Fundstück / 26.06.2012 / 13:48 / 0 / Seite ausdrucken

Migros, die Palästinenser und die liberalen Juden

Albrecht Lohrbächer aus Weinheim hat uns seinen Briefwechsel mit der Schweizer Migros zur Frage der Kennzeichnung von Produkten aus israelischen Siedlungen in palästinensischen Gebieten zur Verfügung gestellt.

Sehr geehrte Damen und Herren,
mit Erschrecken und Unverständnis nehme ich Ihren Boykott israelischer Waren, den Sie nur oberflächlich mit der Etikettierung verbergen, zur Kenntnis. Sie schaden damit wesentlich den Zehntausenden Palästinensern, die von der Arbeit für diese Produkte ihr festes Einkommen haben. Dass Migros, das ich seit Jahrzehnten schätze, sich einer unüberlegten Kampagne anschließt, hätte ich mir nie vorstellen können, weil ich Ihnen mehr Souveränität zugetraut hätte. Bei meinen vielen Besuchen in der Schweiz habe ich es nie versäumt, in einer Migros-Filiale einzukaufen. Dies werde ich garantiert nicht mehr tun, solange Sie sich zum Werkzeug einer politischen Kampagne machen lassen. Und ich werde auch alle meine Freunde darum bitten, sich diesem Migros-Boykott anzuschließen.
Albrecht Lohrbächer

Sehr geehrter Herr Lohrbächer
Vielen Dank für Ihr Schreiben zum Thema Deklaration von Waren aus israelischen Siedlungen. Unser Entscheid hat kontroverse Reaktionen ausgelöst, was wir verstehen. Wir schätzen es, dass Sie uns Gelegenheit geben, unsere Argumente aufzuzeigen.

Mit dem vorliegenden Fall setzt die Migros ihren Grundsatz nach möglichst transparenter Deklaration in einem weiteren Bereich um. Im Zeitalter der Globalisierung wächst dieses Bedürfnis – die einen Kunden sind ökologisch sensibilisiert, die andern politisch. Künftig erfahren die Konsumentinnen und Konsumenten, wenn ein Produkt aus einem Siedlungsgebiet von Israel stammt. Zum Beispiel „Westbank, israelisches Siedlungsgebiet“ – so werden die entsprechenden Waren gekennzeichnet. Bei den Lebensmitteln sind wir ohnehin gezwungen, die genaue Herkunft (Westjordanland) anzugeben.

Im Übrigen macht auch der Bund zollrechtlich einen Unterschied zwischen Produkten aus Israel und solchen aus den besetzten palästinensischen Gebieten. Das Freihandelsabkommen zwischen der EFTA, der die Schweiz angehört, und Israel beschränkt sich auf die völkerrechtlich anerkannten Grenzen Israels. Für Erzeugnisse aus den Siedlungen besteht hingegen kein Anspruch auf präferenzielle Zollbehandlung.

Wir versichern Ihnen, dass wir in ähnlich gelagerten Fällen unsere Herkunftsdeklaration nach genauer Analyse ebenfalls präzisieren würden, falls wir entsprechende Produkte in unserem Sortiment führen sollten.

Die internationale Gemeinschaft und mit ihr die Schweiz anerkennen das besetzte palästinensische Gebiet einschliesslich der Siedlungen nicht als israelisches Territorium. Als Depositärstaat der Genfer Konvention achtet die Schweiz besonders auf die Erhaltung internationalen Rechts. Mit dem Entscheid für eine differenzierte Deklaration, die auch nach Gesprächen mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft gefällt worden ist, vollzieht die Migros sozusagen die offizielle Schweizer Politik nach.

Die Migros hat frei entschieden – in der Überzeugung, dass man sich dieser Frage stellen muss, wobei mit verschiedenen Organisationen Gespräche geführt worden sind. Inzwischen haben swohl Palästinenser als auch liberale Juden unseren Deklarationsentscheid begrüsst. Gemäss diesen Feedbacks kann man den langfristigen wirtschaftlichen Nutzen der Arbeitsplätze in den Siedlungen, insbesondere für die Palästinenser, in Frage stellen.

Bitte beachten Sie: Die Migros plant mit diesem Entscheid keinen Boykott israelischer Produkte! Wir führen Produkte aus Israel in unserem Sortiment und werden dies auch künftig in gleichem Umfang wie bisher tun.

Zu Ihrer Information schicken wir Ihnen mit diesem Mail einen Artikel aus der NZZ, der letzte Woche erschienen ist. 
Freundliche Grüsse
Gabi Buchwalder
Projektleiterin/Content Managerin

Sehr geehrte Frau Buchwalder,
ich schätze sehr, dass Sie schnell und überhaupt reagiert haben!

