Gerd Held / 25.04.2024 / 06:00 / Foto: Pixabay / 82 / Seite ausdrucken

Helds Lage der Nation – und was jetzt geschehen muss

Die Situation in Deutschland ist so verfahren, dass es mit einem Regierungswechsel nicht getan ist. Ein bleibendes vierteiliges Essay „Zur Lage der Nation“, das nicht beim Jammern aufhört (1).

Eine fundamentale Entwertung der modernen Zivilisation hat sich in einem längeren Prozess durchgesetzt und erscheint heute übermächtig. Erst in einem größeren Zeitrahmen zeigen sich die Grenzen dieser Macht. Und auch die Kräfte und Hebel für eine Rehabilitierung der modernen Errungenschaften werden dann sichtbar.

Die Bundesregierung hat ihre Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2024 von 1,3 Prozent auf 0,2 Prozent gesenkt. Das ist eine krasse Senkung. Für eine Regierungskoalition, die behauptet, dass sie – und sie allein – die Zukunft Deutschlands repräsentiert, ist es eine Bankrott-Erklärung. Ihre Politik der Großen Transformation bringt dem Land alles andere als einen „New Deal“. Und vor dem Hintergrund des stagnierenden Bruttoinlandsprodukts bekommen die rasant steigenden Schulden nun ein viel größeres Gewicht: Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik ist ihre finanzielle Solidität wirklich erschüttert. Doch die vorherrschende politische Rhetorik tut so, als wäre eine neue Prosperität mit noch mehr Geld auf Pump zu kaufen. Zur Beschreibung der Situation werden nur Konjunktur-Worte angeboten. Alles soll im gewohnten Rahmen von „Rezession“ oder „Aufschwung“ bleiben.

Stets aufs Neue wird der Eindruck erweckt, dass eine Besserung greifbar nah ist und man nur ein bisschen nachhelfen muss. Die Möglichkeit, dass Deutschland sich in eine historische Sackgasse manövriert hat, kann so gar nicht die Worte finden, um zur Sprache zu kommen. Das gilt auch für die ständig wiederholte Redewendung, das Land habe „zu viel Bürokratie“. Ist das Ziel der „Klima-Neutralität“ wirklich ein Bürokratie-Problem? Keineswegs, den für dieses Ziel wird tief in Produktionsprozesse und Infrastrukturen eingegriffen und damit die Wertschöpfung der Betriebe und die Leistungsfähigkeit des ganzen Landes direkt gesenkt.

Es geht nicht um Verwaltungsprozesse, sondern um die Stilllegung von Kraftwerken, um das Verbot von Motoren und Heizungen, um das Brachlegen von Herstellungsverfahren, bei denen fossile Energieträger genutzt werden. Ganze Industriezweige, für die es keine praktikablen technischen Alternativen gibt, werden mit unbezahlbaren Steuern belegt oder gleich zum Abschalten gezwungen. Aber die offizielle Rhetorik spricht bei dieser gezielten Herstellung einer Notlage in Deutschland von „Anreizen“, die zum Erfinden von etwas „ganz Neuem“ führen würde. Doch wissen viele Betriebe, öffentliche Einrichtungen und Haushalte nicht, wie sie das nächste Jahr überstehen sollen. Oder wie sie auch nur über den nächsten Monat kommen sollen.

Auf einmal ist die moderne Zivilisation nichts mehr wert

Deutschland ist zu einem Land geworden, in dem eine – durchaus beträchtliche – Minderheit einer – erheblich größeren – Mehrheit verkündet: Eure Verkehrsmittel sind falsch und Eure Heizungen sind falsch. Ihr arbeitet falsch. Ihr esst falsch und Ihr kleidet euch falsch. Ihr habt die falschen Reiseziele, hört die falsche Musik und richtig lieben könnt Ihr auch nicht. Kurzum: Ihr führt das falsche Leben. Ist es da erstaunlich, wenn in den verschiedensten Bereichen Krisen ausbrechen? Wenn es im Land an allen Ecken und Enden fehlt?

