Boris Reitschuster, Gastautor / 24.06.2023 / 14:00 / Foto: Imago / 101 / Seite ausdrucken

Russland am Rande des Bürgerkrieges, Moskau im Belagerungszustand

Söldner kämpfen gegen die Armee, unglaubliche Szenen spielen sich ab. Hier eine erste Einordnung des langjährigen Moskau-Korrespondenten und Putin-Kenners Boris Reitschuster.

Es sind surreale Szenen, die da im Video zu sehen sind: Jewgenij Prigoschin, ein (früher?) enger Vertrauter von Putin, sitzt neben dem stellvertretenden Verteidigungsminister und dem stellvertretenden Chef des berüchtigten und mächtigen Militärgeheimdienstes GRU im südrussischen Rostow am Don auf einer Bank, hinter ihnen stehen Männer in Uniformen mit Waffen – offenbar Söldner Prigoschins. Prigoschin, Gründer und Chef der Söldnertruppe „Wagner“, maßregelt die beiden hochrangigen Militärs wie Schuljungen.

Dem stellvertretenden Verteidigungsminister hält er das vor, was Putins Anhänger hartnäckig bestreiten – dass die russische Armee die Zivilbevölkerung attackiere: „Sie zielen auf friedliche Leute, sie vernichten sie! Ihr habt gerade erst einen Bus voll mit Leuten vernichtet. Und sie haben keinerlei Gewissen gezeigt.“ Die Antwort des Vize-Ministers („Ich höre davon zum ersten Mal“) unterbricht Prigoschin: „Warum duzen Sie mich?“ Der Vize-Minister entschuldigt sich: „Habe ich doch gar nicht!“

Prigoschin, dessen Männer zuvor den Stab der russischen Armee in Rostow besetzt haben und der jetzt die gesamte Millionenstadt am Fluss Don und unweit von der Front kontrolliert, erklärt den beiden mächtigen Männern dann im Stile eines Geiselnehmers seine Forderungen: „Ich bin gekommen, weil ich will, dass ihr uns den Generalstabschef (Gerassimow) und (Verteidigungsminister) Schojgu ausliefert. Solange wir die nicht bekommen, bleiben wir hier und blockieren Rostow und marschieren nach Moskau!“

Der Vize-Verteidigungsminister wendet verzagt ein, dass Prigoschin doch nur bluffe. Dessen Antwort: „Nein, wir bluffen nicht!“ Dann meint er kleinlaut, Prigoschin störe ihn beim Kommandieren seiner Truppen (die in der Ukraine sind). Darauf Prigoschin hart: „Wir stören euch nicht beim Kommandieren!“

Prigoschin, der als „Putins Koch“ bekannt wurde und dank seines Freundes Putin ein Milliardenvermögen machte, ist in dem Gespräch dominant, hat eine automatische Waffe umhängen, spricht laut, der Vize-Minister ist leise und kleinlaut, der Vize-Geheimdienstchef ebenso, beide sind zumindest dem Augenschein nach unbewaffnet. Diese Gesprächssituation zeigt deutlich, dass sich die beiden offenbar in der Gewalt des Söldner-Chefs befinden, der in letzter Zeit keinen Hehl mehr aus seinem Hass auf das Verteidigungsministerium gemacht hat. Er kündigt an: „Wir werden diese Schande für unser Land beenden!“ Und fügt hinzu: „Wenn Sie“ – also die Armee – „mit uns in einem normalen Ton reden würden, wären wir nicht mit Panzern hierhergekommen!“

Auf die schüchterne Nachfrage des Vize-Ministers, ob er glaube, alles richtig zu machen, antwortet Prigoschin entschlossen: „Absolut, weil wir Russland retten.“

Wütende Ansprache

Auslöser der Eskalation: Prigoschin warf dem Verteidigungsministerium vor, es habe seine Söldnertruppe unweit der Front bombardiert. „Sie sind in Bachmut gestorben, als sie die Ehre Russlands und der russischen Armee verteidigten. Sie wurden hinterhältig betrogen“, beklagte Prigoschin in einer dramatischen Ansprache, die im Internet zu finden ist. Was er dabei nicht sagte: Das Verteidigungsministerium hatte sich in einem Machtkampf mit ihm durchgesetzt, und seine Söldner hätten zum 1. Juli unter den Befehl seines Erzfeindes Schojgu kommen sollen. Insofern stand Prigoschin das Wasser bis zum Hals.

