Peter Grimm / 21.10.2022 / 10:44 / Foto: U.S. Department of State / 37 / Seite ausdrucken

Mehr Rücktritte wagen

Liz Truss hat sich nach rekordkurzer Amtszeit in den Londoner Rücktritts-Reigen eingereiht. In Deutschland kann so etwas nicht passieren. Warum eigentlich nicht? 

Wie sich die Briten 2016 in einem Referendum mehrheitlich dafür entscheiden konnten, die EU zu verlassen, können etliche deutsche Medienschaffende einfach immer noch nicht verwinden. Die pflegen seither eine Sicht auf Britanniens Politik, nach der quasi alles, was dort nicht gut läuft, letztendlich auch immer mit dem Brexit zu tun hat. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich eine solche Sicht nun in manchen Kommentaren zum Rücktritt von Liz Truss, der Premierministerin mit der wohl kürzesten Amtszeit, seit es dieses Amt gibt, wiederfindet.

„Wie sich die Briten zum Gespött Europas machen“, überschreibt spiegel.de einen Rücktritts-Bericht. „Wann kommen die Briten zur Vernunft?“, betitelt das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) seinen Kommentar

Nun ist es in der Tat ein schwer nachvollziehbares politisches Chaos, in die das Top-Personal der Konservativen Regierung und Land gerade stürzen. Und für die britischen Bürger ist das in diesen Krisenzeiten mit Sicherheit alles andere als lustig. Über deren Stimmungslagen würde ich gern mehr lesen, hören und sehen, um sie vielleicht einschätzen zu können, aber dafür bekomme ich zumindest in meiner Muttersprache keine hinreichende Informationsgrundlage. 

Erschüttern Rücktritte die Deutschen besonders?

Dafür erfahre ich, dass sich die Briten „zum Gespött Europas machen“. Vielleicht liege ich vollkommen falsch, was Europas Spötter betrifft, aber mein Eindruck ist, dass unsere EU-Partner aktuell mehr wegen deutscher Energie-Alleingänge als wegen eines erneuten britischen Regierungswechsels beunruhigt sind. Zumal möglicherweise mit Boris Johnson wieder ein alter Bekannter in Downing Street 10 einzieht, mit dem umzugehen das politische Spitzenpersonal in Europa bereits lernen konnte.

Natürlich ist ein Rücktritt immer eine politische Erschütterung, doch wenn man in deutschen Kommentarspalten liest, dann scheint den germanischen homo politicus das unfreiwillig-freiwillige Aus-dem-Amt-Scheiden einer Führungskraft ganz besonders zu beunruhigen. Vielleicht ist das die Folge, wenn ein Land – zumindest dessen West-Teil – in 39 Jahren (1982–2021, Anm. d. Red.) nur drei Regierungschefs hatte. Da verlernt man vielleicht, dass das Abtreten einer gescheiterten Regierung zur Normalität in der Demokratie gehört.

Sicherlich ist ein solcher Rücktritt nach sechs Wochen nicht so normal, aber wenn sich eine Führungskraft schon innerhalb der Probezeit als nicht hinreichend befähigt erweist, dann ist es doch besser, sie räumt den Posten auch früher als später, oder? Dieser Gedanke scheint hierzulande allerdings nicht so weit verbreitet zu sein. Eher das, was beispielsweise der RND-Kommentator schreibt:

„Die frappierend unfähige Premierministerin Liz Truss hat nicht nur sich selbst blamiert und auch nicht nur ihr Land. Es geht auch um die Demokratie als solche: Ist eines der Mutterländer von Freiheit und Parlamentarismus nicht mehr in der Lage, vernünftiges Personal für die Regierung aufzustellen?“

Ich fühle mich nicht hinreichend kompetent, hier öffentlich zu bewerten, wie es in Britanniens politischer Klasse um „vernünftiges Personal“ bestellt ist. Aber die Frage, ob das Land nicht mehr in der Lage ist „vernünftiges Personal für die Regierung aufzustellen“ drängt sich dafür umso mehr im eigenen Lande auf. Es gibt etliche Mitglieder der Bundesregierung, die – um es ganz höflich zu formulieren – von den Anforderungen, denen sie derzeit in ihrem Amt genügen müssten, sichtlich überfordert sind. 

Der Traum vom Mehrheitswahlrecht

Doch sie müssen nicht zurücktreten. Sie können sich sicher sein, dass ihnen kaum ein Abgeordneter der Regierungsparteien die Gefolgschaft versagt. Das deutsche politische System gibt den Parteiapparaten einfach zu viel Macht, als dass sich Abgeordnete in relevanter Zahl ein abweichendes Stimmverhalten glauben leisten zu können. Im deutschen Wahlrecht ist entscheidend, welche Partei gewählt wird und nicht welcher Abgeordnete.

In einem Mehrheitswahlrecht, wie in Britannien, wird im Wahlkreis der Abgeordnete gewählt, der zwar auch einer Partei angehören mag, aber nicht immer wegen, sondern manchmal auch trotz seiner Parteizugehörigkeit gewählt wird. Das macht nun einmal unabhängiger von Parteiapparaten, weshalb auch eine Premierministerin ihre Mehrheit bei Verfehlungen ganz schnell verlieren kann und gehen muss.

