Kultur-Kompass: „Der Betroffenheitskult“

„Und täglich grüßt das Murmeltier“: Der Kampf gegen „rechts“, Gefühle vor Fakten und die Angst vor einer drohenden Apokalypse. Es ist immer wieder dasselbe in unserer Gesellschaft. Sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen. Die Form ändert sich, aber der inhaltliche Kern bleibt gleich. Gewissermaßen befinden wir uns in einer ideologischen Dauerschleife.

Das wird hervorragend ersichtlich, wenn man sich abermals „Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte“ von Cora Stephan aus dem Jahre 1993 widmet. Obwohl Stephans Analysen fast dreißig Jahre alt sind, haben diese kaum an Aktualität eingebüßt. Zudem ist es heutzutage nicht so leicht eine populärwissenschaftliche Analyse auf diesem Niveau zu finden. Ganz obendrein eine, die allein aus der Feder des genannten Autors stammt. Ganz ohne Unterstützung eines Ghostwriters.

So präsentiert Stephan auf fast 200 Seiten, die sich in vier Kapitel aufteilen, nahezu eine Gesellschaftsanalyse des „Betroffenheitskultes“. Indem sie sich der Sentimentalisierung deutscher Politik widmet und einen Schnelldurchlauf durch die Jahre von 1986 bis 1989 in Deutschland vornimmt, präsentiert sie dem Leser gleich die Ursachen für typisch deutsche Untugenden. Vom ausgeprägten Gemeinschaftssinn bis hin zum gesinnungstreuen Denken und Handeln. Hierbei dürfen natürlich nicht der Rekurs auf soziologische Klassiker, wie Norbert Elias und Helmuth Plessner, fehlen.

Mit diesen Klassikern, und mit eigenen Beobachtungen im Gepäck, begibt sich Stephan in die Zeit des Ersten Golfkrieges. Dort widmet sie sich der beginnenden Sentimentalisierung sowie Politisierung in der deutschen Gesellschaft. Schon damals galt: „Daß Politiker nicht tun, was und wie sie sollen […].“ Oder: „Heute gelten umgekehrt Argument und Sachverhalt als das Obszöne: als Gefühlskälte, als vorgeschobenes Argument, als uneigentlich.“ Oder: „Man müsse Deutschland beständig unter der Quarantäne einer benevolenten Erziehungsdiktatur halten.“ Eigentlich wie heute. Es fehlen nur noch das Comeback der Schulterpolster, die Vokuhila-Frisur und ein Remake von Nenas „99 Luftballons“. Dann heißt es endgültig: „Welcome 80s“.

Skepsis gegenüber westlichen Werten

Hieran anschließend beschäftigt sich Stephan mit dem Zeitraum 1968 bis 1989. Hier zeigt sie, pointiert und sachkundig, woher Demokratieskepsis, Opferolympiade und eine „identifikatorischen Moral“ entstammen: Bereits nach der Neugründung der Bundesrepublik Deutschland herrschte eine weit verbreitete Skepsis gegenüber westlichen Werten, bei gleichzeitiger Sympathie für das sozialistische System der Deutschen Demokratischen Republik. Von ihren neuen emanzipatorischen Aufgaben überforderte Frauen (Hausfrau, Mutter und Zuverdienerin oder Verdienerin) klagten das Patriarchat an. Und „[die] identifikatorische Moral trägt zum Gefühl der Überlastung des Bürgers bei, der seine Seele mit allem Elend der Welt beladen wähnt.“

Die Fortsetzung und Steigerung dieser Einstellungen und Mentalitäten zeigt sich uns heutzutage nur allzu deutlich in Schlagworten wie „toxische Männlichkeit“, „Kampf gegen ‚rechts‘“ oder „Vielfalt“. Eben das verdeutliche, nach Stephan, ein „zu wenig am demokratischen Empfinden“, und bringt sie zum nächsten Thema ihres Buches. Dem deutschen Selbstverständnis.

