Eine Aufforderung aus der Nachbarschaft zur gemeinsamen Busfahrt mit anschließender gemeinsamer Demonstration zur „Verteidigung der Demokratie“ befördert Gedanken zum Zustand des Landes.
Der Appell zur Abwehr der Gefahr von „rechts“, zur liebevollen Umarmung – „Hand und Hand“ – des Reichstags Anfang Februar, erreichte mich per zweimaliger Rundmail aus der Nachbarschaft. Ein besonders aktiver Aktivbürger ermunterte die Anwohner des Wohnviertels, sich trotz oder wegen des angekündigten Regens zur gemeinsamen Busfahrt zur Verteidigung der Demokratie am geschichtsträchtigen Ort zu versammeln. Die nachbarliche Animation zur Einübung demokratischer Reflexe samt Versprechen eines Gemeinschaftserlebnisses erweckte historische Assoziationen.
Zu DDR-Zeiten wurden die „Werktätigen“, inklusive der an Schreibtischen Tätigen, zu den hohen Festtagen des Arbeiter- und Bauernstaates aufgerufen, sich „massenhaft“ an den diversen Demonstrationen unter den stets gleichen Parolen – für den Weltfrieden, gegen den Imperialismus, für den Aufbau des Sozialismus, gegen den Faschismus und so weiter – zu beteiligen. Dies geschah regelmäßig zum Gedenktag für Rosa und Karl am 15. Januar, zum Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai, sodann zum Tag der Befreiung am 8. Mai, zuletzt am 7. Oktober 1989 zum 40. Jahrestag der DDR, abgesehen von der allerletzten Kampfdemonstration gegen den Faschismus zur Rettung der DDR am 3. Januar 1990 vor dem sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park.
Über die Details dieser Mobilisierung der Kampfbereitschaft wissen ältere Ex-DDRler besser Bescheid als ein jeglichem Massenauftrieb abholder Westbürger und Individualist, dem selbst ein Sommerkonzert in der Waldbühne unter Daniel Barenboim wegen des Massenandrangs an der S-Bahn-Station zuviel ist. Meines Wissens waren ehedem an den Arbeitsplätzen Gewerkschafts- und Parteifunktionäre für die Bereitstellung der Massen zuständig. Außerdem gab es in den Wohngebieten bzw. in den Miethäusern gewählte (!?) „Vertrauensmänner“ oder „-frauen“, die sich um Gemeinschaftsaufgaben wie Spielplätze, Sauberkeit und Ordnung, um staatsbürgerliche Gesinnung zu den Wahlen – bekannt als „Zettelfalten“ – sowie um das sozialistische Bewusstsein an den erwähnten Terminen zu kümmern hatten.
Einst ungestört von Pflichtveranstaltungen
In der verteidigungswerten freiheitlichen Demokratie lebt der Passivbürger – im Unterschied zu dem von der Zivilgesellschaft von selbstauferlegten Aufgaben täglich beanspruchten citoyen – ungestört von politischen Pflichtveranstaltungen. Zumindest war dies meine Vorstellung bis zu den „Demos“ der Kids, als die von ihren Lehrerinnen und Lehrern (m/w/d) an den Schulen angehalten wurden, an den „Fridays for Future“, unter Führerinnen wie Greta Thunberg und Luisa Neubauer, gegen das nahende Weltende zu protestieren. Sofern das Wetter mitspielte, waren die Schüler und -innen gerne bereit, in ihrer peer group gegen die Apokalypse fröhlich über die Straßen zu ziehen – und anschließend zu McDonald´s –, statt sich in den Klassenräumen mit Mathe, Latein, Bio und Powi (= Politik und Wirtschaft) zu langweilen.
Seit dem erst im Januar aufgedeckten „Geheimtreffen“ im November in Potsdam, wo Mitglieder der Werteunion (und bis dato auch noch der CDU) zusammen mit Protagonisten der AfD über einen Masterplan zum Umsturz unserer freiheitlichen Demokratie, zumindest zur Massendeportation von deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund beraten haben sollen, gehen die Massen in Deutschland wieder auf die Straße. Es gilt die Wiederkehr der Nazizeit zu verhindern. Klar, „nie wieder“ soll es ein zweites 1933 geben! Wer wollte derlei Warnungen in den Wind schlagen, wer wünschte sich schon eine Wiederkehr der braunen Pest? Vielleicht noch nicht einmal der AfD-„Flügel“ unter dem Flügelmann Höcke.
