Marei Bestek, Gastautorin / 27.08.2023 / 10:00 / Foto: Achgut.com / 88 / Seite ausdrucken

Heilst Du noch oder lebst Du schon? (1)

Das psychische Leiden selbst scheint in Mode gekommen zu sein. So wird es heute als durchaus „schick“ (oder woke) betrachtet, mit dem ein oder anderen kleinen Neuroserl hausieren zu gehen. Emotionen zulassen. Und vor allen Dingen: heilen, heilen, heilen! Und bei Ihnen so? Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?

Hätte man Sie vor fünf Jahren mit dem Begriff „gaslighting“ konfrontiert, hätten Sie da auf Anhieb gewusst, wovon Ihr Gegenüber spricht? Damals noch kaum geläufig, wird der Begriff heute gerne dafür verwendet, den politischen Gegner zu demaskieren oder toxische Beziehungsgeflechte aufzudecken. Apropos „toxisch“: Es ist noch gar nicht so lange her, da hätten die meisten diesen Begriff wohl eher in den Chemieunterricht verortet. Stattdessen sprechen wir heute von toxischem Verhalten, toxischen Beziehungen oder toxischer Männlichkeit.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Trigger“. Der medizinische Fachbegriff hat sich erst in den letzten Jahren in unsere Alltagssprache geschlichen. So nehmen wir eine Situation oder Handlung heute nicht mehr als störend wahr, nein, sie triggert uns. Diese Entwicklung wurde unlängst auch von vielen Medienschaffenden aufgegriffen, die uns mit sogenannten „Triggerwarnungen“ auf sensible Inhalte aufmerksam machen wollen, sodass wir vor einer möglichen Konfrontation mit unverarbeiteten Ängsten und Ereignissen gefeit sind.  

Wahn! Wahn! Überall Wahn! 

Verwundern tut der mediale Ausbruch der Triggerwarnungen kaum. Seit Jahren steigt die Zahl der psychischen Erkrankungen kontinuierlich an. Der Grund dafür kann bis heute nicht abschließend geklärt werden. Für die einen liegt er in der Entstigmatisierung des psychischen Leidens. Für die anderen ist es erst das Leben in den modernen Industriestaaten, das uns krank macht. Fakt ist, dass psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft auf eine immer größer werdende Akzeptanz stoßen.

Doch dabei bleibt es nicht. Das psychische Leiden selbst scheint in Mode gekommen zu sein. So wird es heute als durchaus „schick“ (oder woke) betrachtet, mit dem ein oder anderen kleinen Neuroserl hausieren zu gehen. In Talkrunden wird der seelische Gemütszustand der Gäste immer öfter zum Thema. Promi-Paare berichten nicht mehr von ihrem gemeinsamen Ibiza-Urlaub, sondern von der Paartherapie. Erst vor zwei Jahren machte der Komiker Kurt Krömer seine Depression öffentlich, und Ex-Spielerfrau Cathy Hummels schrieb mal eben einen Bestseller über ihre Kindheit, ihre Ängste und depressive Phasen. Die USA erklärte gleich den gesamten Mai zum „mental health awareness month“. Die Botschaft ist dabei immer dieselbe: Bewusstsein schaffen für die eigenen Gefühlswelten. Emotionen zulassen. Und vor allen Dingen: heilen, heilen, heilen! 

Und bei Ihnen so? Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?

Denn wenn wir Pech haben, dann starten wir schon unglücklich in das Leben, nämlich mit einem Geburtstrauma. Und ab da wird es auch nicht viel besser: Angststörungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen, Stress, soziale Phobien, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Hypersensibilität, Paranoia, Essstörungen, Bindungsstörungen, Panikattacken, Suchtkrankheiten, Burnouts und ein bunter Strauß an Traumata begleiten von da an unser Leben. Wir alle müssen uns wohl weniger die Frage stellen, ob wir an einer psychischen Erkrankung leiden. Sondern eher, an wie vielen. (Es sei denn, Sie gehören zu den Abgebrühten unter uns. Dann lehnen Sie sich beim Anblick des derzeitigen „Kampfs der Marotten“ entspannt zurück, machen sich zu Ihrem Neuroserl noch ein Weinerl auf und geben gleich freimütig zu: „Hab ick alles!“ Möglicherweise handelt es sich dabei aber auch um Größenwahn. Oder eine schizophrene Phase.)

Allerdings gibt es auch immer mehr Stimmen, die dem Ausbruch der mentalen Krankheiten kritisch gegenüberstehen. Der enorme Anstieg der psychischen Erkrankungen wurde auch zum Gesprächsthema zwischen der politischen Kommentatorin Candace Owens und dem Internetphänomen Andrew Tate. Das insgesamt dreistündige Interview wurde schnell zu einem viralen Hit und erreichte schon nach wenigen Tagen millionenfache Aufrufe.

Achtung, Triggerwarnung!

