Das vor fast genau 90 Jahren erschienene Maxim Gorki-Epos „Der Weißmeer-Ostsee Kanal Josef Stalin“ ist ein frühes Beispiel von Haltungsjournalismus. Warum dieses Buch ins Deutsche übersetzt werden muss.
„Sie war groß, etwas gekrümmt, und ihre von langer Arbeit und den Schlägen ihres Mannes ausgemergelte Gestalt bewegte sich lautlos, etwas schief vorwärts, als fürchtete sie stets, an etwas anzustoßen. In ihrem breiten, ovalen, von Runzeln durchfurchten, aufgedunsenen Gesicht blinkten dunkle, unruhig traurige Augen wie bei den meisten Frauen in der Vorstadt. Über die rechte Braue lief eine tiefe Narbe, welche die Braue ein wenig in die Höhe zog, und es schien, dass auch ihr rechtes Ohr etwas höher saß; das gab ihr einen Ausdruck, als wenn sie stets furchtsam auf etwas horchte.“
Maxim Gorkis Schilderung vom „vierzigjährigen Mütterchen“ aus dem tristen russischen Leben der vorrevolutionären Zeit im Roman „Die Mutter“ belegt die Erzählkunst des russisch-sowjetischen Literaten. Sämtliche Werke Gorkis wurden ins Deutsche übersetzt.
Mit einer Ausnahme: Am 26. Januar 1934 erhielten die Delegierten des siebzehnten Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ein Geschenk, welches als Mahnmal in die russische Literaturgeschichte eingehen sollte. Ein opulent aufgemachter Geschenkband mit Stalins Konterfei, über ein Kilogramm schwer. Er umfasst 616 Seiten und trägt den Namen „Беломорско-Балтийский канал имени Сталина“ (Der Weißmeer-Ostsee Kanal namens Stalin). Untertitel: „Geschichte des Baus“. Auf der Titelseite steht: „Unter der Redaktion von Maxim Gorki, Leopold Awerbach und Semjon Firin“.
Das mir vorliegende gescannte Dokument ist mit Stempeln übersät: „Nationalbibliothek Wien“, „724385-B“, „Karten-Abt.“ und „gesperrt“, letzterer in Frakturschrift. Der Name Awerbach auf der Titelseite ist mit blauem Buntstift durchgestrichen. Auf Seite zwei findet sich ein Stempel in kyrillischen Buchstaben: „Staatsbibliothek Lenin“. Das Erscheinungsbild des Buches spiegelt seine wechselvolle Geschichte – und die seiner Urheber. Auf Seite drei prangen die Namen von 36 Schriftstellern, die das Werk in Kollektivarbeit schufen. Die Bebilderung stammt von dem bekannten Fotograf Alexander Rodtschenko. Eine Kurzfassung des Gorki-Epos in englischer Sprache wurde im Jahr 1935 publiziert. Eine deutsche Übersetzung existiert nicht.
Propagandistische Mission: die Umerziehung der Lagerhäftlinge
Der Weißmeerkanal erstreckt sich auf 227 Kilometern von Powenez nach Belomorsk. Er verbindet Sankt Petersburg mit dem Weißen Meer. Auf Stalins Befehl erbauten mehr als 100.000 Häftlinge den Kanal in zwanzigmonatiger Rekordzeit von Oktober 1931 bis Juni 1933. Gebaut wurde weitgehend in Handarbeit, unter Leitung von Naftali Frenkel, ohne moderne Maschinen. Am 2. August 1933 wurde der Weißmeerkanal seiner Bestimmung übergeben. Seine wirtschaftliche und militärische Bedeutung war gering und ist es bis heute.
Das Gorki-Epos ist ein frühes Beispiel von Haltungsjournalismus. Vordergründig handelt das Buch vom Kanalbau. Seine propagandistische Mission betrifft indes die Umerziehung der Lagerhäftlinge, in der damaligen sozialistischen Diktion sogenannte reaktionäre kapitalistische Elemente, zu sozialistischen Helden unter der Führung von Tschekisten und der KPdSU.