Ihre Diagnose: Deutschland leide an einem nationalen Defizit. Zumindest der Westen Deutschlands. Während sich die DDR als legitime Nachfolgerin der „deutschen Kulturnation“ betrachtete, fehlte es der BRD an nationaler Identität. Dieses Vakuum füllten Anti-Faschismus, ein ideologischer Pazifismus und ein mit Ressentiments behafteter Anti-Amerikanismus, die sich alle gemeinsam in einem entgrenzten „Betroffenheitskult“ äußerten. Seit damals hat sich wenig geändert.

Wer somit die heutigen Entwicklungen, und den „Betroffenheitskult“, besser verstehen möchte, sollte unbedingt zur Lektüre greifen. Leicht verständlich und strukturiert bereitet Stephan dort komplexe Sachverhalte auf. Es ist Lesefreude pur, und zeigt: Alles bleibt irgendwie gleich. Um mit den Worten Stephans abzuschließen: „Und so sind und bleiben wir das Land, in dem die Sentimentalitäten bleiben: Politiker haben Gefühle, und Bürger sind betroffen“. Heißt es also auf ewig in Deutschland „Und täglich grüßt das Murmeltier“?

Stephan, Cora (1993). „Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte“. Berlin: Rowohlt.

Foto: Deborah Ryszka

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Leserpost

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Helmut Driesel / 21.08.2022

  Ich kann nicht sagen, was mich heimlich davon überzeugt sein lässt, “der Autor” sei im tiefen Inneren eine Autorin, eine Altlinke obendrein. Dafür, wie das Bedürfnis nach Kult zustande kommt, ist doch der Prof. Wolf zuständig. Kult ist der evolutionäre Einstieg in die Kultur. Es ist beileibe nichts, was dem Menschen mit seinem hoch entwickelten Gehirn vorbehalten ist. Jahrelang habe ich gewöhnliche Ameisen bei kultartigen Bestattungsprozeduren beobachtet, wie sie ihre Verstorbenen an einen bestimmten Ort schleppen. Meterweit, oft in die Nähe zu Spalten oder Löchern, die in die Tiefe der häuslichen Fundamente führen, aus denen in der Nacht gespenstige Kleinlebewesen heraufsteigen, Spinnen, Tausendfüßler, Staubläuse, Asseln, das große Krabbeln sozusagen, um die Leichen zu beseitigen oder die letzten nährenden Bestandteile aus ihnen heraus zu saugen. Manche von den Bestatter-Ameisen klettern dazu mit der Leiche huckepack 20cm an einer senkrechten Steinwand nach oben, um den Körper in die dort befindlichen, kaum sichtbaren Gewebe von kleinen Spinnen einzuhängen. Das ist, wenn man sich in die Perspektive der kleinen Tiere hineindenkt, eine gewaltige Anstrengung. Auf diesen Friedhöfen der Ameisen liegen hunderte solche tote Körper und die Reste davon. Ich habe mich oft gefragt, warum tun die Tiere das, welchen Sinn könnte es haben? Ich vermute, dieser Kult verhindert, dass Leichen von toten Ameisen im Ameisenbau die Vertilger dieser Reste anlocken. Ich nenne es Kult, weil die Kulte der Menschen letztlich auch nur selten für logische Erklärungsversuche taugen. Wer am Kult teilhat, er gehört auch zur Gemeinschaft, wer über den Bischof mit seinem Räuchertopf lacht, der gehört nicht dazu, so einfach ist es. Andere Interessierte haben sicher noch andere Beispiele.

Joseph Pater / 21.08.2022

Cora Stephans “Betroffenheitskult” steht hier seit 1993 – immer wieder mal gelesen – im Regal, neben anderen kritischen Titeln (u. a. Groth: “Die Diktatur der Guten”). — Das Frustrierende ist, daß kaum etwas von dem, was wir heute erleben, sich nicht schon vor Jahrzehnten angekündigt hätte. Nur ist die Masse derer, die es wollen oder tolerieren, einfach zu groß zur Abwehr des Unheils.