Auslöser für die Diskussion rund um die mentale Gesundheit war unter anderem Ex-Royal Prinz Harry. Ein eingespielter Video-Ausschnitt zeigt ihn dabei, wie er, die Arme vor der Brust verschränkt, tief ein- und ausatmet und sich mit den Fingern abwechselnd auf den Schultern rumtrommelt. Anscheinend eine Achtsamkeitsübung. Während wir gesellschaftlich darauf programmiert werden sollen, diesen Akt als mutig zu empfinden und Prinz Harry für seine Sensibilität und Verletzlichkeit zu loben, finden Owens und Tate diesen Anblick zum Fremdschämen. 

Candace Owens kritisiert sowohl unsere Entwicklung hin zu einer Therapie-Gesellschaft als auch unser zunehmendes Bedürfnis, jedes noch so kleine Gefühl wie auf dem Seziertisch ausschlachten zu müssen. Nicht jedes Gefühl sei es wert, erkundschaftet zu werden. Andrew Tate schließt sich dem an, denn für ihn ist Emotionalität zwar ein wahrer Segen, allerdings nur dann, wenn sie an den richtigen Stellen zum Einsatz kommt (zum Beispiel in der Mutterschaft). Reißt man sie aus ihrem Ur-Zweck und lenkt sie in die falsche Richtung, kann das schnell zerstörerisch werden. Heute lassen wir zu, dass unsere Gefühle die Grundlage für politische Entscheidungen bilden und kulturelle Entwicklungen beeinflussen oder sogar hervorbringen. 

Es sei ein Teil der Propaganda- und Nachrichtenmaschine, statt logischer in erster Linie emotionale Argumente zu verwenden, sagt Tate. „Wenn man jemandem mit einem emotionalen Argument überzeugen kann, kann man ihn von fast allem überzeugen. Mit Logik ist es viel schwerer. Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, die Sie allein durch emotionale Argumente kontrollieren können. Wir sind fast da.“ Somit sei es nur konsequent, dass die Idee eines Matriarchats weiter vorangetrieben wird, schließlich seien Frauen viel empfänglicher für emotionale Argumente. Der Niedergang vom wehrhaften Mann hin zum trommelnden Vaterlandsverräter Prinz Harry reihe sich dem nahtlos an. Wir sollen lernen, unsere Gefühle auszuleben, da eine emotionale Person leichter zu kontrollieren ist. Das Ziel ist schließlich die völlige Abhängigkeit von der Regierung.

Mit Hilfe der Psychotherapie zum perfekten Untertan? 

Es gilt, so Tate, den Menschen die Idee des absoluten Egoismus zu vermitteln, sodass sie sich für nichts mehr interessieren, was außerhalb ihrer selbst geschieht – weder für eine Gemeinschaft noch ihre Stadt oder gar ihr Land. Der ideale Bürger sei laut Andrew Tate selbstverliebt, immer am Rande einer Depression stehend, vorwiegend in seinem eigenen Kopf unterwegs und besessen von den eigenen Gefühlswelten, während er gleichzeitig davon überzeugt ist, dass er irgendwie unterdrückt werde (Patriarchat!) und ein Opfer emotionalen Missbrauchs geworden sei (Kindheitstrauma!). Um diesen Bürger zu kreieren, sei Therapie ein fantastischer Weg. „Wenn Sie jemanden davon überzeugen, dass er stundenlang pro Woche auf einem Stuhl sitzen und über das Gefühl sprechen muss, das er letzten Donnerstag in der Küche hatte, dann erschaffen sie mentale Erkrankungen. (…) Ich kann mir keinen schnelleren Weg vorstellen, das eigene Selbstverständnis zu ruinieren und die Fähigkeit zu zerstören, den Gefahren des Lebens zu widerstehen, als eine Therapie zu machen.“ 

Kann Selbstliebe sündhaft sein?  

Hat Tate an dieser Stelle etwa recht? Sollten wir unseren Gefühlen weniger Beachtung schenken und dafür öfters mal die kalte Schulter zeigen? Ist es nicht gerade lobenswert, sich über sein eigenes Verhalten und die eigenen blinden Flecken bewusst zu werden? Und sollte es nicht eine Selbstverständlichkeit sein, bei starkem psychischem Leid auch das Konsultieren von professioneller Hilfe in Erwägung zu ziehen? Schließlich gibt es Erkrankungen der Seele, bei denen eine psychotherapeutische Behandlung ratsam oder sogar unbedingt erforderlich ist. Gewiss haben sich auch die meisten von uns schon mal gewünscht, unsere Eltern oder Großeltern hätten zunächst mit ihrer eigenen Lebensgeschichte aufgeräumt, bevor sie ihre destruktiven Verhaltensweisen oder Gedankenmuster an uns weitergaben. 