Inzwischen ist viel von einer Regierungskrise die Rede, und manche setzen darauf, dass ein rascher Regierungswechsel die Dinge zum Guten wenden könnte. Aber das Problem liegt tiefer: Dieses Land ist auf einen Konfrontationskurs mit der modernen Zivilisation geraten. Dieser Kurswechsel geht nicht auf einen einsamen Entschluss von ein paar Super-Reichen und Super-Mächtigen zurück. Es gab keine plötzliche „Machtergreifung“, sondern einen breiteren und längeren sozialen Prozess. Aber dieser Prozess wird nicht von „der Gesellschaft“ als Ganzer getragen, sondern von einem bestimmten Sektor der Gesellschaft, der sich aus mehreren Schichten und Milieus zusammensetzt. Dieser durchaus beträchtliche und einflussreiche Sektor hat sich von der modernen Zivilisation entfremdet. Von den Knappheiten der realen Welt hat er gar keine Vorstellung mehr. Mit wirklicher Arbeit, die wirkliche Knappheiten mildert, hat er keine Erfahrung – weder mit ihren Mühen noch mit der Befriedigung und Würde, die in dieser Arbeitswelt zu finden sind.

Gegenüber dieser arbeitenden Moderne fühlt sich der „postmoderne“ Sektor zu Höherem berufen. Deshalb nimmt er die Zerstörungen und Opfer, die jetzt im Lande stattfinden, gar nicht als solche wahr. Die rasant steigende Verschuldung des Landes ist für ihn kein Problem. In diesem Sektor wird einfach von einer „schlechten Vergangenheit“ und einer „ganz neuen Zukunft“ fabuliert. So werden die schlechten Zahlen einfach zum Erlöschen gebracht. In der Welt dieses Sektors ist alles eine Frage der richtigen „Erzählungen“. Auf dieser Basis wurden in Deutschland Machtpositionen in Staat und Wirtschaft besetzt und Positionen zerstört, von denen die Realitätstüchtigkeit dieses Landes abhängt. Deutschland ist ein anderes Land geworden.      

Eine kurze Geschichte der Bundesrepublik  

Die Aufgabe ist also, den allmählichen Prozess zu beschreiben, der Deutschland an diesen Punkt gebracht hat. Das sollte nicht in dem Sinn verstanden werden, dass es sich nur um ein „deutsches Problem“ handelt. In etlichen anderen Ländern der westlichen Welt gibt es vergleichbare Prozesse. Es geht also nicht um einen deutschen „Sonderweg“.

Es geht aber auch nicht darum, gleich die ganze Moderne zu Grabe zu tragen. Es genügt, von einem bestimmten Zeitabschnitt in der Gesamtgeschichte der Moderne zu sprechen. Dieser Zeitabschnitt lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen: Zunächst entsteht eine zivilisationsferne Parallelwelt, dann wird diese Parallelwelt dominant und schlägt in ein Negativprogramm um – in eine Zerstörung tragender Säulen der modernen Zivilisation.

Das aber bedeutet nicht das Ende der Geschichte, denn auf dem negativen Höhepunkt dieser Zivilisationsabkehr zeigt sich eine fundamentale Schwäche des „postmodernen“, „postindustriellen“ und „postkolonialen“ Sektors. Ihm fehlt es an Zugriff auf die Realität. Das Verdrängte erweist sich als unersetzlich und kehrt zurück. Doch der Reihe nach: Vor der eigentlichen Krisengeschichte muss eine gelungene Phase der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben werden, die immerhin drei Jahrzehnte dauerte.

Das 1. Kapitel: Ein industrielles Land und eine ziemlich krisenfeste Demokratie

Die 30 Jahre vom Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er waren durch eine Prosperität geprägt, die sowohl Wohlstandsgewinne als auch eine Senkung der Schuldenquote ermöglichte. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Phase des „Wiederaufbaus“ nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nicht nur um das Ergebnis eines „Förderprogramms“ mit Dollar-Milliarden („Marshall-Plan“). Die eigentliche Grundlage war ein industrieller Produktivitätssprung, wie er in der Geschichte nur selten auftritt. Große, langlebige Konsumgüter wurden erstmals in großer Serie kostengünstig herstellbar (Haushaltselektronik, Automobile, Medien, Ton- und Bildträger, Eigenheime). Hohe Unternehmens-Investitionen ins Betriebskapital, die Zunahme und Verbesserung der Arbeitsplätze, staatliche Investitionen zur Erweiterung der technischen Infrastruktur (der Energie- und Verkehrsträger) und des Standort-Angebots in Stadt und Land gingen sichtlich Hand in Hand. Das begünstigte sozialpartnerschaftliche Lösungen. Das war auch die Grundlage, auf der die SPD mit dem Godesberger Programm (1959) ihren Frieden mit dem Kapital schließen konnte.      