Über die Eckdaten des Gorki-Epos existiert hier ein deutscher Wikipedia-Eintrag. Wesentlich detaillierter und aussagekräftiger ist hingegen die russische Version. Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn schreibt im Vorwort zu seinem Buch Archipel Gulag: „Material für dieses Buch lieferten auch SECHSUNDDREISSIG von MAXIM GORKI angeführte sowjetische Schriftsteller, die Verfasser des Buches über den Weißmeer-Kanal, jenes schändlichen Werkes, in dem zum ersten Mail in der russischen Literatur der Sklavenarbeit Ruhm gesungen wurde.“ Zu Beginn lohnt sich ein Blick auf die Gliederung sowie auf einige Passagen aus Gorkis Feder.
„Den Klassenfeind besiegen“
Das Gorki-Epos gliedert sich in 15 Kapitel. Bereits die Überschriften sind aufschlussreich: 1. Die Wahrheit des Sozialismus, 2. Das Land und seine Feinde, 3. Die GPU [1], die Ingenieure und das Projekt, 4. Die Häftlinge, 5. Die Tschekisten, 6. Die Leute wechseln ihre Berufe, 7. Die Kanalarmisten, 8. Geschwindigkeiten und Qualität, 9. Den Klassenfeind besiegen, 10. Der Sturm auf die Wasserscheide, 11. Der Frühling stellt den Kanal auf die Probe, 12. Eine Geschichte des Umschmiedens, 13. In Stalins Namen, 14. Die Genossen, 15. Erste Erfahrung. Kapitel 1 und 15 tragen den alleinigen Namen von Gorki. Die anderen Kapitel wurden jeweils von mehreren Mitgliedern des Autorenkollektivs verfasst. Das Quellenverzeichnis auf Seite 614 umfasst 28 Einträge, darunter [1] Regierungsbeschlüsse zum Bau und zur Inbetriebnahme des Kanals, [14] Ein Satz Wandzeitungen der Lagerstandorte („Lagpunkt“), [25] Stenogramme der Gespräche zwischen den Schriftstellern und ehemaligen Häftlingen, die als Zivilisten an neuen Baustellen der Sowjetunion arbeiteten, [26] Tausende Briefe von Gefangenen.
Gorkis eingangs zitierte bildhafte Sprache von 1906, dem Erscheinungsjahr „Der Mutter“, steht in Kontrast zum sozialistischen Pathos der von ihm verfassten Kapitel 1 und 15 des Weißmeerkanals aus dem Jahr 1934. Zwei Zitate mögen dies belegen.
Das erste Kapitel beginnt mit den Worten [2]:
„Zehn Jahre lang ist die Partei der Bolschewiki nun ohne Wladimir Iljitsch Lenin die Verkörperung des Geistes und des Willens des Proletariats der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in ihrem kraftvollen und erstaunlich produktiven Werk. Von uns gegangen ist der brillante Initiator des revolutionären Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse. Doch mit jedem Jahr bereichert die revolutionäre, kulturelle und wirtschaftliche Arbeit der Partei Lenins das einst halbwilde Bauernland mit grandiosen Ergebnissen ihrer Führung. Und jedes Jahr werden der Umfang und die Bedeutung von [Wladimir] Iljitschs [Lenins] organisatorischer Arbeit immer deutlicher sichtbar - der herausragende Mut seiner Gedanken, die Fehlerfreiheit seiner Berechnungen und seine seltene Gabe, die Zukunft vorherzusehen.“
Im Schlusskapitel schreibt Gorki:
Doch der Sieg, von dem wir hier sprechen, hebt sich deutlich von den üblichen ab. Die Bedeutung des Sieges liegt nicht nur darin, dass der Weißmeerkanal die physische Geographie unseres Landes zum Besseren verändert, seine Verteidigungsfähigkeit stärkt und hervorragend zur Entwicklung der Wirtschaft beitragen wird. Gleichzeitig erzählt dieses Buch vom Sieg einer kleinen Gruppe von Menschen, die von der Idee des Kommunismus diszipliniert worden waren, über Zehntausende sozial schädlicher Elemente.