Nie Wieder? Das einzige, was sich in Deutschland von Zeit zu Zeit wiederholt, ist die Erregbarkeit von Deutschen, von „Massen“, besser von Bevölkerungsteilen, die vermeinen, die Komplexität des Politischen – der von Machtgebilden, Machtinteressen, Ideologien und Kontingenzen durchwirkten Wirklichkeit – mit der Reinheit ihres Herzens zu durchdringen und zu bezwingen. Emotionalität statt Rationalität.Was die vermeintliche Gefahr einer faschistischen Machtergreifung anno 2024 betrifft, so hilft gegen die endemische Anfälligkeit für nicht rationale Denk- und Verhaltensweisen, keineswegs die schlichte historische Einsicht, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Wir können – ex post – allenfalls gewisse Analogien - unter wechselnden historisch-politischen Konstellationen feststellen.
Politik von heute lässt sich – sinnvoll – nicht mit Parolen von gestern machen. Mit gestanzten Begriffen kommt man – in Genese und Zeitumständen – historisch von Grund auf verschiedenartigen Phänomenen nicht auf den Grund. Höcke ist kein Hitler (so wenig wie ein Saddam Hussein – oder ein Milosevic – einer war), Putin ist kein Stalin (auch wenn er ihn geschichtsideologisch aus der Versenkung holt), Trump ist kein lateinamerikanischer Diktator.
Land der Parallelgesellschaften
Eine NS-Machtergreifung steht in Deutschland nicht bevor. Was wir stattdessen erleben, ist der Aufstieg der AfD zu einer Partei mit plus/minus 20 Prozent Sympathiewerten in den Umfragen. In ihnen artikuliert sich der Unmut des „Volkes“, genauer: eines wachsenden Teils der Bevölkerung, über die - als alternativlos propagierten – Fehlentscheidungen der Regierung Merkel und deren Folgen sowie deren Fortsetzung unter der „Ampel“.
Noch einmal, auch wenn es die um das deutsche Seelenheil Besorgten nicht hören, nicht wissen wollen: Der Ausstieg aus der Kernenergie, der Ausbau der sogenannten „erneuerbaren Energien“, trieb die Stromkosten für Privathaushalte in unzumutbare Höhe, gefährdet die Existenz von Betrieben. Die massenhafte – nicht erst seit der Merkelschen Grenzöffnung 2015 einsetzende und entgegen allen Deklamationen anhaltende, unkontrollierte Einwanderung („Zuwanderung“) verweist – von den exorbitanten Kosten abgesehen – jegliche Rede von „Integration“ in den Bereich des Absurden.
Nicht zufällig ist der Begriff „Leitkultur“ in der unendlichen Integrationsdebatte verpönt. Er beinhaltet die Akzeptanz der historischen Last der NS-Vergangenheit für „die Deutschen“ – ein Kollektivbegriiff, der in derlei Kontext einen ethnisch-kulturellen Bezug hat. Der – gegen die „völkische“ AfD zielenden in mehreren Gerichtsurteilen festgehaltenen, von Verfassungsschützern wiederholt proklamierten – postnationalen Definition des Staatsvolkes als gleichsam „geschichtsfreier“, ethnisch-kulturell heterogener Gesellschaft liegt ein eklatanter Widersprch zugrunde. Wie wenig sich arabisch-islamische Einwanderer um die „deutsche“ Gedenkkultur scheren, beweisen die Demonstrationen gegen Israel auf deutschen Straßen. Dazu nooch als Episode: Bei der jüngsten „Demo gegen rechts“ wurde den Organisatoren empfohlen, den Demonstrationszug um das „Problemviertel“ Marxloh herzum zu lenken.
Die in den Parallegesellschaften, in Schulen, auf Straßen und Plätzen allenthalben sichtbare soziale Desintegration der Gesellschaft wird entweder tabuisiert oder als „rechte“ Panikmache geleugnet. Statt Fehlentwicklungen zu korrigieren, wird die deutsche Staatsbürgerschaft als politische Billigware gehandelt. Während Migration („Zuwanderung“) als ökonomische Notwendigkeit proklamiert wird, macht man sich keine Gedanken, warum alljährlich mehr als eine Million Ethnodeutscher – mit entsprechenden beruflichen Qualifikationen – das Land verlassen. Im Jahr der Wiedervereinigung 1990 zählte Deutschland 79 Millionen Einwohner. Anno 2024 sind es nach soeben veröffentlichter Statistik über 84 Millionen. Ein ökonomisch-sozialer Gewinn für das Land? Warum fehlen dann immer noch Hunderttausende von „Fachkräften“?