W.Schneider / 21.08.2022

Ich kann es nicht mehr sagen, bei wem ich es gelesen habe, ich zitiere es dennoch: Wer mit 20 nicht links ist, hat kein Herz, wer mit 40 noch links ist, hat keinen Verstand. Wir wollen, sollen nicht erwachsen werden.

Werner Arning / 21.08.2022

Die 68er und dann die Grünen der 80er beklagten das Fehlen von Empathie in der Politik und innerhalb der Gesellschaft ganz allgemein. Diese Empathie, sie ist mittlerweile angekommen. Und das mit Zuschlag, man könnte meinen, überproportioniert. Sie ist mehr als nur salonfähig geworden. Wenn es nicht mit Gefühl zugeht, zählt es nicht. Gefühle über alles. Ich lieb dich und du liebst mich. Rationalität? Von gestern. Total rechts. Vollkommen ewiggestrig. Flower-Power allgegenwärtig. Lass uns kuscheln. In Gesellschaft und Politik. Zumindest auf der Oberfläche. Fürs Gemüt. Was hinter dem Vorhang passiert, darüber reden wir nicht. Ach, ich bin so betroffen …

Peter Volgnandt / 21.08.2022

Mit dem Betroffenheitskult kann man ja so wunderschön uns Europäern das Geld aus der Tasche ziehen. Stichwort Unterentwickelte Länder: diese führen diesen Zustand immer noch auf den Kolonialismus zurück, hatten sie den nicht 50 -60 Jahre Zeit sich zu entwickeln, ihre politischen Systeme in Ordnung bringen. Stichwort Klimaflüchtlinge: Redet da irgendeiner mal über die exorbitant hohe Geburtenrate in gewissen Ländern? Die jungen Leute sind ja regelrecht gezwungen auszuwandern, haben doch in ihren Heimatländern keine Chance einen Job zu kriegen.

Patrick Meiser / 21.08.2022

Ich kenne zwar das Buch “Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte”” nicht, aber der Diagnose der Autorin C.Stephan stimme ich zu und kann mich sogar tlw. damit identifizieren. Ich bin gegen Krieg, gegen Faschismus und gegen die Dauerbesetzung unseres Landes durch “angebliche Freunde” - nur betroffen bin ich nicht. Dies hat aber nichts mit Gleichgültigkeit oder Gefühlskälte zu tun, sondern ist mehr der Erfahrung einiger Lebensjahrzehnte geschuldet. Das beste Beispiel zeigten die von der Flut betroffenen Bewohner des Ahrtals - wer hat diese Leute im Stich und bis heute hängen lassen und wie haben sie dann im September 2021 gewählt ? Die meisten lernen es einfach nicht, nicht mal aus Katastrophen. Würde nächsten Monat die Ampelregierung platzen, würden die meisten Schwarz/Grün wählen. Jede Wette. Wie ganz zu Anfang im Artikel ausgeführt, “alter Wein in neuen Schläuchen.”

Heiko Stadler / 21.08.2022

Die zentrale Aussage ist: “...fehlte es der BRD an nationaler Identität.” Die dringend gebotene Forderung lautet “mehr Nationalismus wagen”. Leider gilt bereits das Aussprechen des Wortes “Nationalismus” als Gotteslästerung. Erstens der Zusammenhalt in der Familie und zweitens der Zusammenhalt als Nation könnte die ausufernde Dekadenz beenden. Beides gilt aber als rechtsextrem.

Franz Klar / 21.08.2022

„Betroffenheitskult“ wurde mittlerweile verfeinert in “Schuldkult” . Schuld lädt schon auf sich , wer Nebenstehende nicht sofort zurechtscholzt oder auf sein Demonstrationsrecht verzichtet aufgrund Aluhutalarm . Mündet dann in Jakobinismus und endet im Guillotinismus .

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