Unweigerlich muss ich hier aber auch an meinen Großvater denken. Mein Opa starb einige Jahre nach Kriegsende an einer kriegsbedingten Erkrankung. In den Jahren vor seinem Tod bekam er allerdings noch drei Kinder, kümmerte sich um Haus, Hof und Geschäft. Was wäre gewesen, hätte er stattdessen erst mal sein Kriegstrauma geheilt (was so ganz nebenbei mit Sicherheit schwerwiegender war als so manches unser heutigen psychischen Alltags-Wehwehchen)? Was wäre gewesen, hätte er seine Zeit mit Achtsamkeitsübungen, Atemübungen und der Suche nach sich selbst verbracht? Meine Mutter wäre wahrscheinlich heute nicht auf der Welt. Und somit auch ich nicht.

Lesen Sie Morgen in Teil 2: Selbstliebe oder Selbstsucht? – Das Geschäft mit der mentalen Gesundheit.

 

Marei Bestek, Jahrgang 1990, wohnt in Köln und hat Medienkommunikation & Journalismus studiert.

Foto: Achgut.com

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Christoph Schriever / 27.08.2023

Einer der besseren Artikel auf Achse. Vielen Dank dafür! Und: Gut, dass wir darüber gesprochen haben!

Jürgen Fischer / 27.08.2023

Das Ganze ist ein Geschäftsmodell. Und da greifen mehrere Faktoren geradezu wunderbar harmonisch-kausal ineinander: nicht zuletzt hat sich die Zahl der niedergelassenen Psychotherapeuten, zumindest hier im Ort, während und nach der Corinna-Panik vervielfacht. Und die nehmen jetzt alles mit, was geht, nach dem Motto Neurosen ham’ nicht nur Mimosen. Die Politik tut das ihrige dazu, und die Kasse zahlt’s ja (komisch, da sagt Kalle nix von Überlastung ...). Warum gab’s das früher nicht? Ganz einfach, da hatten die Leute keine Zeit für sowas und mussten was tun. Heute, in Zeiten der Selbstverwirklichung und Schwafelwissenschaft wissen sie nicht mehr, was sie anfangen sollen mit ihrer Zeit. Ich schreib’s gerne nochmal: Die Menschheit geht nicht an einer Naturkatastrophe zugrunde, sondern an ihrer eigenen Blödheit.

J. Harms / 27.08.2023

Ich warte sehnsüchtig darauf das Canabis endlich frei gegeben wird, lange halte ich Deutschland unbekifft nicht mehr aus!

J. Mueller / 27.08.2023

Alles nicht so schlimm wie das, was uns die Genderprofessorenden*innen aufzwingen. Deren Dreck macht wirklich psychisch krank!

dina weis / 27.08.2023

Ich habe durchaus noch alle Tassen im Schrank (habe grade nachgeschaut), was mich aber durchaus krank macht ist der Zustand der ganzen Gesellschaft mitsamt der Politik, die einer Irrenanstalt gleich kommt. Wie man soll man sich davor schützen ,um nicht auch krank zu werden. Es wird immer schwieriger, obwohl man ständig versucht sich abzugrenzen. Die einzige Idee, die noch bleibt, ist Flucht, dorthin wo “Gestörte” nicht so zahlreich vorkommen.

Bernhart Diener / 27.08.2023

Bestechende Beschreibung des gegenwärtigen Zustands unserer Gesellschaft! Großartig. Natürlich -muss man hinzufügen- nicht der gesamten, sondern von 80% .

armin_ulrich / 27.08.2023

“Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Trigger“. Der medizinische Fachbegriff hat sich erst in den letzten Jahren in unsere Alltagssprache geschlichen.” Es ist auch ein Begriff aus der Digitaltechnik. Es gibt Schaltungen, die mit einem kurzen Impuls angeschaltet werden (getriggert werden), und den neuen Zustand für einen längeren Zeitraum behalten.

armin_ulrich / 27.08.2023

“Apropos „toxisch“: Es ist noch gar nicht so lange her, da hätten die meisten diesen Begriff wohl eher in den Chemieunterricht verortet. Stattdessen sprechen wir heute von toxischem Verhalten, toxischen Beziehungen oder toxischer Männlichkeit.” Wer schon immer wissen wollte, was man/weib/div sich darunter vorzustellen hat, der/die/dens möge sich auf youtube das Video >> Chemsex – Warum einige Schwule auf Drogen Sex haben | Y-Kollektiv <<. Das Video zeigt eine (nicht nur im übertragenen Sinne ) toxische Beziehung. Darin sieht man/weib/div, den Klimaaktivisten Tadzio Müller bei anderen Aktivitäten. Achtung Spoiler: die Geschichte geht gut aus, beide haben sich getrennt, und Tadzio macht Wolfs Depressionen öffentlich. Was für ein feinsinniger Mensch Tadzio doch ist. Dem geht es gut. Wolf sei ein Besuch bei einer klimaskeptischen Veranstaltung geraten.

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