „beliebter“ sie ist, desto wahrscheinlicher, wahrer erscheint sie den Beteiligten. Der Fokus des Wahrheitsgehalts ist vom Absender (Medium) auf den Empfänger und dessen Aufmerksamkeit übergegangen. Eine Information wird demnach eher als „wahr“ erachtet, je mehr sie geteilt und „geliked“ wird. Dieser stupiden und gefährlichen Interpretation huldigen massenhaft Kurznachrichten-Konsumenten wie auch Politiker allzu gern, denn sie ist suggestiv und populistisch zu missbrauchen. Die Politik giert nach Beliebtheitswerten – sie richtet sich nach der Umgebungsstimmung ihrer sogenannten Peergroup, Freunden, „Followern“, und hält diese Bezugsgruppe aus latenten Mitwissern für den Mittelpunkt der Wirklichkeit, für einzig relevant. Wie der debile Imperator im großen Rund der Kolonnaden des Circus Maximus: Folge dem Geschrei, Daumen hoch, Daumen runter.
Der digitale Hallraum als Wirklichkeitsersatz
Dennoch: Das Füllhorn der Wirklichkeitsfremdheit und Wirklichkeitsentfremdung ist seit jeher die Doktrin. Somit ist die Digitalität das perfekte Werkzeug für Imperative und totalitäre Ansätze, die eine emergente Erscheinung des „Netzes“ sein könnten, mit deren Hilfe die Politik ihr Bestreben nach Deutung und Pseudolegitimation immer autoritärer penetriert. Die Sockel, auf denen die wirklichkeitsfremden, totalitären Objekte, die Helden, Ikonen und Utopien positioniert werden, sind stets höher als das Leben selbst. Schließlich soll da oben die Inkarnation von Zukunft dargestellt werden – sei sie noch so von Angst, Projektion, Ideologie und Aberglaube besetzt. Heute wird Zukunft wieder aus Angst und Repression gemacht, nicht aus demokratischer Zuversicht und Fortschritt. Der digitale Hallraum wird dabei als Wirklichkeitsersatz und Verstärker genutzt.
Was ist so absurd an den Suggestionen und Substituten des digitalen Pseudo-Wirklichen, die einer besonderen Ikonografie folgen, um Stimmung und Meinung zu machen? Die Kulte um Personen: Greta mit Pappschild, Migranten in Booten, Palästinenser als Opfer. Die Kulte um absolute Ideen: offene Staatsgrenzen, geschlossene Kreislaufwirtschaft, Nullwachstum, Energiewende um jeden Preis, Identität als neue Apartheid. Die Kulte um Utopien und ihre Dringlichkeiten: Klimarettung statt Wachstum, soziale Gerechtigkeit statt individueller Leistung, Migration von Fachkräften statt Kriminellen. Und die größte Utopie: Politik statt Vernunft.
Jede Macht muss sich erheben können über die Gegenwart der Beherrschten. Das funktioniert nur, wenn – abgehoben genug – alles zum spekulativen Überbau des Lebens erklärt wird, außer das profane, messbar wirkliche und teilweise schon schäbige Leben der Beherrschten selbst. Dann kann die politische „Realität“ von der Norm der Wirklichkeit schamlos abweichen und auch noch aus dieser absurden Diskrepanz Legitimation pressen. Mit Hilfe der servilen Medien gelingt das: An den Nöten der Menschen vorbei, und an ihrer Abscheu vor solcher Politik vorbei, so dass irgendwann die Demokratie für so unfähig gehalten wird wie ihre Protagonisten. Schuld sind jedoch immer die, die nicht folgen wollen, also die politischen Verweigerer und Experten des sachlichen und fundierten Widerspruchs. Also die echten Demokraten mit unbequemen Meinungen.
So verliert die „Wirklichkeit“ im Zeitalter der technischen Kopierbarkeit und Fragmentierung zunehmend ihre Einzigartigkeit. Mit fatalen Folgen. Überall können heute gültige Varianten des Realen entstehen. Noch einmal zurück zu McLuhan: Ihm war daran gelegen, zu beschreiben, wie die menschliche Wahrnehmung und unser Denken von (Massen-)Medien beeinflusst werden: „Wir formen unsere Werkzeuge, und dann formen die Werkzeuge uns.“ Das könnte in Zukunft ein Hinweis darauf sein, was Künstliche Intelligenz in den Händen inkompetenter Politik verursacht. Sie kann den Mangel an Kompetenz sicher ausgleichen, aber droht zu einer Absorption der Demokratie zu führen. Weil kalte Intelligenz Macht bedeutet und Schwache buchhalterisch abschreibt.
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Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.