In dieser Phase erreichte die Zahl der Industriebeschäftigten ihren historischen Höhepunkt. Sofern man von einer Mitte der Gesellschaft sprechen konnte, wurde sie von den Facharbeitern geprägt. Dazu gehörte auch das hohe Ansehen der dualen Berufsausbildung im Bildungssystem. Der Anteil der höheren Bildungsabschlüsse stieg zwar ab Mitte der 1960er Jahre an, aber er war noch nicht sozial maßgebend. In der deutschen Gesellschaft dieser Jahre war nicht der „Aufstieg“ in höhere Bildungs- und Berufskarrieren das Maß aller Dinge, sondern eine Lebensleistung als Facharbeiter oder Fachangestellter galt schon als wertvoll und würdig. An den Hochschulen spielten die wissenschaftlich-praktischen Fächer eine starke Rolle. In dieser Zeit wuchs auch eine Nachfolgegeneration heran, die noch bis in die 1990er und 2000er Jahre hinein die Exporterfolge des Automobilbaus, des Maschinenbaus oder der Chemieindustrie sicherte.

Man könnte einwenden, dass in diese Phase doch schon die „68er“ auftauchen und in Politik und Kultur mancherlei „Revolutionen“ ausgerufen wurden. Aber ihr Einfluss in Wirtschaft und Staat war gering. Auch die Massenmedien spielten noch nicht die Rolle einer 4. Gewalt von eigenen Gnaden. Angesichts von Bedrohungen erwies sich die Republik als wehrhaft und klug. Kernenergie und Wehrdienst wurden von starken Mehrheiten gestützt. Dem Druck des RAF-Terrors wurde nicht nachgegeben. Auch der NATO-Nachrüstungsbeschluss wurde von einer standhaften Bevölkerungsmehrheit getragen. Es ist also nicht die völlige Abwesenheit von Krisen, die diese ersten 30 Jahre der Bundesrepublik auszeichnet, sondern die Fähigkeit zur wehrhaften Reaktion und auch zur Anpassung an Veränderungen.  

Das 2. Kapitel: Eine postindustrielle und postmoderne Parallelwelt bildet sich

Wenn man eine zweite Phase der Entwicklung Deutschlands wiederum mit 30 Jahren ansetzt, würde diese vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre reichen. In dieser Zeit fand tatsächlich ein erheblicher Wandel statt. Neben der Welt, die noch fortbestand und sich – nun langsamer – weiterentwickelte, bildete sich ein Sektor heraus, der durch seine Größe und Stellung eine eigene Welt mit eigener Legitimation bilden konnte. Dabei spielten drei Bereiche, die zunehmend miteinander verknüpft waren, eine Schlüsselrolle: Erstens die Dienstleistungen, die stark wuchsen, wobei die gehobenen, mit der Beratung und Leitung von Menschen befassten Tätigkeiten eine Schlüsselrolle spielten. Zweitens die Wissenschaft und, damit verbunden, die höheren Bildungsgänge. Deren Anteil an einem Bildungsjahrgang überschritt in Deutschland die 50-Prozent-Marke und nähert sich heute den 60 Prozent. Bei diesem Wissenschafts-Wachstum dominierten nicht die anwendungsbezogenen, technisch-harten Fächer, sondern die theoretischen, kommunikativ-weichen Fächer.

Drittens die Kultur, womit ein sehr weitläufiger und diffus schillernder Bereich besetzt wurde. Die neue Konjunktur des Kulturellen beruhte nicht auf einer neuen Kunstepoche, sondern auf einer stärkeren Betonung von Stil und Lebensstil. Neben die Aufmerksamkeit für die Effizienz der Herstellung und den Gebrauchswert von Gütern trat nun stärker die Aufmerksamkeit für die Schönheit, Erhabenheit oder Frivolität eines Gegenstandes, eines Ortes, einer Situation. Das wurde nicht nur in der Zunahme von Theatern, Konzerthäusern und Museen sichtbar, sondern auch im Straßenbild, in Schaufenstern, in Fassaden, in Märkten und Cafés. Das war durchaus ein Gewinn. Manche vorschnelle, platte „Modernisierung“ wurde revidiert und aufgebrochen.