Diese Zitate belegen die Metamorphose vom Nobelpreisanwärter zum Systemschreiber, der in der mondänen Rjabuschinski-Villa in Moskau residierte. Entstehung und Inhalt des Buches lassen einige wiederkehrende Merkmale des Haltungsjournalismus erkennen: Die Bestechung von „Kulturschaffenden“ durch Recherchereisen, die Huldigung der Obrigkeit durch Ehrenautorschaften und anderen Publikationskitsch, den Ersatz von Wahrheit durch Wunsch sowie die Doppelmoral zwischen den eigenen Taten und denen des politischen Gegners.
Reisen bildet… und korrumpiert
Ein fester Bestandteil des Haltungsjournalismus ist die Beeinflussung von „Kulturschaffenden“ durch Bildungs-, Recherche- und Delegationsreisen. So begann die Arbeit am Gorki-Epos am 17. August 1933 mit einer Studien- und Besichtigungsreise von 120 Schriftstellern von Moskau über Leningrad zum Weißmeerkanal. Gorki soll an der Reise nicht teilgenommen haben. Doch waren zahlreiche prominente Schriftsteller von der Partie, zum Beispiel Alexei Tolstoi, Michail Soschtschenko, Ilja Ilf, Jevgeni Petrov und Walentin Katajev.
Der Schriftsteller Alexander Avdeenko erinnert sich:
„Am Abend bringt uns ein Buskonvoi zum Leningrader Bahnhof. Auf dem Bahnsteig wartet ein funkelnder Sonderzug mit Polstersitzen, frisch lackiert und mit verspiegelten Fenstern. Wir setzen uns hin, wo wir wollen. Von dem Moment an, als wir Gäste der Tschekisten wurden, beginnt für uns der Kommunismus. Wir essen und trinken kostenlos und nach Herzenslust: Geräucherte Wurst, Käse, Kaviar, Obst, Schokolade, Wein. Kognak. Und das im Hungerjahr.“ Evgeni Gabrilowich ergänzt: „Und die ganze Nacht über werden die Abteile mit Bier und Sandwiches versorgt – von Mitarbeitern der Staatssicherheit in keinem geringeren Rang als dem des Oberstleutnants.“
Gabrilovich schreibt über die vom Geheimdienst organisierten Begegnungen mit Häftlingen:
„Und so segelten wir – das Gewissen und der Stolz des russischen Landes – entlang des neu eröffneten Belbaltkanals [3] von einem Lager zum anderen und überall auf den Piers wurden wir von Orchestern von Gefangenen begrüßt. Die Gefangenen waren in brandneue, gewaschene Uniformen gekleidet; rasiert, glücklich, schüchtern, strahlend, und es war unmöglich zu glauben, dass dies (zu einem nicht geringen Teil) genau der achtundfünfzigste [4] Artikel ist.“
Diese Reise bildete den Ausgangspunkt für die Schreibarbeit. Den Geschwindigkeiten des Kanalbaus nacheifernd, entstand das Gorki-Epos ebenfalls in Rekordgeschwindigkeit zwischen August 1933 und Januar 1934. Nach Redaktionsschluss am 12. Dezember 1933 wurde das Werk von einem 122-köpfigen Stoßtrupp in 38 Tagen gedruckt und am 26. Januar 1934 den Delegierten des XVII. Parteitages der KPdSU überreicht.
Huldigung der Obrigkeit
Treuebekundungen an Partei und Regierung durch Publikationskitsch wie Widmungen, Schirmherrschaften, Vorworte, Ehrenherausgeberfunktionen und Scheinautorschaften sind Naturkonstanten des Haltungsjournalismus. Das Gorki-Epos beginnt auf dem Inneneinband mit der Widmung: „Das Organisationskomitee des Schriftstellerverbandes der Sowjetunion widmet dieses Buch auf Vorschlag des gesamten Autorenkollektivs […] dem XVII. Parteitag der Bolschewiki.“
Auf der Titelseite werden neben dem tatsächlichen Kopf des Projekts Maxim Gorki auch Leopold Awerbach und Semjon Firin als Herausgeber benannt. Awerbach war Literaturkritiker, überzeugter Stalinist und Herausgeber der Zeitschrift „Auf literarischem Posten“. Sein Beitrag zu Kapitel 14 – laut Autorenverzeichnis auf Seite 615 als einer von acht Autoren – hielt sich vermutlich in Grenzen. Ausschlaggebend für die ehrenvolle Herausgeberposition dürfte eher seine Rolle als Literaturfunktionär gewesen sein. Nikolai Aseev bezeichnete ihn als „Literaturgangster“, zuweilen gar als „Literaturdiktator“. In Realität dürfte es sich um einen Julius Streicher im Westentaschenformat gehandelt haben. Am 4. April 1937 wurde Awerbach als ein naher Verwandter des gestürzten Geheimdienstchefs Genrich Jagoda verhaftet, wegen „Beteiligung an einer antisowjetischen verschwörerischen Terrororganisation“ angeklagt und am 14. August 1937 hingerichtet.