Das ist keine Krise der Demokratie, es ist Demokratie. Es ist lediglich eine Regierungskrise, wenn natürlich auch eine heftige. Doch es ist besser, gescheitertes Personal wird ausgewechselt, um vielleicht befähigteres Personal ins Amt zu bekommen, als dass um einer vermeintlichen Stabilität willen angeschlagene Amtsträger auf dem Posten verweilen. Wie man gerade an Boris Johnson sieht, muss ein solcher Rücktritt ja auch nicht zwingend das Ende einer politischen Laufbahn sein. Insofern sind die Chancen der Briten, dass sie mittelfristig eine halbwegs krisenkompetente Regierung bekommen, wahrscheinlich größer als die der Deutschen.

„Mehr Demokratie wagen“, hatte Willy Brandt einst gesagt. Das Mehrheitswahlrecht wäre ein Schritt hin zu mehr Demokratie. Das hieße dann aber wohl auch: „Mehr Rücktritte wagen“.

Foto: U.S. Department of State

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Leserpost

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Marcel Seiler / 21.10.2022

Deutsche haben eine Autoritätskomplex: Sie sind enorm auf ihre Autoritäten fixiert, die sie einerseits lieben und anhimmeln und auf der anderen Seite kritisieren und bekämpfen. Da wird das Versagen der englischen Premierministerin zum Drama in der deutschen Seele. Vielleicht besonders deswegen, weil eine Kritik an den deutschen Regierungen nicht stattfindet.

Claudius Pappe / 21.10.2022

Das ist doch die Schwester der Nancy ! ....Also Nancy machs wie deine Schwester….........Hau ab !

Benedikt Diller / 21.10.2022

Sehr geehrter Herr Grimm, wie kommen Sie auf die Idee, dass die alte Bundesrepublik vor 1989 nur drei Regierungschefs gehabt hätte, wo es doch in Wirklichkeit sechs gewesen sind? (Anm. d. Red.: Das bezieht sich auf den Zeitraum 1982–2021)

H.Milde / 21.10.2022

Vllt. wäre Ex-PM Truss besser mit dem D€utschen Wesen genesen? Man sehe sich nur die Standfestigkeit unserer besten Politiker des besten D€utschland das es bisher gab , an: 1.) Olaf CumEx-Scholz, trotz Amnesieanfällen bei Finanzmafiabegünstigungen weiterhin beliebtester KanzlerInnennachfolger 2.) Weingeniesser-aber-salzlos-glücklich-Lauterbach, immer wieder verhaltensoriginell und wissenschaftlich stets wandlungsfähig iS. der weltgesundheitsrettenden BigToxPharma, 3.) “Kulturbeauftragte” Claudia Hi5-Roth, zu Holocaust-2.0-planer genauso buntfreundlich wie zu Israel, 4.) Außenfeminsterin Annalena Kreativ-CV Bärbock, immer für ein paar lustige Neologismen iS ihrer GRÜNEN Ideologie, gut, 5.) Robert Es-gibt-kein-deutsches-Volk-deshalb-auch-kein-Verrat-an-ihm-Habeck, auch berühmt für sein in Märchenprosa gefasstes Vorhaben “Als es still und dunkel wurde” in D€tuschland, 6.) Christian Besser-nicht-reGIERen-als-schlecht-reGIERen-Lindner, und seine Riesensause auf Sylt, bei gleichzeitig von ihm gepredigten “Wohlstandsanpassungen für die St€uerheloten ua. wegen “Sondervermögensbildungen” durch ihn selbst & Komplizen, uvvam…....

Harald Wellmann / 21.10.2022

Das Mehrheitswahlrecht bedeutet, dass kleinere Parteien kaum eine Chance haben, im Parlament vertreten zu sein. Ich kann nicht erkennen, warum das ein Schritt in Richtung mehr Demokratie sein soll.

Ludwig Luhmann / 21.10.2022

Liz Truss ist genau wie BoJo ein Mitglied:In des WEF. Wohin man auch schaut, überall hat Nazisohn Klaus Schwab seine Leute die Parlemente der Welt “penetrieren” lassen. Unsere Demokratien waren niemals Demokratien. Solange wir nach der Pfeife der wirklich Mächtigen tanzen, weren wir niemals in Freiheit leben. Unsere sog. “Menschenwürde” soll angeblcih “unantastbar” sein. Das ist völliger Bullshit! Unsere Menschenwürde - was immer es auch ist - wird ganz besonders vom sog. “Staat” ständig und überall angetastet. Wer das in den letzten 30 Monaten nicht gemerkt oder verstanden hat, hat noch einen langen Weg voller Überraschungen vor sich ...  ... Links, rechts, schwarzrotgelbgrünblau… alles völlig unwichtig. Relevant ist das nur für uns Massenversuchsuntermenschen. Wir glauben an die Märchen, Wahrheiten, Halbwahrheiten und kleinen und großen Lügen, die die Mächtigen uns seit Generationen füttern. ...

Frank Bitterhof / 21.10.2022

Dann sollte Herr Habeck den Anfang machen, insbesondere nach seinem jüngsten Tabubruch. Ich zumindest finde es unmöglich und voll daneben, sich des offiziellen Twitter-Accounts des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zu bedienen, um sich über den Rücktritt der britischen Regierungschefin lustig zu machen (“Can’t Truss it”). Takt- und instinktlos von jemandem, der versucht hat, sich als Staatsmann internationalen Ranges zu etablieren. Auf die britische Reaktion bin ich sehr gespannt.

Paul Siemons / 21.10.2022

Aber warum sollte in Deutschland ein Politikx zurück treten? Haben wir doch die klügsten, gebildetsten und ausschließlich am Wohle des Volkes (manche sagen, der ganzen Welt) orientierten Aktivistx in der Regierung und den sie stützenden Parteien und NGO, die es jemals gegeben hat! Jawoll ja!

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