Heute vor dreißig Jahren: Alexanderplatz-Demo mit zwei Gesichtern

Die Friedliche Revolution war schon seit zwei Monaten im Gange. Neben Leipzig und  Dresden fanden bereits in etwa 30 Städten und Gemeinden nicht nur montags Demonstrationen statt. In Plauen war die Staatsmacht schon vor dem Druck der Demonstranten zurückgewichen. Nur in Berlin blieb es relativ ruhig. Zwar hatte es Proteste am 7. Oktober gegeben, die spontan entstanden waren, aber bislang keinen Aufruf im Sinne der Montagsdemonstrationen. In seinem Buch mit dem sperrigen Titel „Der Traum ist aus, aber wir werden alles geben, damit er Wirklichkeit wird“, schildert der Autor Patrick Bauer minutiös, wie sich das änderte.

Am 14. Oktober, so berichtet Patrick Bauer in seinem Buch, hatten sich etwa ein Dutzend Aktivisten des „Neues Forum“ zusammengefunden und die Frage beraten, wie man nach all den spektakulären, öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen in Leipzig und Dresden auch in Berlin etwas Ähnliches auf die Beine stellen könnte, vor der Weltpresse. Ein Teilnehmer hatte gehört, dass am nächsten Tag im Deutschen Theater eine Versammlung von Schauspielern, Regisseuren und Schriftstellern stattfinden sollte. Mit denen müsste man Verbindung aufnehmen. Die Bürgerrechtlerin Jutta Seidel erklärte sich dazu bereit. Sie wohnte damals neben der Schauspielerin Jutta Wachowiak. Zu Hause angekommen, schrieb Seidel mit einem Nachbarn einen Demonstrationsaufruf, entwarf die Demonstrationsroute, legte das Datum auf den 4. November, einen Sonnabend, fest und brachte den Zettel zu Wachowiak. 

Die nahm ihn mit zur Versammlung ins Deutsche Theater. Dort war auch der damals noch weitgehend unbekannte Anwalt Gregor Gysi anwesend und hatte in der Diskussion darauf hingewiesen, dass man doch nach Artikel 27 der Verfassung der DDR versuchen sollte, eine Demonstration anzumelden. Das war zunächst unbeachtet geblieben. Wachowiak hatte ihren Zettel mit dem Demonstrationsantrag erst dem Versammlungsleiter übergeben, ihn dann aber wieder zurückgenommen. Erst als der bekannte Kabarettist Peter Ensikat rief: „Ich stelle den Antrag, die Demonstration zu beantragen“, las Wachowiak den Antrag vor und die Geschichte nahm ihren Lauf. Sie mündete in der ersten angemeldeten und größten Demonstration der Friedlichen Revolution.

Ob wirklich 500.000 Menschen auf dem Alexanderplatz gewesen sind, ob 300.000 oder 200.000, ist unerheblich. Es war auf jeden Fall eine machtvolle Kundgebung. Am gleichen Tag fanden in etwa 50 Städten und Gemeinden Demonstrationen statt, so dass die Annahme, am 4. November 1989 seien insgesamt eine Million Menschen auf der Straße gewesen, nicht falsch ist. Allerdings verlief die Demonstration in Berlin anders, als von den Anmeldern geplant.

Das Heft des Handelns wieder in die Hand bekommen

Es war die erste von der SED genehmigte Kundgebung, zu der nicht von der SED, einer Blockpartei oder einem anderen staatlichen Organ aufgerufen wurde. Aber die SED hatte erfolgreich Einfluss genommen. Dem Vorbereitungskreis gehörten nicht nur Oppositionelle und Künstler, sondern auch Vertrauensleute der SED wie Gregor Gysi an, der sein bekanntes rhetorisches Talent dafür eingesetzt hatte, dass neben ihm auch der ehemalige Spionagechef der Staatssicherheit Markus Wolf und Politbüromitglied Günter Schabowski einen Platz auf der endlos langen Rednerliste bekamen.