Man denke nur an die Rehabilitierung des baulichen Erbes in Stadt und Land. Und diese Rehabilitierung war Teil einer Verfeinerung und Differenzierung unterschiedlicher Lebensformen. Das war eine Bereicherung der modernen Zivilisation, und daran hatten auch die wachsenden Bereiche der Dienstleistungen und der Wissenschaft ihren Anteil. So wehte in dieser zweiten Phase der Geschichte ein gewisser Zauber und eine Leichtigkeit durchs Land, zumindest in den 1980er Jahren und dem Beginn der 1990er Jahre.   

Selbstabschließung in einer eigenen Welt

Allerdings gab es von Anfang an einen Konstruktionsfehler dieser Leichtigkeit. Sie wurde von einem bestimmten sozialen Sektor, der in dieser Zeit rasch wuchs, besetzt und als Gegenwelt zur industriellen Welt verstanden. Sie wurde deshalb auch mit einer Abwertung der ersten Phase der Bundesrepublik verbunden. Das war keineswegs gerecht und notwendig, denn die industrielle Welt war nicht eine totalitäre Gleichschritt-Welt, wie sie Orwell in seiner finsteren Utopie „1984“ ausmalte. Vielmehr hatte diese Welt im Laufe des 20. Jahrhunderts selbst ihre Spielräume, ihre Lockerungen und ihren „Swing“ hervorgebracht. Diese Entwicklungslinie der modernen Zivilisation hätte man also fortsetzen können. Auch in Deutschland.

Doch ein zunehmender Teil der Bevölkerung kannte die Industrie nur noch vom Hörensagen und brachte auch kein größeres Interesse für diese Welt auf. Das Wachstum des industriefernen Sektors hatte jene kritische Schwelle überschritten, jenseits der es möglich wird, sich in einer Binnenwelt weitgehend abzuschließen. Dazu trug auch die zunehmende Digitalisierung bei. Gewiss kann die Digitalisierung hilfreich sein, wenn sie in bestehende Arbeitsprozesse eingefügt wird. Aber wenn es eine Tendenz zur Selbstabschließung gibt, kann die Digitalisierung auch eine geschlossene Binnenwelt suggerieren. Genau das geschah, als im Namen der Digitalisierung eine ganz neue Industriewelt (Industrie 2.0, 3.0, 4.0…) oder eine ganz eigene „erweiterte Realität“ („augmented reality“) ausgerufen wurde.

Die Tendenz zur Selbstabschließung ist nicht von der Digitalisierung erfunden worden, sondern schon in den 1980er Jahren. Hier, am Beginn der zweiten Entwicklungsphase der Bundesrepublik, wurde der Beginn einer neuen „postindustriellen“ und „postmodernen“ Ära verkündet. In der Politik wurde von einer „Neuen Mitte“ gesprochen, von „New Labour“ oder auch von einer „Neuen Urbanität“. Nicht mehr der Facharbeiter sollte die Mitte sein, sondern eine gehobene Mittelklasse, besserwissend, besserverdienend und in den großen Städten bestens ausgestattet mit Sozial-, Bildungs- und Kultur-Einrichtungen. Sie verstand sich immer mehr als tonangebend für das ganze Land – oder sie wähnte sich als „Weltbürger“ in ganz anderen Sphären. Man blickte wie gebannt auf die „Weltstädte“ und glaubte, dass sie bald die territorial verfassten Nationalstaaten zweitrangig machen würden.

Die Parallelwelt treibt ganze Länder in eine Schieflage

Dass die Bereiche der Dienstleistungen, der Wissenschaft und der Kultur in vielen modernen Ländern schneller wuchsen als die Industrie, war schon in den 1960er und 1970er Jahren sichtbar geworden. Aber zunächst gingen Beobachter ganz unterschiedlicher Couleur (wie Jean Fourastie, Daniel Bell oder Helmut Schelsky) noch davon aus, dass dieses Wachstum nur vorstellbar war, wenn es eine hohe industrielle Produktivität gab. Diese Proportionalität war das Band, das die Ausdehnung von Dienstleistungen, Wissenschaft und Kultur noch mit der Entwicklung der Industrie verkoppelte. Doch dieses Band wurde im Laufe der zweiten Phase immer schwächer und zerriss schließlich in immer mehr Ländern. Eine Entkopplung fand statt. Die Wortbildung mit „post“ zeugt davon. Und diese Entkopplung wurde zu einer folgenreichen Realität. In vielen Ländern wies die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz immer kleinere Produktivitäts-Fortschritte auf. Hier zeigte sich, dass der Sektor für sich genommen auf schwachen Füßen stand und die industriellen Überschüsse nicht mehr für eine Querfinanzierung reichten.