Semjon Firin war Oberaufseher des Belbaltlag [5] und ranghöchster Vertreter des Geheimdienstes im Schreibprojekt. Er begleitete die Schriftstellerdelegation während der gesamten „Recherchereise“. Ausweislich des Autorenverzeichnisses stammt keine einzige Zeile aus seiner Feder. Dabei wäre er für das Kapitel „Tschekisten“ ideal qualifiziert gewesen. Alexander Solschenizyn bezeichnete ihn als einen der „wichtigsten Handlanger Stalins und Jagodas, den wichtigsten Aufseher des Weißmeerkanalprojekts, einen der sechs angeheuerten Mörder“ … die für den Tod zehntausender Menschen verantwortlich gewesen seien. Als treuer Gefolgsmann Genrich Jagodas ereilte ihn das gleiche Schicksal wie seinen Vorgesetzten. Am 14. August 1937 wurde er zum Tode verurteilt und – Ironie oder Tragik des Schicksals - am gleichen Tag erschossen wie Awerbach.
Mit dem Sturz und der Liquidierung des für den Bau des Weißmeerkanals verantwortlichen Geheimdienstchefs Jagoda wurden sämtliche Exemplare des Gorki-Epos eingezogen und vernichtet. Heute sind nur noch wenige Papierexemplare vorhanden.
Wunsch ersetzt Wahrheit
Ein unumstößliches Merkmal des Haltungsjournalismus ist der Ersatz von Wahrheit durch Wunsch. Der Bau des Weißmeerkanals fand unter unmenschlichen Bedingungen statt und forderte nach offiziellen Angaben mindestens 10.000 Tote, nach inoffiziellen Schätzungen eher 100.000. Darüber findet sich in dem Buch kein Wort. Obwohl Gorki ausweislich seiner frühen literarischen Werke sehr wohl in der Lage war, menschliches Leid einfühlsam zu beschreiben, ist diese Fähigkeit im Gorki-Epos nicht mehr nachweisbar. Das Buch atmet sozialistische Weltrettungsrhetorik von der ersten bis zur letzten Zeile. Der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit wird an der folgenden Beschreibung der Häftlinge deutlich:
„Sie alle [die Häftlinge] sind sich einig, dass der wichtigste und ursprünglichste Impuls für ihre Wiedergeburt die einfache und menschliche Einstellung ihnen gegenüber seitens der Organisatoren der Arbeit, den Vertretern der GPU, war – den Wächtern des Proletariats, Menschen mit eiserner Disziplin und dieser erstaunlichen seelischen Verfasstheit, die nur durch schwierige und umfangreiche Alltagserfahrungen, durch langjährige Kommunikation mit „sozial gefährlichen“ Menschen, mit den unbewussten und bewussten Feinden des Proletariats erlangt werden konnten.“
In Wirklichkeit wurden Häftlinge von den Aufsehern erniedrigt, gefoltert, erschossen. Inhaftierte Frauen wurden vergewaltigt oder von höherrangigen Aufsehern als Mätressen missbraucht.
