Peter Grimm / 21.03.2024 / 16:00 / Foto: Pixabay / 65 / Seite ausdrucken

Mit der Stadtverwaltung gegen die Freizügigkeit

Der Fall Sellner lehrt gerade, dass eine Stadtverwaltung über einen EU-Bürger ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für ganz Deutschland verhängen kann. Wie kann das in einem freiheitlichen Rechtsstaat möglich sein?

Die Stadt Potsdam hat dem bekannten österreichischen Remigrations-Theoretiker Martin Sellner ein Einreiseverbot für ganz Deutschland erteilt, und alle Medien berichteten prominent. Für manche Beobachter der Zeitläufte war – ganz unabhängig von der Person Martin Sellner – dabei aber bemerkenswert, dass im Europa der offenen Grenzen einem EU-Bürger der Grenzübertritt verboten werden kann, ohne dass er eine Straftat begangen hätte, ohne ordentlichen Gerichtsbeschluss, ohne Regierungs- oder Ministerialanordnung und auch ohne einen angeblichen Seuchenschutz wie in der Zeit der Corona-Ausnahmezustände. Es reicht offenbar der Bescheid eines städtischen Ausländeramts. Die Tagesschau berichtete am Dienstagnachmittag von einer entsprechenden Erklärung einer Sprecherin der Stadt Potsdam: „Wir können (…) bestätigen, dass die Landeshauptstadt Potsdam einen Bescheid zum Vollzug des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland an einen EU-Bürger versendet hat“. Der Betroffene sei zuvor angehört worden.

Nein, hier soll es nicht um die Anhörung des Betroffenen gehen. Egal um wen es geht, mutet es schon merkwürdig an, dass in einem freiheitlichen Rechtsstaat eine Kommunalbehörde einfach ein Einreiseverbot für das ganze Land verhängen kann. Dürfte eine andere Stadtverwaltung das wieder aufheben, wenn sie den anderswo Unerwünschten gern empfangen würde? Warum ist eine Kommunalbehörde überhaupt zu solch schwerwiegenden Anordnungen, die das Bundesgebiet betreffen, ermächtigt? Von der Stadt Potsdam wurde dies laut Tagesschau so erklärt:

Für die Verweigerung der Einreise freizügigkeitsberechtigter Unionsbürgerinnen und Unionsbürger sowie die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind laut Stadt die durch Landesrecht bestimmten Behörden zuständig. Das sind unter anderem die örtlichen Ausländerbehörden. Sind die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, könne in einer Kontrollsituation auch die Bundespolizei die Einreise im Rahmen von Grenzkontrollen verweigern. Nach Einreise nach Deutschland könne eine Person, gegen die ein Einreise- und Aufenthaltsverbot besteht, abgeschoben werden. Außerdem sei eine Einreise entgegen einem Verbot strafbar und könne strafrechtliche Konsequenzen haben, so die Stadt.“

Das Freizügigkeitsgesetz

Aber wenn in einer EU, in der doch offene Grenzen ein so hohes Gut sein sollen, eine Kommunalbehörde eine solche Beschränkung über einen EU-Bürger verhängen kann, dann müssen das doch eigentlich ganz schwerwiegende Gründe sein, oder? Die Stadt Potsdam beruft sich auf das Freizügigkeitsgesetz/EU. Nun findet man sich als Nicht-Jurist in so manchem Gesetzestext nicht ganz fehlerfrei zurecht. Aber glücklicherweise hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages vor einigen Jahren einmal eine kurze Ausarbeitung zum Einreiseverbot vorgelegt, in dem alles gut zusammengefasst ist, wenn auch vielleicht manchmal etwas zu trocken formuliert:

Gemäß Art. 21 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat jeder EU-Bürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Zu den damit geschützten Verhaltensweisen gehört auch die Einreise in andere Mitgliedstaaten. (…)

Allerdings kann nach § 6 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit auch einem EU-Bürger die Einreise verweigert werden, wobei ausdrücklich auf die europarechtlichen Grundlagen in Art. 45 Abs. 3 und Art. 52 Abs. 1 AEUV verwiesen wird. Durch den Verweis auf den AEUV wird klargestellt, dass es sich bei den Begriffen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit um gemeinschaftsrechtliche Begriffe handelt. Dementsprechend sind die Begriffe gemäß dem Unionsrecht und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EuGH zu bestimmen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG).

