Peter Grimm / 18.11.2023 / 14:00 / Foto: Imago / 48 / Seite ausdrucken

Gemeinsames Verdrängen mit Erdogan? 

Man hätte auch das Erdogan-Gastspiel klar als das bezeichnen können, was es ist, nämlich eine bodenlose Unverschämtheit. Aber dazu sind unsere Regierenden selbstverständlich zu diplomatisch, auch wenn der Möchtegern-Sultan demonstriert, wie herzlich egal ihm die Befindlichkeiten seiner Gastgeber sind.

Der Auftritt des türkischen Präsidenten ist mehr als nur ein Akt öffentlicher Geringschätzung gegenüber der deutschen Regierung. Er ist auch Anlass für eine äußerst wichtige Frage, über die keiner reden mag, denn der Despot aus Ankara ist ja offiziell unser Verbündeter. 

Gelegenheiten, sich als starker Mann (würde es nicht sofort wie ein Nazi-Vergleich wirken, müsste man besser sagen: als starker Führer) darzustellen, lässt Recep Tayyip Erdogan nur ungern verstreichen. Natürlich nimmt auch er Rücksichten, wenn er sie nehmen muss. Insofern ist ein außenpolitischer Auftritt von ihm immer ein guter Indikator dafür, wie groß sein Respekt vor dem Gastgeber und dessen Befindlichkeiten ist. Der Respekt vor der deutschen Bundesregierung ist sichtbar gering, wie wir gestern demonstriert bekamen. 

Nun ist diese Bundesregierung selbst schuld, dass sie immer weniger ernst genommen und immer häufiger vorgeführt wird. Da auch der Standard journalistischer Regierungskritik deutlich abgenommen hat, fällt das vielleicht beim heimischen Pressekonsum nicht so auf. Die meisten Berichterstatter zeigten sich erleichtert, dass sich der Bundeskanzler im Angesicht des türkischen Regenten zur Solidarität mit Israel bekannt hat, als Erdogan mit antiisraelischen Ausfällen glänzte. 

Man hätte auch den Erdogan-Auftritt klar als das bezeichnen können, was es ist, nämlich eine bodenlose Unverschämtheit. Aber dazu sind unsere Regierenden selbstverständlich zu diplomatisch, auch wenn der Möchtegern-Sultan demonstriert, wie herzlich egal ihm die Befindlichkeiten seiner Gastgeber sind. 

Das alles schluckten die deutschen Spitzenpolitiker

Immerhin, der Kanzler hat nicht geschwiegen, wie seinerzeit beim Besuch des palästinensischen Machthabers Mahmud Abbas, als dieser über durch Israel begangene Holocausts fabulierte. Und, wie unsere Medien aufmerksam vermerkten, formulierte der Herrscher aus Ankara ja nicht ganz so scharf wie daheim. Er bezeichnete die islamistische Terrororganisation Hamas nicht als "Befreiungsbewegung" und zieh Israel nicht des "Völkermords" in Gaza, sondern stellte "nur" die Geiselnahme der Hamas nach ihrem Massenmord in Israel auf eine Stufe mit der Haft rechtsstaatlich verurteilter palästinensischer Terroristen in israelischen Gefängnissen. 

Ansonsten erfreute er sich offen seiner Unbefangenheit, als er sich beschwerte, dass sich die Deutschen wegen ihrer historischen Schuld mit Anklagen gegen den jüdischen Staat zurückhielten. Er aber hätte das Problem nicht und könne Israel anklagen. 

Das alles schluckten die deutschen Spitzenpolitiker und vermieden es, auf den offenen Affront ihres Gastes mit einem angemessenen Gegen-Affront zu reagieren. Zeit zum Nachdenken hätten die entsprechenden Mitarbeiter im Kanzleramt ja gehabt, denn dass Erdogan provozieren würde, dass er zeigen würde, was er sich alles gegenüber den Deutschen herausnehmen kann, war zu erwarten. Aber wie leider auf anderen Gebieten auch, geht man lieber furchtsam in Deckung und hofft, dann würde es schon nicht so schlimm kommen, statt eine deutliche Gegenwehr vorzubereiten. 

Immerhin funktioniert in weiten Teilen des polit-medialen Soziotops in Berlin die Abwehr allzu deutlicher Regierungskritik noch. Den Sprechblasenwellen mit der Binsenweisheit, dass man nun einmal in einer Welt voller Diktaturen und Autokratien auch mit Machthabern reden müsse, deren Politik einem nicht passe, konnte man nach dem Erdogan-Auftritt im Kanzleramt nicht entgehen. Und natürlich stimmt der Satz. Aber es ist ein elementarer Unterschied, ob man das souverän oder servil tut. 

Vor allem aber verdrängt man dabei den Umstand, dass es sich bei Erdogan nicht um irgendeinen Despoten aus dem Orient handelt, sondern offiziell immer noch um das Staatsoberhaupt eines verbündeten NATO-Staates. Die NATO soll doch, so heißt es allenthalben, auch eine Wertegemeinschaft sein. Aber was ist das für eine Wertegemeinschaft, die man mit Machthabern wie Erdogan teilt? 

Das ist natürlich eine Frage, der man sich gern stellt, aber sie muss dringend diskutiert werden. Gerade wenn die Zeiten immer unfriedlicher werden, kann man sich in einem Verteidigungsbündnis keinen Partner leisten, bei dem man im Ernstfall nicht weiß, auf wessen Seite er steht.