So wurde die Schuldenlast wieder größer. Die Schuldenquote (das Verhältnis von Schuldenwachstum und Produktivitätswachstum), die in der ersten Phase kontinuierlich gesenkt worden war, stieg in der zweiten Phase wieder an. Zu Beginn der 2000er kam es zu einer heftigen Krise der Digital-Ökonomie, weil sie ihr hochfliegendes Produktivitäts-Versprechen nicht halten konnte. 2009 kam dann in verschiedenen Ländern eine große Schuldenkrise. Spätestens an diesem Punkt war nicht mehr zu übersehen, dass „der Westen“ – mit den USA als Führungsmacht – etwas Wesentliches verloren hatten. Er war nicht mehr der Ort, der früher durch die Kraft seiner Industrie und die Ausstrahlung seiner Zivilisation ein so faszinierendes Vorbild gewesen war. In Deutschland waren Politik und Öffentlichkeit zu Beginn der 2000er Jahre noch in der Lage, die Bedrohung des Industriestandortes Deutschland ernst zu nehmen und sich auf die „Agenda 2010“ zu einigen. Das zeigte, dass hierzulande die industrielle Moderne noch eine recht starke Position hatte. Auch in den USA wäre denkbar gewesen, dass es an diesem Punkt zu einer Rückbesinnung auf alte Stärken gekommen wäre.  

Aber so ist es nicht gekommen. Die Zivilisationskrise entwickelte sich weiter. Bestand sie in der Phase vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre in der Abkopplung und Ausdehnung einer Parallelwelt, so wurde diese Parallelwelt in der folgenden Phase dominant und schlug in zerstörerische Angriffe auf grundlegende Errungenschaften des gesamten Landes um. Dieses Zerstörungswerk setzte in Deutschland – im Vergleich zu anderen Ländern – mit Verspätung ein, um dann aber mit besonderer Radikalität verfolgt zu werden. Damit sind wir bei der dritten Phase in der Geschichte der Bundesrepublik, in der wir uns gegenwärtig noch befinden. Wir kommen damit aber auch der Frage näher, wie eine neue Phase beschaffen sein müsste und könnte, in der dieses Land aus seiner Krise herausfindet.  

In der nächsten Folge lesen Sie morgenVon der „Großen Transformation“ ist nur noch eine Negativ-Agenda übriggeblieben, die Katastrophenszenarien und Feindbilder beschwört, um dann tragende Säulen von Marktwirtschaft und Republik zu opfern. 

Dr. rer. pol. Gerd Held, geb. 1951, studierte Sozialwissenschaften sowie Sozialphilosophie und promovierte und habilitierte an der Universität Dortmund, wo er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Privatdozent tätig war. Von 2008 bis 2015 war er Leitartikler und Essayist bei der Tageszeitung „Die Welt“. Seit 2016 war er als freiberuflicher Publizist tätig. Er lebt in Berlin. 

Foto: Pixabay

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L. Luhmann / 25.04.2024

@“Michael Hinz / 25.04.2024 @L. Luhmann - #Es wird behauptet, dass das Volk der Souverän sei, was aber überhaupt nicht der Fall ist, denn nur der kann Souverän sein, der auch das Gewaltmonopol hat.# Der ‘Gesellschaftsvertrag’ überwindet’ den ‘Naturzustand’, indem die Einzelnen auf Waffen verzichten zugunsten des staatlichen Gewaltmonopols. Nicht dieses staatliche Gewaltmonopol (wie sollte es ohne gehen?) ist das Problem, sondern die einseitige Kündigung des Gesellschaftsvertrags mit allen Konsequenzen. Unsere Wehrlosigkeit etc. gründet folglich nicht in einem Monopol, das uns Schutz versprach für den Verzicht auf Selbstjustiz, sondern im Verrat (unserer Grundrechte).”——Sie haben sich sozusagen einmal im Kreis gedreht und das Wort bzw. den Faktor “Verrat” eingeführt, was nichts wesentliches an der Aussage meines Kommentars ändert. Anders ausgedrückt: Verrat ist eine Gefahrenquelle bzw. ein bewaffnetes Volk zu verraten ist sehr schwer.