Auslegungssache

Festzuhalten ist zunächst, dass die Begriffe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit i.S.d. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU als Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit eng auszulegen sind. (…)

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die öffentliche Ordnung bei einer Verletzung innerstaatlicher Vorschriften betroffen, wobei eine „tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung“ (also eine Gefahr weiterer Rechtsverletzungen) vorliegen muss, „die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“. Eine hinreichend schwere Gefährdung ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn „gegenüber dem gleichen Verhalten, das von eigenen Staatsangehörigen ausgeht, keine Zwangsmaßnahmen oder andere tatsächlich effektive Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Verhaltens“ ergriffen werden.

Hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit hat der EuGH entschieden, dass sie sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaates erfasst. Der EuGH hat ferner entschieden, dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen das Schutzgut der öffentliche Sicherheit berühren können. Der EuGH hat jedoch klargestellt, dass daraus nicht folge, dass strafrechtliche Normen zum Schutz des Bürgers zwingend von dem Begriff der öffentlichen Sicherheit auszunehmen seien. Vielmehr könnten auch schwerwiegende Straftaten, die die Ruhe und Sicherheit der Bevölkerung bedrohen, unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit subsumiert werden. Entscheidend sei dabei, ob die Art und Weise der Begehung der Straftat besonders schwerwiegende Merkmale aufweise.

Die Auslegung des Begriffes der öffentlichen Sicherheit ist jedoch nicht abschließend geklärt.“

Die Demokratie muss das aushalten

Alles in allem macht dieser Text den Eindruck, als muss sich ein EU-Bürger zu einem ziemlich gefährlichen Individuum entwickelt haben, wenn man ihm ein Einreiseverbot erteilen darf. Der letzte Satz lädt allerdings wiederum zu großzügiger Auslegung ein.

Ist das bei Martin Sellner angemessen? Zur Begründung ihrer Maßnahme soll die Stadt Potsdam wieder einmal dieses angebliche Geheimtreffen herangezogen haben, von dessen ursprünglicher Darstellung die Macher dieser Geschichte vom Medienhaus Correctiv bereits schrittweise abrücken mussten. Und ist ein nichtöffentlicher Vortrag, der abgehört und dadurch erst bekannt wurde, wirklich geeignet, die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu begründen?

Daran zweifeln zu Recht auch Beobachter, die keinerlei Sympathien für Martin Sellner hegen, wie Zeit-Kommentator Christian Parth: „Sellner ist ein österreichischer Rechtsextremist, der in Deutschland und andernorts seine völkischen Gedanken verbreitet. Es ist nicht leicht, für jemanden Partei zu ergreifen, dessen Ansichten man kategorisch ablehnt und sie für verabscheuungswürdig hält. Aber genau das ist es, was ein demokratischer Staat, was eine Gesellschaft, deren Grundprinzip die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit sind, bis zu einem gewissen Grad aushalten muss. Ob Sellner diese Grenze überschritten hat, werden nun Gerichte entscheiden. Und das ist gut so. (…)

Ist dieses Mittel wirklich legitim?

Schon jetzt hat Sellner von der Berichterstattung über das Treffen in Potsdam stark profitiert. Vorher war er lediglich Kennern der rechten Szene in Deutschland geläufig, jetzt ist er zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Sein Buch über die von ihm geforderte Remigration stand im Februar zwischenzeitlich auf Platz eins der Amazon-Bestsellerliste, obwohl es noch gar nicht lieferbar war. Inzwischen ist es vergriffen. (…)

Sollte sich jetzt noch das Einreiseverbot als rechtswidrig erweisen, hätte sich Potsdams Willen, die Wirkmacht eines ausländischen Rechtsextremisten zu begrenzen, komplett ins Gegenteil verkehrt. Der Schaden wäre immens.“

Potsdams SPD-Oberbürgermeister Mike Schubert sind solche Gedanken offenbar fremd. Er hatte nach Medienberichten erklärt, mit der Entscheidung hätte man deutlich gemacht, dass der Staat gegenüber dem Rechtsextremismus nicht ohnmächtig wäre und seine legitimen Mittel nutze. Ist dieses Mittel wirklich legitim? Und wenn die Stadt Potsdam Einreiseverbote verhängen kann, könnten dann nicht auch Verantwortliche in der AfD-regierten Stadt Pirna oder im Landkreis Sonneberg auf die Idee kommen, jemandes Einreise nach Deutschland verbieten zu lassen, den sie für gefährlich halten? Aber vielleicht dürfen das die Kommunalbehörden nach dem Landesrecht in Sachsen und Thüringen gar nicht.

 

Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

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Franklin Meissner / 21.03.2024

Herrlich, wie Martin Sellner die Kommunistenhochburg Potsdam ans Bein gepinkelt hat. Weiter so! Es erheitert mich! Führe die Schießschartengesichter vor! Martin Sellner als Innenminister für Deutschland, könnte ich mir gut vorstellen!