Kein Verständnis habe ich allerdings für Ihre Argumentation - bis dato hatte ich mir nicht vorstellen können, dass ein Unternehmen von der Größe von Migros Maßnahmen gegen einen Staat ergreift, die so sehr der rechtlichen Grundlage entbehren und so vorurteilsbehaftet sind. Können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass Sie als internationales Unternehmen sich gegen einen anderen Staat solche Maßnahmen leisten können?  Was tun Sie denn z.B. gegen Waren aus China, die aus einem Land kommen, das Menschenrechte mit Füßen tritt, das Tibet widerrechtlich besetzt hält usw.? Im Blick auf nicht wenige Länder könnte ich solche Argumente vorbringen. Riecht deswegen Ihr Boykott - darauf läuft es doch hinaus! - nicht irgendwie doch nach Judenboykott?

Erlauben Sie mir einige weitere Beobachtungen zu Ihren Argumenten:

Es ist interessant, dass sich ein Handelsunternehmen wie das Ihre völkerrechtliche Entscheidungen anmaßt - völkerrechtlich waren die Gebiete immer ‘besetzt’, nie palästinensisch regiert oder können Sie mich da eines Besseren belehren? Warum gab es keinen Protest/Boykott gegen die international geächtete jordanische ‘Besetzung’ von 1948/49 - bis 1967? Es handelt sich um Gebiete, die verhandelbar, aber nicht im völkerrechtlichen Sinne besetzt sind; sie wurden nie einem anderen Staat weggenommen und besetzt. Oder habe ich da etwas verschlafen?
Aber Migros weiß es offensichtlich besser, schreibt die Geschichte und das Recht um…!

Warum boykottieren/kennzeichnen Sie nicht alle die Waren, die aus 1948 (!!) ‘besetzten’ Gebieten kommen? Immerhin hat der EuGH 2010 gemeint, Israel noch kleiner machen zu dürfen, nämlich in die Grenzen vom UNO-Beschluss 1947 zurückführen zu müssen (Urteil im Soda-Prozess). So bleiben Sie in Ihrem Beschluss höchst inkonsequent und setzen sich dem Verdacht aus, den heutigen jüdischen Staat einfach wirtschaftlich treffen zu wollen.

Dazu kommt, was Ihnen sicher entgangen ist, dass Israel bis heute als Staat keine gesicherten Grenzen hat; alle Außengrenzen sind Linien entsprechend den Ergebnissen von Waffenstillstandsverhandlungen. Wenn Sie Waren aus welchen Gebieten auch immer kennzeichnen, legen Sie Linien zugrunde, die völlig willkürlich sind. Ist das eine Rechtsgrundlage, um festzulegen, was “besetzt” ist und was nicht??? Merken Sie nicht, welche Willkür in Ihrem Hause bei diesem Plan herrscht?

Merkwürdig, dass die Berufung auf das Handelsabkommen mit der EFTA erst jetzt relevant wird, obwohl es die EFTA und das Abkommen schon seit 1993 gibt. Was bestimmte zu diesem Zeitpunkt Ihren Beschluss, mit Sicherheit doch nicht die EFTA-Verträge, nachdem diese seit vielen Jahren ohne solche Ausschlussmaßnahmen in Kraft sind?

Nach allem ist die vorgesehene Kennzeichnung darum doch ein Boykott israelischer Produkte, weil die Unterscheidung nie und nimmer greifen wird.

Und ich bleibe dabei: Mit ihrem Vorgehen treffen Sie mehr noch die Palästinenser als die jüdischen Israelis. Sie gefährden Zehntausende von Arbeitsplätzen! Aber wenn es gegen den Judenstaat geht, sind solche Kollateralschäden in Kauf zu nehmen!

Sie sprechen von “liberalen Juden”, die Ihnen offenbar lieber sind als gesetztestreue. Das ist Diskriminierung pur, steht das Migros an? Abgesehen davon, es gibt viele gesetzestreue Juden, die Probleme mit der israelischen Politik haben, wie erklären Sie denen Ihre Diskriminierung? Ich werde mir erlauben, diesen Briefwechsel an solche in der Schweiz und in Israel weiterzuleiten. Mal sehen, welche Reaktionen Sie dann bekommen.