 

Peter Grimm, geboren 1965 in Ost-Berlin, war bis 1989 aktiv in der DDR-Opposition und arbeitet seitdem als Journalist, Autor und Dokumentarfilm–Regisseur. Betreibt u.a. den Blog sichtplatz.de

Foto: Imago

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Gerd Heinzelmann / 18.11.2023

Den Vogel abgeschossen hat er Lindner, er wäre so gerne neutral. Wahrscheinlich neutraler als die Schweiz, zusammen mit dem reaktivierten Altkanzler Schröder und seinen Kumpels in aller Welt (auch in der Schweiz). Wenn es nicht auch um Israel ginge, könnte man es für beschissene Satire halten. Das ist es aber nicht. Es ist Krieg. Israel hat die Gewissheit.

Dieter Ehrlich / 18.11.2023

Wie kann man auch Respeckt haben, vor den Berliner Schaumstoffprinzen mit ihrem obersten Wackeldackel???

Ralf Pöhling / 18.11.2023

Ich finde es erstaunlich, dass unsere Führung eine Retourkutsche nicht gebracht hat, obwohl sie offensichtlich ist: Die Türkei hat natürlich historisch keine Verpflichtung gegenüber den Juden und Israel. Aber sie hat die gleiche Verpflichtung gegenüber den Kurden. Den Kurden ist damals ein eigener Staat versprochen worden, als die Türkei ihre eigene Nation bekam. Das ist aber ausgeblieben. Der Kurdenstaat wird den Kurden bis heute nicht nur durch die Türkei verwehrt, die Türkei agiert gegen die Kurden auch noch nicht minder resolut, wie Israel gegen die Palästinenser. Im Gegenteil, sie begeht am laufenden Meter sogar genau die Kriegsverbrechen und den “Genozid” an den Kurden, den sie Israel immer bei den Palästinensern vorwirft. Wie oft ist die Türkei in die Kurdengebiete einmarschiert oder sogar in Syrien, um dort die Kurden nebst PKK unter Feuer zu nehmen? Und das sogar mittels Unterstützung durch den IS, der dort die schlimmst denkbaren Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen hat, genauso wie die Hamas kürzlich in Israel. Wenn Erdogan für Israel und die Palästinenser eine Zweistaatenlösung fordert, dann sollte unsere Bundesregierung nebst versammeltem Westen jetzt eine Zweistaatenlösung für die Türkei und die Kurden fordern, denn der Sachverhalt ist in keinster Weise politisch anders zu werten. Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen. Aber darauf muss man ihn dann auch hinweisen. Wir haben so viele Hebel, um die fundamental islamische Welt in ihrer “Israelkritik” argumentatorisch komplett zu demontieren, dass es mich schwer wundert, warum diese Hebel nie gezogen werden.

Wolfgang Richter / 18.11.2023

Wie fertig dieses Land hat, zeigt doch, daß offenbar von den Sicherheitsbehörden niemand mitbekommen wollte / hat, daß in einer Kölner Ditib-Moschee ein hochrangiger Taliban aus Afghanistan erschien und vor hiesigen Getreuen predigen und finanzielle HIlfe erbitten konnte. Und Ditib hat angeblich auch von nichts gewußt, da der Saal an einen Verein vermietet war.

A. Nölle / 18.11.2023

Gerade gelesen: Erdogan unterstellt Kanzler Scholz eine “Kreuzritter-Imperialisten-Struktur”. Wow. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, dass er drei Fremdworte in einem Redebeitrag unterbringt…

Marc Munich / 18.11.2023

@ “Gerade wenn die Zeiten immer unfriedlicher werden, kann man sich in einem Verteidigungsbündnis keinen Partner leisten, bei dem man im Ernstfall nicht weiß, auf wessen Seite er steht.” Sollte die Seite “im Ernstfall” nicht längst klar sein?  “Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.” (R. Erdogan)  “Israel, dein Ende ist nah” (yt.)  (R. Erdogan). Ja, mit solchen Partnern im besten Verteidigungsbündnis aller Zeiten braucht man wahrlich keine Angreifer mehr.  Apropos: Ist man in der mysteriösen Nordstream II-Affäre schon einen Schritt weiter oder schiebt man es jetzt neuerdings weiter der Ukraine zu?  Irgendeinen einen Grund für die verpatzte Revanche von Stalingrad müssen die Hauptakteure der Kriegstreiber und Russland-Ruinierer*INNEN schließlich langsam vorweisen, um sich (auch) aus dieser Pleite “gesichtswahrend” zurückziehen zu können… 

sybille eden / 18.11.2023

” deutsche Spitzenpolitiker “, -  hahaha, Comedy vom Feinsten ! Nur Sven Assmussen war besser !

W. Renner / 18.11.2023

Scholz ist als Kanzler genau so eine Unverschämtheit wie sein Besucher. Letzterer macht ein braunes Pfützchen auf den Roten Teppich und sagt zum Gastgeber, ätsch du darfst das nicht. Und der Gastgeber sondert dabei seine Sprechblasen ab und lässt das Pfützchen für sich wirken. Es gibt keinen Tag mehr, an dem man sich für diese Regierung nicht fremdschämen muss.

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