Doch es wäre zu einfach, das Werk als reines Propagandadokument abzuqualifizieren. Denn es enthält zahlreiche interessante zeitgeschichtliche Ansichten sowie bemerkenswerte Fakten in hoher Dichte. So findet sich in Kapitel 2 ein Verweis auf die damalige (Pseudo)-Wissenschaft:
„Mitschurin zwang Pflanzen aus heißen Klimazonen, im Norden zu leben.“ Die Stadt Mariupol, kürzlich im Zentrum der Ukraine-Berichterstattung, wird wie folgt erwähnt: „Die Stahlarbeiter des Lenin-Stahlwerks in Mariupol, die an den Öfen Nr. 4 und 10 arbeiteten, produzierten vier Schmelzabstiche pro Tag und übertrafen damit Deutschland.“, Auch skurille Ereignisse aus dem Alltagsleben werden beschrieben: „Auf Karren wurde eine Ladung Fleischkonserven zur Fabrikgenossenschaft gebracht. Der Verkauf läuft rege. Aber am Abend versammeln sich schreiende Frauen an der Genossenschaft und werfen offene Dosen auf den Verkäufer, der sich unter der Theke versteckt. Die Dosen enthalten übelriechendes Dosenfleisch mit Zähnen, Haaren und Rindergenitalien. Eine Untersuchung ist im Gange. Es stellt sich heraus, dass die Konserven von Saboteuren in den Führungsetagen der Konservenfabriken verbreitet wurden.“
Ähnlich detaillierte Informationen finden sich zum Entwurf des Kanals, zu den Bauarbeiten und zu handelnden Personen. Die Schilderungen leuchten zwar im rosaroten Licht sozialistischer Ideologie, enthalten jedoch zahlreiche authentische Dokumente, die auf anderem Weg kaum beschaffbar sein dürften.
Doppelmoral
Immer wieder ist beim Haltungsjournalismus eine Diskrepanz zwischen der Dämonisierung des Gegners und der Glorifizierung der eigenen Mitstreiter zu beobachten. Vor dem Hintergrund der panegyrischen Gesänge aus den Kapiteln 1 und 15 ist es deshalb aufschlussreich, mit welcher Kompromisslosigkeit die Autoren die Untaten des kapitalistischen Auslands an den Pranger stellen.
So findet sich in Kapitel 2 die folgende Schilderung der Verbrechen des Nationalsozialismus:
„Anfang März wurde Fritz Humbert aus Heidenau in Gewahrsam genommen. Ihm wurde vorgeworfen, ‚Munition und Waffen vergraben‘ zu haben. Er wurde in die Festung Königstein [bei Dresden] gebracht und von dort ins Konzentrationslager Hohnstein [in der Sächsischen Schweiz]. Dort wurde er angekettet und gefoltert. Die Folter, die er ertragen musste, war so grausam, dass er starb. Seiner Frau wurde mitgeteilt, er sei an Magen- und Darmblutungen gestorben.
Die Arbeiter aus Heidenauer Unternehmen sammelten Geld und bestanden darauf, dass der Leichnam nach Heidenau überführt wird. Dies wurde genehmigt, allerdings mit der strikten Auflage, dass der Sarg nicht geöffnet werden dürfe. Die Arbeiter hielten sich jedoch nicht an diese Anweisung. Keiner der Augenzeugen wird jemals vergessen, was er sah. Das Gesicht war buchstäblich in Stücke gerissen. Die Zunge war völlig verschwunden. Die Arme trugen die Spuren von schweren Fesseln, das Hinterteil war ein zerfetztes Stück Fleisch. Der Anus war mit einem Lappen verstopft worden, um Blutung zu stoppen. Die Wirbelsäule war gebrochen, die Genitalien waren zerrissen, ebenso wie der rechte Oberschenkel. Der Körper war so eingedrückt, dass die Eingeweide hervortraten. Die abgebissenen Lippen zeugten von den schrecklichen Qualen, die Humbert erlitten hatte.