Wie lange ist die Mobilmachung zu halten?
Seit dem Abgang Merkels ist das Volk den aus Naivität und Ideologie erwachsenen Anmaßungen der „Ampel“ unter grüner Führung – Bundeskanzler Scholz fällt als Führungsfigur faktisch aus – ausgesetzt. Im Kern „grüne“ Konzepte werden zudem von einer bürokratischen Über-Regierung in Brüssel in die Form von „Richtlinien“ gebracht, die wiederum im Bundestag fast durchwegs ohne Widerspruch Gesetzeskraft erlangen.
Gegen diese Art von – als „demokratisch“ deklarierter – Machtausübung, die – unter immer höheren materiellen Belastungen – in alle Lebensbereiche – in die gewohnte Lebenswelt von Familie, Geschlecht, Beruf, Sprache, Erziehung, Bildung, Erholung, Stadt- und Landschaftsbild – hineinwirkt, opponierte – vor dem Auftritt Sahra Wagenknechts – als einzige politische Kraft im Land die AfD. Sie sammelt Stimmen all derer, die sich von den bis dato dominierenden Parteien nicht – oder nicht mehr – vertreten sehen. Man vergleiche die hohen Stimmenzahlen für die CDU in den östlichen Bundesländern von 1990 bis ca. 2010 mit den heutigen Umfragen und mit den wahrscheinlichen Wahlergebnissen im Wahljahr 2024.
Die Ablehnung der – allesamt mehr oder weniger „grün“ eingefärbten – Parteien ist nicht auf die AfD beschränkt, findet in deren spektakulärem Aufstieg seit der Bundestagswahl 2021 nur ihre politische Zuspitzung. Der Aufstieg der AfD bedeutet den Abstieg der anderen, zuvörderst der SPD, aber auch der CDU, FDP und der „Linken“. Er stellt vor allem die „grüne“ Hegemonie in Frage.
Zur Abwehr der unliebsamen Konkurrenz – und somit der Gefahr des Machtverlusts –bediente sich die classe politica über Jahre hin des Negativbegriffs „Populismus“. Da diese Formel zur Zurückdrängung der anwachsenden Missstimmung im Volk offenbar nicht mehr genügt, steigerte man seit Jahresbeginn die Kampfrhetorik gegen die AfD von „Rechtspopulismus“ zu „Rechtsextremismus“. Und: Zeitgleich mit den – gegen alle Evidenz – als „rechts“ klassifizierten israelfeindlichen Demonstrationen von Migranten begann die Mobilisierung des – als moralisch-demokratische Mehrheit („Wir sind mehr!“) umworbenen – Volkes.
Es bleibt abzuwarten, wie lange die Bereitschaft zur Mobilmachung gegen „rechts“ im Volk noch anhält. Zwei Dinge stehen bereits jetzt schon fest: Die Regierung macht keine Anstalten, nach einer ernsthaften Lösung der Probleme, welche die verpönte AfD hervorgbracht haben, zu suchen. Zweitens: Wenn es derartige Lösung(en) überhaupt noch geben sollte, ist es für deren Umsetzung mutmaßlich bereits zu spät. In derlei Krisenlage droht die wirkliche Gefahr für die Demokratie von Seiten eines autoritär werdenden Staates.
Der Appell zur Abwehr der Gefahr von „rechts“, zur liebevollen Umarmung – „Hand und Hand“ – des Reichstags am vergangenen Samstag, erreichte mich per zweimaliger Rundmail aus der Nachbarschaft. Über ähnliche Nachbarschaftshilfe berichtete mir ein guter Bekannter aus Münster. Was geschieht, wenn man sich der Einladung verweigert? Mutatis mutandis kann sich Geschichte eben doch wiederholen.
Herbert Ammon, geb. 1943 in Brieg (Schlesien), ist ein deutscher Publizist, Historiker, Studienrat a.D. Er engagierte sich in den 1980er in der damaligen Friedensbewegung, u.a. als Repräsentant des „Offenen Briefes“ des DDR-Regimekritikers Robert Havemann an den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew. 1981 zusammen mit Peter Brandt Herausgeber des Buches „Die Linke und die nationale Frage“. Mitgründer und Mitglied im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft e.V. zur Förderung politischer, kultureller und sozialer Beziehungen in Europa.