A. Ostrovsky / 25.04.2024

@A. Ostrovsky : >>Die Zermürbung der Industrie begann damit, dass ungebildete Blondinen in “HR”-Abteilungen jeden kompetenten Bewerber ablehnen konnten.<< ## Korrektur. Nicht weil sie es konnten, sondern weil sie es getan haben. Weil sie in ihrer Engstirnigkeit wirkliche Kompetenz mit Küchenpsychologie und Formalismus herausfinden wollten und weil man ihnen diesen so wichtigen Bereich ohne wirksame Erfolgskontrolle überlassen hat. Allein der Satz “Dass Sie die fachlichen Voraussetzungen erfüllen, alle geforderten Skills mitbringen, setzen wir voraus, aber wir legen natürlich auch viel Wert auf die sozialen Skills.”, den sicher jeder bestausgebildete fachliche Experte zehnfach klaglos über sich ergehen lassen musste (sonst hätte er seine Chancen sofort beendet), hätte alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Der heute herrschende Wokismus ist NUR die zur Fratze übertriebene Hybris vergangener HR-Chef-Generationen, die wegen der Zunahme ihrer Falten möglicherweise längst wieder verschwunden sind. Das erzeugte ein Klima, in dem niemand mehr irgendetwas fachlich fundiertes lernen wollte. Die Kinder derer, die sich so abgewertet durchs Leben kämpfen mussten, wollten alles andere, als den gleichen Fehler der Eltern wiederholen. Die haben dann Politikwissenschaft, Sozialpädagogik oder Rechtswissenschaften studiert, weil studieren war schon wichtig, nur eben nicht die brotlose Kunst der Naturwissenschaften. Und Recht haben sie. Man kann mit sinnlosem Politgeplapper oder systematischen Denunziantentum viel mehr Wohlstand erreichen, als durch Arbeit. Man kann nicht die Fleißigen und Gebildeten und Ernsthaften mehrere Jahrzehnte lang der hohnlachenden Willkür der Dummheit und Korruption aussetzen, und dann noch glauben, das hätte keine Wirkung.

Wolfgang Lechner / 25.04.2024

jan blank: Sehr treffene Zusammenfassung. Ergänzend dazu sehr anregend: Ulrich Horstmann, 1983, Das Untier - Konturen einer Philosophie der Menschenflucht. Der Text war wohl ursprünglich als Satire auf die Philosophie gedacht. Aber heutzutage ist der Begriff Satire wohl ein Synonym für Realität geworden.

Fred Burig / 25.04.2024

@A. Ostrovsky:”....  Nicht die Hoffnung stirbt zuletzt, sondern die MACHT DER DUMMHEIT. Danach gibt es nichts mehr. Dunkelheit. Dunkles Deutschland. Nur noch die Lüge irrlichtert über den rauchenden Ruinen.” .... Also wenn ich darin ihre “Endzeitstimmung für Deutschland” erkennen sollte, dann kann ich ihnen nur raten, sich lieber etwas an der “Klima- Apokalypse” aufzubauen. Wahrscheinlich tritt die nämlich eher nicht, zumindest nicht so bald, ein! Ein gesteuerter “Ruin Deutschlands” dagegen, ist schon in naher Zukunft wahrscheinlicher! Zu viel “friendly fire” von unseren “transatlantischen Freunden”, den Philanthropen, eben! MfG

Dietmar Herrmann / 25.04.2024

Hierzulande belehren Schmeißfliegen die Arbeitsbienen darüber, wie man Honig macht. Theoretisch könnten die Bienen mal kurz ihre tödlichen Stachel ausfahren und sich der Parasiten entledigen, aber die nutzen geschickt die naive Gutmütigkeit der fleißigen Tierchen aus. Eine kleine Gruppe erfindet Weltbeglückungsideen ( egal wie weltfremd sie sein mögen), die nächste gießt diese in Gesetzesform (was der Weltrettung dient, ist alternativlos) und die dreistete Spezies , sogenannte Abmahn-Drosophila verschaffen dem Unsinn Gültigkeit. Dieser Tiki-Taka- Algorithmus überfordert die geistig schlichten Bienen darin ,ihre Peiniger zu stellen, so daß sie sich weiter terrorisieren lassen, obwohl es so leicht wäre, die Viecherei zu deren Misthaufen zurückzuschicken.