Gottfried Meier / 21.03.2024

Was würde eigentlich passieren, wenn Herr Sellner trotzdem einreisen würde? Da kaum Grenzkontrollen stattfinden, wäre das leicht möglich. Würde er dann verhaftet und abgeschoben?

Michael Grieshaber / 21.03.2024

Gegen was bitte muss man sich denn wehren? Was kann Herr S. denn mit der Demokratie machen? Das, was die RAF für sich proklamierte? Denn Staat als Faschi-siewissenschon kenntlich machen? Ist das noch Dialektik oder schon Dekonstruktion der Dekonstruktion? Oder Willkür? Schweigen!

Dirk Freyling / 21.03.2024

Früher wäre es Faschismus gewesen, heute ist es deutscher Totalitarismus in »Reinstform«. ...Rot-Grün - das neuzeitliche Braun, hier in regionaler Ausführung für den Rest des Landes unter der Führung des SPD-Oberbürgermeisters der Stadt Potsdam …Doch wen kümmerts? Hand aufs Herz: Die meisten Menschen sind Zeit ihres Daseins auf einfachem Niveau unterwegs – Ego,  Nahrung, Fortpflanzung, Höhle, Feuer, in den jetzt üblichen Ausgestaltungsformen, nicht selten McDonalds, Kleinfamilie oder getrennt lebend, alleinerziehend, Mietwohnung, Eigenheim und Elektroherd. Und als Erweiterung/Konsequenz dessen akzeptieren sie ein strikt hierarchisches Gefüge. Dazu etwas Primaten-Gruppendynamik (ich will, dass ihr mich liebt und akzeptiert) und jede Menge emotionale Gutmenschen-Trigger und Bespielung (blutende Kinder in Aleppo = Putin + Assad sind böse, im Mittelmeer gerettete männliche Muslime = immer gut). Schnäppchen-Hormone werden in Radio und Zeitung aktiviert = kauf dich glücklich, was koche ich und wohin im Urlaub, welcher Herz-Schmerz- sowie Gewalt-Film läuft im Kino oder auf Netflix? Oder die Sehnsucht nach Berühmten. Wo steht sein Denkmal? Wer trinkt sein Badewasser? So ist der Durchschnitt mehr als genug beansprucht und beschäftigt. Das kapitalistische, hedonistische Konsum-System das Mehrwert nicht aus Bedarf, sondern aus immer neuen Bedürfnis-Reizen generieren will und generiert, ist eine ökonomisch-politische Zauber- und Versklavungsmaschine jener, die oben in der Spitze der Eliten-Pyramide residieren und die Menschenformel lautet wie eh und je: »divide et impera«. Käfig-Freiheiten des Neo-Liberalismus, wo, in Wahrheit, an jedem Köder-Happen eine Sklavenkette angebracht ist. Es wird keine nennenswerten Pro-Freiheit-Sellner Demonstrationen geben. 

L. Luhmann / 21.03.2024

L. Bauer / 21.03.2024 “Also in den 80-ern, 90-ern, da gab es noch ordentliche Rechtsextreme, denen hat man es auch angesehen, weil sie wert darauf legten. Und die hatten wenigstens noch ein deftiges Vokabular und Waffen. Dazu noch aktive Jagden auf Ausländer und deren Heime.”—- Sie können davon ausgehen, das im einen oder anderen Fall die Stasi ihre Finger im Spiel hatte, ganz besonders im ehemaligen DDR-Gebiet.

A. Ostrovsky / 21.03.2024

DuRöhre: “DIE AFFAIRE DREYFUS DER ANSCHLAG AUF DIE MENSCHENRECHTE” Es gibt Verschwörungen, nicht nur Theorien. Der Bauplan ist immer der gleiche.

Gerd Heinzelmann / 21.03.2024

Erinnern Sie sich an das Kleinod? Wenn ich Ihnen einen gewissen Vorsprung verschaffen konnte, dann nutzen Sie ihn bitte, lieber Herr Grimm. Spaß muß sein. Wer weiss, was morgen kommt. Sie sagte: Eines Tages wirst du verstehen. Sie saß nicht im Auto und ich auch nicht, trotzdem stand es zwischen uns. Die Grünen werden das nie verstehen. Was darf ich Ihnen wünschen, Herr Grimm, Hals und Beinbruch oder ein glückliches Leben?

Martin Bandulet / 21.03.2024

Sehr geehrter Herr Grimm, ich frage mich, ob die Stadtverwaltung Potsdam damit nicht die Büchse der Pandora geöffnet hat—was passiert denn, wenn dieses Beispiel von farblich dominierten Stadträten jeglicher Coleur Schule macht? Freundliche Grüße Martin Bandulet

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