Der Wunsch der SED-Führung war es, mit dieser Demonstration das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen. Es sollte ein Bekenntnis zu Reformen mit dem Ziel, einen demokratischen Sozialismus aufzubauen, werden. Natürlich unter Führung der SED. Dass die Veranstaltung neben aller Euphorie dennoch ein zwiespältiges Gefühl hinterließ, lag an ihrer Konzeption, die bewirkte, dass es am Schluss zwei Kundgebungen gab: Eine fand auf dem Podium statt, die andere auf dem Platz.

Zunächst bewegt sich der Demonstrationszug am Gebäude der Nachrichtenagentur ADN vorbei zum Palast der Republik. Von dort geht es zum Alexanderplatz, eine große, zugige Freifläche. Dort ist eine hölzerne Tribüne aufgebaut, die Walter Kempowski, der vor dem Fernseher sitzt, an ein mittelalterliches Schafott erinnert.

Als erster Redner besteigt Spionagechef a.D. Markus Wolf dieses Schafott. Gysi hatte den Künstlern in der Vorbereitungsgruppe eingeredet, bei Wolf handele es sich um einen Reformer. Den Menschen vor der Tribüne ist das nicht weiszumachen. Wolf, den Kempowski als „Typ Wehrmachtsoffizier“ einordnet, wird bald durch Pfiffe und Sprechchöre am Weiterreden gehindert. Damit ist seine Reformkarriere beendet, bevor sie beginnen konnte.

Pfiffe, Buh-Rufe, Sprechchöre „Aufhören, Aufhören!“

Politbüromitglied Schabowski wagt dennoch den Versuch, die Masse auf Partei-, und Staatschef Egon Krenz, Reformen und demokratischen Sozialismus einzuschwören. Er behauptet, Krenz hätte den Schulterschluss mit Gorbatschow vollzogen, stellt sogar mehr Reisefreiheit in Aussicht. Auch ihn wollen die Menschen nicht hören. Pfiffe, Buh-Rufe, Sprechchöre, die „Aufhören, Aufhören!“ fordern.

Der Bürgerrechtler Jens Reich, der neben Schabowski steht, sieht, wie dessen Gesichtszüge verfallen. Er kann die Zurückweisung der Menge nicht ertragen. Widerspruch auszuhalten, gehört nicht zu den Tugenden eines Politbüromitglieds. Später beschreibt Schabowski dieses Erlebnis als den Wendepunkt in seinem Leben, da ihm bei dieser Gelegenheit klar wurde, dass die SED ihre Macht verspielt hatte.

Gysi, der zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt ist, sieht deutlich ein Transparent, das „Rechtssicherheit statt Staatssicherheit“ fordert und kann sich mit Spitzen gegen die Stasi vor allzu vielen Pfiffen schützen. Aber auch ihm nehmen die Menschen die Reform-Rhetorik nicht ab.

Außer den vier Genannten spricht noch eine Reihe von Schriftstellern, Künstlern und Bürgerrechtlern. Die meisten halten sich an die Vorgaben und werben für Reformen und den demokratischen, den „richtigen“ Sozialismus. 

Bereits sichtbar vom Sozialismus verabschiedet

Nur die Schriftstellerin Christa Wolf, die vorher laut Bauer im „Espresso“, dem Sammelpunkt der Redner, mit Spionagechef Wolf regelrecht gekuschelt hat, geht auf die Demonstranten ein. Sie bekennt ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff Wende und führt den Wendehals in die Debatte ein. Sie weist auf die Rolle der Sprache bei der Befreiung von Diktatur und Zensur hin. „Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen.“ Aus den Sprüchen und Losungen der Demonstranten leitet sie ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Revolution ab, die für die bekennende Sozialistin ebenfalls nur den „richtigen“ Sozialismus zum Ziel haben durfte. Wenn Christa Wolf noch genauer hingeschaut hätte, wäre ihr nicht entgangen, dass die Menschen auf dem Platz etwas ganz anderes wollen. Sie haben sich bereits sichtbar vom Sozialismus verabschiedet, nur die Intellektuellen wollen es nicht wahrhaben.