Sie berufen sich ausgerechnet auf Abraham Burg (NZZ);  dass der inzwischen einen Feldzug gegen sein Land führt, ist bedauerlich, aber Teil demokratischer Freiheit. Aber dass Sie sich ausgerechnet auf Menschen mit linker Gesinnung berufen, dass Sie linke Politagitatoren ins Feld führen, ist für ein Unternehmen wie das Ihre außergewöhnlich. Aber, wenn es Israel betrifft, sind alle Koalitionen möglich.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie die noch verfügbare Zeit zum rationalen Nachdenken nutzen und nicht weiter sich dem Verdacht aussetzen, judenfeindliche Unternehmenspolitik zu machen. Sie können versichert sein, dass ich alles tun werde, um möglichst vielen Menschen Ihre rechtlich unhaltbare Argumentation und Ihr darum nicht hinzunehmendes Verhalten bekannt zu machen.

Albrecht Lohrbächer

Sehr geehrter Herr Lohrbächer
Vielen Dank für Ihr neuerliches Schreiben. Erlauben Sie mir bitte, auf einige Ihrer Aussagen zu reagieren.

Zunächst zu China: Die Migros führt keine Produkte aus Tibet in ihrem Sortiment. Falls dies der Fall wäre, würden wir dies ähnlich deklarieren wie im Fall der Siedlungen Israels. Sie haben aber Recht: In unserem Sortiment finden sich Produkte aus Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen geschehen.  Als Unterzeichner des UN Global Compact und als Mitglied der Business Social Compliance Initiative sorgen wir aber dafür, dass zumindest in unserer Lieferkette solches nicht geschieht. Denn diese beiden Massnahmen sorgen für faire Lieferantenbeziehungen, verbieten beispielsweise Kinderarbeit und legen hohe Ansprüche an das Arbeitsrecht. Die Einhaltung der geforderten Standards wird von unabhängigen Zertifizierungsstellen überprüft.

Dem Artikel von Avraham Burg können Sie entnehmen, dass wir nicht das einzige Unternehmen sind, das sich für eine präzisere Deklaration entschieden hat. Auch englische Supermarktketten halten sich daran – auf Empfehlung ihrer Regierung.

Wir haben Ihnen klar gesagt, dass wir israelische Produkte NICHT boykottieren, sondern dass diese in gleichem Umfang weiter bei uns zu kaufen sind. Bitte nehmen Sie dies zur Kenntnis.

Bezüglich der Beurteilung eines Verstosses gegen das Völkerrecht halten wir uns an die Aussagen des Bundes. Falls Sie mit dessen Politik nicht zufrieden sind, bitten wir Sie, sich direkt an die entsprechenden Stellen zu wenden.

Zu Ihrer Information teile ich Ihnen mit, dass sich die Migros verschiedenen Organisationen beider Seiten trifft, wie etwa in Kürze mit der Gesellschaft Schweiz-Israel.

Mit diesem Mail möchte ich unseren Briefverkehr abschliessen. Ich denke nicht, dass ich Ihnen noch weitere für Sie relevante Informationen liefern kann.
Freundliche Grüsse
Gabi Buchwalder
Projektleiterin/Content Managerin

Sehr geehrte Frau Buchwalder,
Sie hätten eigentlich allen Grund, Kunden nicht schulmeisterlich zu behandeln (“wir haben Ihnen klar gesagt…/ “bitte nehmen Sie das zur Kenntnis”). Entlarvend, wer so schreibt, hat keine Argumente mehr - so geht es in der schlechten Schule immer zu. Hätte Ihrem Unternehmen mehr Contenance zugetraut.

Sie haben auf meine inhaltlich gut begründeten Argumente keine wirklichen Gegenargumente, darum müssen Sie sich auf linke Agitatoren wie Burg und auf England berufen, als ob Sie nicht selbst für Ihre Handlungen verantwortlich wären. Das haben wir doch in der Nazizeit gelernt, dass das, was andere tun (und wenn es die meisten sind) nicht deswegen richtiger ist. Darum ist Ihr Verweis auf andere ein recht hilfloser Versuch, etwas zu rechtfertigen, was nicht wirklich zu rechtfertigen ist.

Zumindest für das Umfeld deutscher Migrosgeschäfte sehe ich jetzt noch mehr Chancen, Ihren Versuch, israelische Waren zu boykottieren und damit auch Palästinenser zu schädigen, mit noch mehr Nachdruck bekannt zu machen. Weinheim liegt übrigens im Umfeld von Ludwigshafen.

Ich beende hiermit gleichermaßen meinen vergeblichen Versuch, Sie zum Nachdenken anzuregen.

Albrecht Lohrbächer

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