Als sich eine Menge empörter und entsetzter Arbeiter um die Leiche versammelte, brachten die Sturmtruppen den Leichnam wieder weg. Der Henker [Manfred Freiherr von] Killinger [6] erschien persönlich mit einem ganzen Stab von Polizisten und Ärzten in Heidenau. Eine großangelegte Durchsuchung der Wohnungen der Arbeiter wurde durchgeführt, um Apparate und Fotos zu beschlagnahmen. Augenzeugen wurden unter Androhung schwerster Strafen aufgefordert, nichts zu sagen. Diejenigen, die bei der Tat anwesend waren, wurden eigens vorgeladen und ermahnt, ‚den Mund zu halten‘.“
Die Schilderung ist insofern bemerkenswert, als sämtliche beschriebenen Verbrechen in der Sowjetunion der Stalinzeit ebenso anzutreffen waren. Davon steht im Gorki-Epos selbstredend kein Wort.
Das Gorki-Projekt: Übersetzung ins Deutsche
Das Gorki-Epos ist ein zeitgeschichtliches Dokument aus dem Genre Propagandaliteratur des sozialistischen Realismus. Es gibt meines Erachtens mindestens drei Gründe für eine Übersetzung ins Deutsche. Obwohl nur das erste und letzte Kapitel aus der alleinigen Feder von Gorki stammt, während er für die anderen 13 Kapitel nur Pate gestanden hat, ist es aus Respekt für diesen widersprüchlichen Literaten wichtig, ein vollständiges Bild seines Schaffens zu gewinnen und dieses für einen deutschen Leserkreis zugänglich zu machen. Der zweite Grund für eine Übersetzung liegt darin, dass das Gorki-Epos ungeachtet seines Propagandacharakters zahlreiche Originaldokumente und authentische Informationen enthält, die gerade heute interessant sind. Während der Zugriff auf russische Geheimdienstarchive auf absehbare Zeit selbst für Fachleute schwierig sein dürfte, würde eine deutsche Version des Werkes wertvolle Einsichten in Regierungsbeschlüsse und Geheimdienstanweisungen ermöglichen. Drittens ist es gerade heute wichtig, die Ursprünge des Haltungsjournalismus zu erkunden, um sein Unwesen zu bekämpfen.
Dieser Artikel ist der Aufruf zu einem „Gorki-Projekt“. Sein Ziel besteht darin, eine deutsche Übersetzung des Werkes anzufertigen und diese in elektronischer und - im Fall eines entsprechenden Interesses - auch in gedruckter Form einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Was muss dazu getan werden?
Das Dokument liegt hier in russischer Sprache in maschinenlesbarer Form vor. Eine gescannte Version im Umfang von 217 MB war bis zum Jahr 2021 über die russische Staatsbibliothek für einen symbolischen einstelligen Euro-Betrag per Kreditkartenzahlung erhältlich. Um das Dokument ins Deutsche zu übersetzen, werden Freiwillige mit sehr guten Russischkenntnissen gesucht. In einem ersten Schritt müsste eine maschinelle Rohübersetzung angefertigt werden. Die Hauptarbeit besteht in einem zweiten Schritt darin, die Rohübersetzung zu korrigieren und in eine publikationsfähige Endfassung zu bringen. Mit dem Schweizer Weltbuch-Verlag steht für die Veröffentlichung ein kompetenter Partner bereit. Interessenten melden sich bitte beim Autor unter gorki-projekt-thess@t-online.de Ziel ist es, das Projekt spätestens am 18. Juni 2026, dem neunzigsten Todestag des Schriftstellers fertigzustellen.
Das Gorki-Projekt könnte einen Beitrag zur Geschichtsbildung und zum Gedenken an die Opfer sozialistischer Diktatur leisten.
André D. Thess wurde 1964 in Leningrad geboren und ist zweisprachig aufgewachsen. Heute ist er Universitätsprofessor, Leiter eines Energieforschungsinstituts. Die im vorliegenden Beitrag getroffenen Aussagen sind rein privater Natur.
[1] Kürzel für den sowjetischen Geheimdienst.
[2] Alle Übersetzungen aus dem Russischen vom Autor
[3] Russische Abkürzung für Belomorsko-Baltiiski Kanal (Weißmeer-Ostsee-Kanal)
[4] Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches regelte die Strafen für „konterrevolutionäre Aktivitäten“
[5] Kurzform für Weißmeer-Ostsee-Lager
[6] NSDAP-Fraktionsvorsitzender im Sächsischen Landtag, später Reichstagsabgeordneter der NSDAP