„Wir waren bereit, zu Kompromissen mit dem Verteidigungsministerium, die Waffen abzugeben und eine Lösung zu finden… aber dieser Abschaum, sie konnten sich nicht beruhigen, sie haben unsere Lager hinter der Front bombardiert und dabei eine riesige Zahl unserer Kämpfer umgebracht. Wir werden Entscheidungen treffen, wie wir auf diese Untat reagieren. Jetzt sind wir an der Reihe.“

Inzwischen ist klar, wie Prigoschin reagiert. Eine Kolonne seiner Kämpfer bewegt sich von Rostow Richtung Woronesch, Gerüchten zufolge sind sie bereits weiter auf dem Durchmarsch nach Moskau. Dabei soll es zu heftigen Gefechten mit der regulären Armee gekommen sein. Unbestätigten Berichten zufolge schoss ein Armee-Hubschrauber ein Öllager in Woronesch in Brand, damit es nicht in die Hände der Söldner gelangt.

Videos, die diese Kampfhandlungen zeigen sollen, sind hier und hier zu sehen.

Südlich von Moskau soll die Armee Verteidigungsstellungen errichten. In der Hauptstadt wurde faktisch der Ausnahmezustand verhängt. Alle Veranstaltungen für das Wochenende wurden abgesagt. Drei Hubschrauber sollten die Kolonne der Söldner bombardieren, wurden aber von diesen abgeschossen. Einer der abgeschossenen Piloten soll gesagt haben, man habe ihm erklärt, es handle sich bei dem Ziel um Ukrainer.

Moskau am Rande der Panik

Im Kreml herrscht Alarmstufe Rot. Wladimir Putin trat in einer Ansprache in den frühen Morgenstunden vor das Volk. Er sprach von einer „tödlichen Gefahr für Russland“. Ein bewaffneter Aufstand sei „eine tödliche Gefahr für unsere Staatlichkeit, für uns als Nation“. Es sei „ein Schlag gegen das Volk“, so der sichtlich aufgebrachte Staatschef.

Es ist geradezu tragikomisch, dass Putin nun mit genau der Situation konfrontiert wurde, vor der er seit jeher besondere Angst hat: einem Aufstand. In früheren Reden warnte Putin regelmäßig davor, dass sich das Jahr 1917 wiederholen könnte, in dem eine kleine, aber entschlossene Minderheit mit einem Putsch die Macht an sich riss – Wladimir Lenin und seine Bolschewiki.

Viele Menschen in Moskau sind in Angst. Schon am Morgen bekam ich mehrere Nachrichten von Freunden und Bekannten aus der Hauptstadt, die ängstlich fragten: „Was ist los bei uns? Weißt du mehr als wir?“ Den Berichten der Freunde zufolge ist die Stadt quasi im Belagerungszustand, Militärfahrzeuge seien auf den Straßen, man komme nur noch schwer aus der Stadt heraus und in die Stadt hinein.

Noch ist es viel zu früh, um die weitere Entwicklung abzuschätzen. Klar ist aber auch: Es ist nicht auszuschließen, dass Putins Herrschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen könnte. Bislang gibt es kaum wirksamen Widerstand der regulären Armee gegen die Söldner, sie kommen in schier unglaublicher Geschwindigkeit voran gen Moskau. Indizien sprechen dafür, dass Putin die Hauptstadt bereits fluchtartig verlassen hat, was sein Sprecher Dmitri Peskow allerdings bestreitet,

Die Opposition glaubt, weite Teile der Truppe seien zu demotiviert und zu enttäuscht von Putin und der Führung, um gegen das Söldner-Heer von Prigoschin einzugreifen, der sich als Volkstribun inszeniert. Tatsächlich scheint die Macht Putins im Inneren ähnlich ausgehöhlt wie in der DDR in ihrer Endphase – was viele Beobachter im Westen sträflich unterschätzen. Und was vor allem an der ausufernden Korruption und Vetternwirtschaft liegt. Auch eine Kriegsmüdigkeit macht sich allmählich breit, obwohl es den staatlichen Medien lange recht gut gelungen ist, den Narrativ zu bedienen, dass Russland in der Ukraine nur Vorwärtsverteidigung betreibe.