S.Buch / 25.04.2024

“Nicht mehr der Facharbeiter sollte die Mitte sein, sondern eine gehobene Mittelklasse, besserwissend, besserverdienend und in den großen Städten bestens ausgestattet mit Sozial-, Bildungs- und Kultur-Einrichtungen.”—> Ja, aber diese neue Mitte, also die gehobene Mittelklasse, lebte zunehmend nicht aus eigener Leistung, sondern stattete ihren Lebensstandard zunehmend auf Kosten der anderen, der Facharbeiter, aus. Deshalb verlernte sie bzw. lernte erst gar nicht, den Wohlstand, in dem sie parasitär lebt, zu schätzen. Es bildete sich die Parallelwelt der dummschwatzenden Asozialen oder asozialen Dummschwätzer, die , da selbst keine Werte schaffend, ihr nichtsnutziges Dasein damit aufbessern, vorgeblich die Welt zu verbessern. Dies selbstverständlich auch auf Kosten der anderen. Dieses asoziale Milieu ist ein Produkt des von den Facharbeitern erarbeiteten Wohlstands, der beschriebene Prozess hin zur Parallelwelt ist die Wohlstandsverwahrlosung.

A. Ostrovsky / 25.04.2024

@Hubert Romero : >>@ jan blank:  Wow, die beste Begründung für den Untergang des Abendlands, die ich bisher vernahm!<< ## Diese Psychologisierung und Psychiatrierung aller Probleme ist teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Wenn man jan blank folgt, und zu Ende denkt, ist die Ursache des Übels die massive Abnahme der Zahl der Psychotherapeuten. In der wirklichen Welt ist diese Zahl aber über alle Grenzen gewachsen. Die Subjektivierung, Moralisierung und Relativierung, die von diesen Leuten ausgeht, ist der intellektuelle Grund des Niederganges. Die müssen es subjektivieren, moralisieren und relativieren, weil sie in Wahrheit ihre besten Patienten sind, weil sie die Abgründe, die sie heilen wollen, in sich selbst erkennen. Es ist nicht zu viel Liebe gewesen, sondern zu wenig. Man wollte den preußischen Soldatenkönig und seine Vorstellung von Liebe überwinden, der mit dem Rohrstock prügelnd seine “Langen Kerls” angebrüllt haben soll “Ihr sollt mich lieben, ihr Halunken!”. Dabei wurde nur der Rohrstock esotherisiert/psychologisiert, aber im Gegenzug die Liebe vollständig abgeschafft. Der Niedergang hat so objektive Ursachen, dass eine Lösung im Subjektiven nicht möglich ist. Wenn man Generationen von Rechenversagern herangebildet hat, wenn man denen die höchsten Ämter gegeben hat, dann kann ein Psychologe daran nichts mehr ändern. Alle Aufrufe zu mehr Klarheit werden daran scheitern, dass diese Leute, denen man die Macht in die Hände gelegt hat, zur Klarheit vollständig unwillig sind, weil es sie ÜBERFORDERT. Sie sind darauf nicht vorbereitet worden. Das “Verhätscheln” war gar nicht Liebe, es war Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, Resignation vor der eigenen Unfähigkeit, und der eigenen Realitätsferne. Und ganz wichtig: Die Generation der 68-er war NICHT die Generation der Boomer. Wer das missachtet, wird immer “die Eltern” als schuldhafte Ursache erkennen. Die 68-er sind aber nicht die Eltern der Boomer! Es war Unterdrückung und Ausbeutung, die NUN ENDET!

Thomin Weller / 25.04.2024

@jan blank Sie beschreiben die deutsche Sicht. Ora et labora, der Grundsatz der Benediktiner und der römisch-katholischen Kirche. Es hat sein Grund für die Überschrift “Arbeit macht frei”, siehe “Arbeit macht frei. Von Luther bis Hitler Deutscher Arbeitswahn und Judenhaß” von Klaus Thörner. Nebenbei die Benediktiner war mit die größte europäische Verbrecherbande.

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