Hansjörg Müller / 28.11.2010 / 19:45 / 0 / Seite ausdrucken

Partei der Angst

Was man unter Populismus zu verstehen hat, darüber sind sich Deutschlands Politiker und Journalisten einig: skrupellose Demagogen, die es verstehen, mit den Ängsten der Bevölkerung zu spielen. Wer die Populisten sind, ist auch klar: in den meisten Fällen die, die dem tumben Volk Angst machen vor dem Islam oder dem Fremden an sich; manchmal auch der linke Volkstribun Oskar Lafontaine. Die Erkenntnis aber, dass die stärkste populistische Partei in Deutschland derzeit die Lieblingspartei der linksliberalen Elite ist, dürfte in den chattering classes des Landes kaum mehrheitsfähig sein. Ja, wir reden von den Grünen.

Der Berichterstatter erinnert sich an einen trüben Apriltag im Jahre 2006. Nichts Böses ahnend lief er durch die Tübinger Fußgängerzone, da wurde er plötzlich von einem hysterischen jungen Mann angesprungen. Der Mann trug einen Ganzkörperschutzanzug. Offensichtlich schien er zu glauben, dass sich ein atomarer Störfall ereignet habe. „Der zwanzigste Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, und trotzdem sind in Deutschland noch immer Atomkraftwerke am Netz!“, belehrte er mich. Ich winkte müde ab. Da wurde er böse: „Ach ja, kann dir doch egal sein, wenn wir alle verstrahlt werden!“, keifte er mir nach.

Man wird nicht alle Tage von einem zukünftigen Oberbürgermeister ungefragt geduzt. Bei meinem Gegenüber handelte es sich nämlich um keinen Geringeren als den Landtagsabgeordneten Boris Palmer, der wenige Monate später zum Tübinger Rathauschef gewählt werden sollte. Warum ein atomarer Störfall, der sich in der Sowjetunion der 80er Jahre ereignet hatte, für einen Atomausstieg in Deutschland sprechen sollte, konnte Palmer mir nicht erklären. Glaubt er ernsthaft, dass sich die deutschen Reaktoren in einem ähnlich skandalösen Zustand befinden wie die sowjetischen Meiler vor 20 Jahren? Wohl kaum. Aber Furcht einflößen kann man den Leuten mit Tschernobyl allemal. Genauso wie man ihnen Angst einjagt vor der Gentechnik. Vor 25 Jahren malte man den Teufel in Gestalt des Computers an die Wand. Und erinnert sich eigentlich noch irgendjemand an das Waldsterben?

Neuerdings haben die Grünen auch Angst vor unterirdischen Bahnhöfen. Das ist absolut nachvollziehbar, wissen wir doch alle, dass man beispielsweise in Münchner U-Bahnstationen riskiert, von jungen Männern krankenhausreif geschlagen zu werden. Doch die Angst der Grünen hat andere Gründe. Das ganze Projekt sei zu teuer, meinen sie (möglicherweise zu recht); außerdem könne es nicht funktionieren: der neue, unterirdische Bahnhof sei in Wahrheit gar nicht dazu in der Lage, den wachsenden Zugverkehr zu bewältigen. Ob das stimmt oder nicht, kann ich beim besten Willen nicht beurteilen. Hier zeigt sich ein Grundproblem der modernen, hochtechnisierten Welt: mal ehrlich, die Frage, wie gefährlich Atomkraftwerke, Gentechnik oder der Klimawandel tatsächlich sind, können die meisten von uns nicht beantworten. Sie sind zu komplex. Also sind wir auf Experten angewiesen. Wirklich problematisch wird es dann, wenn Laien, die nicht in der Lage sind, ein Problem selbst intellektuell zu durchdringen, beginnen, den Experten zu misstrauen: bei den Stuttgarter Schlichtungsgesprächen behauptete Palmer etwa, dass es sich bei einem bestimmten Tunnel um eine Fehlplanung handle. Die Lokomotiven, die durch ihn durchfahren sollten, könnten ebendies nicht tun. Die von der Gegenseite aufgebotenen Ingenieure bestritten dies. Also stand Aussage gegen Aussage. Ich kann nicht sagen, wer recht hatte, aber ich frage mich: warum hätten die Ingenieure, Spezialisten auf ihrem Gebiet, den Tunnel falsch planen sollen? Vor allem aber: warum sollte ausgerechnet der Berufspolitiker Palmer den Fehler erkannt haben, während ausgewiesenen Fachleute ihn nicht bemerkt haben sollten?

In den „Schlichtungsgesprächen“ hat Palmer sich zum Wortführer der Gegner aufgeschwungen. Wie konnte es eigentlich dazu kommen? Warum darf ausgerechnet der Bürgermeister einer mittelgroßen Kreisstadt an einer solchen Runde teilnehmen? Im kommenden Frühjahr wird in Baden-Württemberg gewählt, umso unverständlicher ist es, dass Winfried Kretschmann, der Spitzenkandidat der Grünen, die Bühne der Schlichtungsgespräche nicht für sich nutzt. Nun, die Anti-Stuttgart-21-Welle könnte Kretschmann ins Amt des Ministerpräsidenten tragen. Und dann wird er seinen Anhängern erklären müssen, warum trotzdem weitergebaut wird. Verständlich also, dass er sich nicht allzu sehr als Gegner des Bauprojekts exponieren möchte.

Deutschlands Journalisten lieben die Grünen. Aufmüpfig und rebellisch seien sie, kritisch und unangepasst, ihr „gesundes Misstrauen“ hätten sie sich immer bewahrt. Ach, wenn es doch so wäre! In der Tat, Grund, den Mächtigen zu misstrauen, hatten die Bürger in den vergangenen Jahrzehnten mehr als genug: eine verfehlte Einwanderungspolitik, eine Währungsunion, die auf Dauer keinen Bestand haben kann, oder eine schleichende Aushöhlung der Demokratie durch die Verlagerung immer neuer Kompetenzen nach Brüssel. In all diesen Fragen hat die Grünen ihr angeborener antiautoritärer Riecher im Stich gelassen. Stattdessen schürten sie irrationale Ängste - und wurden dabei stärker und stärker. Es ist die Tyrannei des Besserwissers. 

Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/

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