Während auf der Tribüne unverdrossen für den Sozialismus geworben wird, verabschieden sich die Menschen auf dem Platz mit Sprechchören und Transparenten von der SED, ihren Wendemanövern und dem „richtigen“ Sozialismus.

„Der Sozialismus in der DDR steht zur Disposition“, ist in Abwandlung eines Krenz-Spruchs zu lesen. Und. „Es lebe die Straße“. Damit machen die Menschen klar, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben und sich von niemandem mehr vorschreiben lassen wollen, was sie tun und lassen dürfen. Wenn die Sonne ab und zu durch die Wolken bricht, ertönt sofort der Ruf: „Reisewetter, Reisewetter“! Gegenüber Egon Krenz sind die Demonstranten unmissverständlich: „Zirkus Krenz – die Vorstellung ist aus“, „Abschaffung der Krenz-Truppe“, „Krenz-Xiaoping? – Nein, danke!“. Auch die Debatte über die führende Rolle der SED ist auf dem Alexanderplatz längst entschieden: „SED in die Opposition“, „SED-Ade!“ und: „8, 9, 10 – SED kann geh’n!“

Was in Berlin an Forderungen zu sehen ist, trifft auf alle anderen Demonstrationen dieses Tages und der kommenden Wochen zu. Aufmerksamen politischen Beobachtern hätte es spätestens am 4. November 1989 dämmern müssen, dass es mit der DDR vorbei war.

Patrick Bauer: Der Traum ist aus…

Vera Lengsfeld: Tagebuch der Friedlichen Revolution

Foto: Bundesarchiv/ Bernd Settnik CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Wilfried Düring / 04.11.2019

@ChristianFreund Bravo! Ganz genau so ist es. Der Focus der Vergangenheitsbewältigung sollte endlich auf den WESTEN gelegt werden. Stichworte: Rosenholz-Dateien, Ex-68-er, Mao-Freunde und -Verherrlicher, die Erfinder und Betreiber der ‘klammheimlichen Freude’ (nur ‘Terror’ von Rächtz ist schlimm), DDR-Verharmloser West, Jusos und Gruene die von einem ‘neuen’ Sozialismus und einer neuen Gesinnungs-Diktatur träumen und an ihr arbeiten (z.B. Uni Hamburg). Und nicht vergessen: Die TÄTER im Kultur- und Mediene-Betrieb, die sie dabei unterstützen. Der einseitige Focus auf die Alt-SED’ler ist nicht nur menschlich ungerecht. Defacto entlastet diese (gewollte ?) Einseitigkeit eine West-Linke, die sich ihrer Vergangenheit und ihrer Schuld niemals gestellt hat! Zur selbstkritischen Worten fähige Leute (Otto Schily, Ralph Giordano) sind die absolute Ausnahme, die die böse Regel bestätigen.

beat schaller / 04.11.2019

Eindrücklich Frau Lengsfeld, danke. b.schaller

George Samsonis / 04.11.2019

Ich kann es nicht mehr hören: Dreißig Jahre “Friedliche Revolution”. Dreißig Jahre!!! Und immer noch hinkt das Beitrittsgebiet Dtl.-West hinterher. Und das, obwohl Milliarden und Abermilliarden dorthin geflossen sind und immer noch “Solidaritäts”-Beitrag gezahlt werden muss. Woran liegt es, dass keine “blühenden Landschaften”, wie von Helmut Kohl versprochen, entstanden sind, trotz Milliarden und Abermilliarden, die dorthin geflossen sind? Mir ist nicht zum feiern zumute. Ich weiß auch nicht, wo ich mich befunden habe, als die Nachricht von der Grenzöffnung kam (11. September 2001 und Nachricht vom Tod Diana Spencers weiß ich). Ich kann mich nur daran erinnern, dass die SPD und die GRÜNEN nicht aufgestanden sind, als die CDU/CSU bei der Bundestagssitzung spontan die Nationalhymne angestimmt hat, natürlich im Stehen. Einigkeit und Recht und Freiheit!!! Auch das wäre gegenwärtig zu hinterfragen, aber das ist ein anderes Thema. Trotzdem noch einen schönen Tag!