Auch dieses Narrativ zerlegte jetzt der wütende Prigoschin. Das seien Lügen, sagte er, in Wirklichkeit sei der Krieg nur begonnen worden, weil Verteidigungsminister Schojgu unbedingt den Marschall-Titel bekommen wollte und das nur in einem Krieg möglich sei. Es habe keine Gefahr eines Angriffskriegs der Ukraine auf Russland gegeben, so Prigoschin explizit. Am Samstag legte er dann sogar noch einmal in einer Audio-Botschaft nach, einer direkten Reaktion auf Putins Ansprache und dessen Vorwurf, er sei ein Verräter: „Der Präsident irrt sich zutiefst. Wir sind die Patrioten des Vaterlandes. Wir wollen nicht, dass dieses Land weiter in Korruption, Lüge und Bürokratie lebt. Jene, die gegen uns sind, haben sich um die Schweinehunde versammelt.“

Auffallende Zurückhaltung

Für Putins Verteidiger und Fürsprecher im Westen und in den Medien ist das ein harter Schlag. Entsprechend zurückhaltend wird dort auch über die aktuelle Entwicklung berichtet.

Dabei ist es extrem alarmierend, wenn die zweitgrößte Atommacht der Erde faktisch am Rande eines Bürgerkrieges steht, beziehungsweise diesen Rand schon überschritten hat. Ob Prigoschin im Kreml, im Gefängnis oder auf dem Friedhof landet oder doch noch ein Kompromiss erzielt wird, ist momentan seriös nicht abzuschätzen. Experten, die da jetzt im Brustton der Überzeugung Prognosen abgeben, wie sie in den Medien zu lesen sind, bewegen sich in meinen Augen auf dünnem Eis. Sicher ist nur eines: Die vermeintliche innenpolitische Stabilität in Moskau ist eine Illusion. Die Machtbasis von Putin ist wackelig, weil sie nicht auf Institutionen und Gesetzen beruht, sondern wie bei einem Wolfsrudel auf Dominanz.

Ich will hier nicht als Rechthaber dastehen – aber genau vor dem, was wir jetzt erleben, warne ich seit vielen Jahren in meinen Büchern (siehe hier) und Artikeln. Leider sehen zu viele weg. Die einen jahrelang wegen der Geschäfte mit Russland, die anderen, weil sie der (menschlich nachvollziehbaren) Illusion erliegen, ausgerechnet der KGB-Mann Putin sei eine Alternative zu der unsäglichen Entwicklung im Westen.

Klar ist auch: Sollte der Hardliner Prigoschin, der in jungen Jahren wegen organisierten Verbrechens im Gefängnis saß, statt erneut im Gefängnis im Kreml landen, ist völlig unklar, wie es mit Russland weitergeht. Es sind die unterschiedlichsten Szenarien möglich. Von einer Annäherung an den Westen bis zu einer Verschärfung der Gegensätze. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass der Kreml-Chef zur Abwehr der akuten Gefahr zu unschönen Mitteln greift, die weitreichende Folgen für die internationale Sicherheit haben. Es sind ungute Zeiten. Gnade uns Gott!

Ein Video zu diesem Beitrag von Boris Reitschuster finden Sie hier:  "Umsturz? Was passiert wirklich in Russland: Warum die Söldner auf Moskau marschieren und ob sie eine Chance haben"

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Boris Reitschuster.de. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung. Der Text wurde um 18:00 am 24.6. 2023 aktualisiert.

Foto: Imago

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Heinrich Wägner / 24.06.2023

“Das sind die Momente…..” Thomas Schmied .  diese Momente haben mein Leben bestimmt. Als wir Kinder mit Mutter durch die Ruinen gingen um nach brauchbaren zu suchen. In vierjahrzehnten DDR ,im Straflager und bei der sogenannten Wiedervereinigung. Ja,es macht krank und ich kann sie sehr gut verstehen. Aber es sind nun mal die Waffen und dazu gehört der Krieg. Man erzielt keinen Gewinn wenn Selbige nur auf Lager sind. Panzer vor Moskau drehen ab habe ich zwischendurch auf Wallasch online gelesen. Gut und böse, Wahrheit oder Lüge ?

T. Schneegaß / 24.06.2023

Wenn das so weitergeht, vergessen die Russen glatt, sich mit dem Hitzenotstand zu beschäftigen.

T. Schneegaß / 24.06.2023

@Ludwig Luhmann: Wie schon Reitschuster frage ich auch Sie: Was wollen Sie? Die einpolare Welt des WEF oder einen intakten Gegenpol dazu, zweitrangig, wie der im Moment aussieht? Eines von beiden wird siegen, dazwischen gibt es NICHTS mehr.

Peter Holschke / 24.06.2023

“Putsch in Russland” und die Endsiegler springen wie der Kasper aus der Kiste. Morgen stellt sich bereits der Katzenjammer ein. Jetzt will Russland auch noch Odessa.

Dr. Ralph Buitoni / 24.06.2023

Der “Putsch” ist schon wieder vorbei. Nuland und Blinkens und Uschis feuchter Traum vom Regime Change platzte wie eine Seifenblase, Der letzte Strohhalm von MI6 und CIA über eine blödsinnige Aktion doch noch den provozierten und verlorenen Ukrainekrieg “retten” zu können ist ausgeraucht. Und alles was Herr Reitschuster in den letzten Jahren zum Thema Russland und Ukraine abgeliefert hat ist Müll. Eigentlich nicht viel anders als das Geraune eines montäglichen Holden hier auf der Achse. Vielleicht sollte man sich zur Abwechslung mal mit Experten und wirklich Informierten in Verbindung setzen? Ich empfehle da insbesondere Grayzone mit Max Blumenthal, um endlich zu verstehen, warum der Westen ein Nazi-gestütztes Regime in der Ukraine unterhält. Jacob Dreiziehn, ebenfalls Jude, könnte dabei ebenso hilfreich sein. Und The Duran, die jimmy Dore Show, The New Atlas, Douglas MacGregor, Scott Ritter und andere Amerikaner, die ihren Laden (im Gegensatz zu den Deutschen den ihren) kennen und verstehen. Der deutsche Historiker Tarik Cyril Amar (der fließend Russisch und Ukrainisch spricht und fünf Jahre in Lemberg lebte und dabei seine Doktorarbeit verfasste) ebenfalls: auf YT - the Origins of Ukraine´s Fascists and why it matters….

Peer Doerrer / 24.06.2023

Der Westen wünscht sich verzweifelt den Tyrannen Mord und wenn der nicht klappt , wenigstens ein klitzekleiner Putsch der engsten Freunde. Dumm nur dass da ein alter KGB Haudegen am Ruder steht , der alle Spielchen kennt wie man den Gegner zersetzt ,immer wieder Schwäche vortäuscht ,um dann gnadenlos zuzuschlagen. Und eine Edelfeder der Guten macht dann aus ein paar gestellten Videoschnipseln einen Bürgerkrieg. Wow und das auf der Achse.

Wilfried Cremer / 24.06.2023

So wäre es auch hier gekommen, hätte man Prinz Reuß nicht festgenommen.

T. Schneegaß / 24.06.2023

@dr.kunze: Genau! Dann haben endlich Soros, Schwab, Black Rock und wie sie alle heißen, endlich freie Fahrt für die Errichtung ihrer NWO. Ich hoffe für Sie, dass Sie noch viele Jahre diese Diktatur eines bisher nie gekannten Ausmaßes genießen können. Leider werde ich die Blütezeit dieser Epoche aus biologischen Gründen nicht erleben.

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