Boris Kotchoubey / 04.11.2019

“Gysi hatte den Künstlern in der Vorbereitungsgruppe eingeredet, bei Wolf handele es sich um einen Reformer. Den Menschen vor der Tribüne ist das nicht weiszumachen. Wolf ... wird bald durch Pfiffe und Sprechchöre am Weiterreden gehindert. Damit ist seine Reformkarriere beendet…”. Leider ist die letzte Aussage falsch. Wolfs “Reformkarriere” nahm nach dem Absitzen einer äußerst milden (im Vergleich zu seinen fruchbaren Verbrechen) Strafe einen langen und rühmlichen Lauf. Von den westdeutschen Gutmenschen wurde er gerne in den besten Salons empfangen und als “aufgeklärter Sozialist” gefeiert. Die Stadt Hechingen hat ihn sogar in die ehemalige Alte Synagoge eingeladen (einen Henker in eine Synagoge!), wo der Mann, dessen Arme bis zu Ellbogen im menschlichen Blut waren, ganz gemütlich und bürgerlich die Kindergeschichten seines Vaters vorlas. Und die Biedermänner hörten ihn mit geöffneten Münden. Wer so mit den Hauptvertretern einer totalitären Diktatur umgeht, soll sich nicht wundern, dass die Diktatur wieder kommt.

Rolf Mainz / 04.11.2019

Als erschütternd aktuell stellt sich eines der auf dem Foto gezeigten Transparente dar. “Freie Presse für freie Menschen” steht dort zu lesen. Geschichte wiederholt sich.

Thomas Taterka / 04.11.2019

Dadurch, daß der Westen eine kindliche Illusion der Gerechtigkeit und des Wohlstands für alle war, blieb es ” friedlich “. Welch ein Irrtum. Auch ich hab’s geglaubt. Wie dumm von mir. Ich war halt 30. Voll blöder Hoffnung. Typisch Westler. Ein Happy-End gibt’s nur im Film und in der Musik und in der Einbildung. Alt werden heißt, seine Illusionen verlieren und trotzdem zu glauben. Es könnte ja doch anders werden. Wie soll man das wissen ? Man könnte sich irren.

Rainer Hanisch / 04.11.2019

Der Traum ist auch heute aus! “Pfiffe, Buh-Rufe, Sprechchöre, die „Aufhören, Aufhören!“ fordern.” hört man heutzutage nicht; die Masse der Bürger will ein “Weiter so”, ohne sich im Geringsten Gedanken darüber zu machen, wohin dieses “Weiter so” führt! Schade um das Engagement der Demonstranten, die 1988/89 Druck auf die DDR-Regierung machten. “Widerspruch auszuhalten gehört nicht zu den Tugenden eines Politbüromitglieds”, aber auch nicht zu denen der heute herrschenden Politiker. Und das dröge “Volk” begreift nichts, gar nichts! Plumpe Hetze gegen die AfD, hirnloses Mitläufertum. Diederich Heßling eben: obrigkeitshörig, feige und ohne Zivilcourage. Er ist ein Mitläufer und Konformist, ein Untertan, der sich freudig höheren politischen Gewalten unterordnet (Wiki). Staudtes Film “Der Untertan” (DDR 1951) fiel in der Bundesrepublik Deutschland zunächst der Zensur zum Opfer: Er wurde als Angriff auf die Bundesrepublik gewertet und daher verboten. Kein weiterer Kommentar. Lediglich in den “dunkeldeutschen” Bundesländern verabschieden sich immer mehr Menschen von den neuen SED. In den Parteizentralen ist das aber noch nicht angekommen, man denke an das Theater nach den Landtagswahlen z. B. in Thüringen, als immer noch von Wahlsieg und Wählerauftrag schwadroniert wurde!

Martin Burr / 04.11.2019

Lange Rede, kurzer Sinn: Weg mit dem Staat. Keine Reformen, keine kontrollierte Opposition, und nichtmal eine Richtige, die früher oder später sowieso unterwandert und korrumpiert werden würde. Ich finde, das kann man auch auf die BRD anwenden.

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