Die aktuellen Zahlen im täglichen RKI-Lagebericht vom Montag zeigen eines nur zu deutlich: Die von Bundeskanzlerin Merkel vorangetriebene, mütterlich strenge Politik ist ganz offensichtlich erfolgreich in der Bekämpfung der Pandemie. Sie ist sogar – und das lässt mich geradezu bewundernd zurück – rückwirkend erfolgreich: Die strenge Lockdown-Politik von Bund und Ländern, wirksam seit gestern, hat es vermocht, das Infektionsgeschehen im nachhinein abzumildern!
Wie schon häufiger erläutert, gibt es einen und nur einen zentralen zahlenmäßigen Kennwert, der – sofern zuverlässig errechnet – eine rationale Abschätzung erlaubt, wie stark sich der Krankheitserreger noch in der Bevölkerung verbreiten könnte, nämlich die „Reproduktionszahl“ R: Wie viele weitere Personen wird jemand durchschnittlich anstecken, der selbst infiziert wurde und die Krankheit durchmacht, mit Symptomen oder ohne? Wenn man Testergebnisse und den daraus abgeleiteten R-Wert ernstnimmt, die Bundeskanzlerin tut dies ja, dann lohnt es sich, die R-Lage ein wenig genauer anzuschauen.
Nehmen wir also alle montäglichen R-Werte des RKI seit Anfang Oktober. (Es gibt zwei Berechnungsvarianten, nämlich für 4 bzw. 7 Tage. Der Unterschied liegt darin, wie groß die Zeiträume sind, die miteinander verglichen werden, nämlich jeweils die letzten zurückliegenden „Ansteckungstage“, sozusagen eine Ansteckungs-Generation früher. Der 4-Tage-Wert reagiert kurzfristiger, aktueller, aber er leidet unter dem unterschiedlichen statistischen Verhalten zwischen Wochenende, Wochenanfang, im Laufe der Woche. Der 7-Tage-Wert ist daher stabiler und gibt besser den zugrundeliegenden Gesamttrend wieder. Ihn wollen wir also nun Revue passieren lassen.)
Folgende 7-Tage-R-Werte hat das RKI veröffentlicht: 1,08 am 5. Oktober // 1,25 am 12. Oktober // nochmals 1,25 am 19. Oktober // 1,30 am 26. Oktober // und nun, wirklich etwas überraschend: 1,04 am 2. November.
Nur unter erheblicher Verbiegung der deutschen Sprache
Im aktuellsten Bericht vom ersten November-Montag schreibt RKI dazu: „Die berichteten R-Werte liegen seit Anfang Oktober stabil deutlich über 1.“ (Seite 7 oben) Das ist, nebenbei gesagt, schon interessant, denn damit ist auch ein Wert von 1,08, wie vom 5. Oktober, in der Wahrnehmung des RKI „deutlich über 1“. Obwohl das 95%-Wahrscheinlichkeitsintervall für den statistisch nicht ganz exakt feststellbaren Wert zwischen 0,97 und 1,21 lag, offiziell, und damit sogar ein Stagnieren der Virus-Ausbreitung ohne weiteres möglich war.
Nun ist der Wert aber zuletzt auf 1,04 abgerutscht, und sogar dem RKI schwant irgendwie, dass sich das mit dem „deutlich über 1“ nur unter erheblicher Verbiegung der deutschen Sprache und jedes mathematischen Grundverständnisses halten ließe. Daher versteht man sich nun zu folgender Formulierung: „In den letzten Tagen hat der R-Wert leicht abgenommen, liegt aber weiter über 1. Das bedeutet, dass die Anzahl der neuen COVID-19-Fälle weiterhin zunimmt.“
Hui, das ist ja gerade noch mal gutgegangen. Allerdings: Diesmal liegt das „95%- Prädiktionsintervall“ zwischen 0,93 und 1,15 – das heißt etwas vergröbert, dass wir eine ungefähr Drittel-Wahrscheinlichkeit haben, dass die Ansteckungsumfänge gegenwärtig stagnieren oder sogar zurückgehen. Und das, obwohl sich die Test-Labore alle Mühe geben, weiterhin möglichst gefährlich wirkende Positiv-Testzahlen auf die Beine zu stellen, wie im aktuellen Beitrag von Dr. Gunter Frank erläutert. (Wobei viele davon vermutlich gar nicht mehr auf das ursprüngliche China-Virus ansprechen, sondern auf mutierte oder ähnliche Corona-Viren.)
Aber nehmen wir zugunsten einer auf höchste Vorsicht gestimmten Prognose an, die aktuelle Reproduktionsrate liege nicht nur bei 1,04, sondern nahe am oberen Grenzwert der Bandbreite, bei 1,1. Selbst das heißt nichts anderes, als dass – rein mathematisch gesprochen – die weitere Ausbreitung des Virus von einer rein linearen Entwicklung praktisch kaum unterscheidbar ist.
Das eigentlich Wundersame an der Politik der Bundesregierung
Selbst wenn R über acht Generationen hinweg bei 1,1 bleiben würde, was anzunehmen eigentlich nicht sauber begründbar scheint, wäre das Ergebnis nur wenig mehr als eine Verdoppelung der Infektionen. Da das Gesundheitswesen im realen Alltag von Praxen und Krankenhäusern gegenwärtig „business as usual“ schiebt – angesichts der ungemütlichen Jahreszeit – und die meisten Ärzte das Virus immer noch nur aus dem Fernsehen kennen, wäre das definitiv keine Gefahr.
Nehmen wir hingegen den tatsächlich angegebenen Wert von 1,04 und unterstellen für diesen ebenfalls gleichbleibende weitere acht Generationen, dann würde sich die Zahl der Ansteckungen gerade noch um ein gutes Drittel ausweiten. (Und übrigens, da das RKI die Lage so empfindet, als habe R nur „leicht abgenommen“: Würde noch R von eine Woche früher gelten, nämlich bei 1,3 liegen, dann würde sich über weitere acht Generationen ungefähr eine Verachtfachung der Infektionen je Woche ergeben, anstelle eines Zuwachses um ungefähr ein Drittel. Dieser Unterschied zwischen wahlweise Faktor 8 und Zuwachs nur bei 35% ist also für RKI „leicht abgenommen“. Nun ja.)
Das wesentliche an diesen Zahlen beziehungsweise an der Zahl von Anfang dieser Woche ist natürlich, dass die entsprechenden Meldungen von Positiv-Test-Ergebnissen irgendwann vor dem Wochenende reingekommen sind und dass die Ansteckungen noch einmal weiter zurückliegen, nämlich um die mittlere Inkubationszeit; also zum Teil schon in der vorletzten Woche.
Und das ist eben das eigentlich Wundersame an der Politik der Bundesregierung, dass nämlich der in der panikbeherrschten Diskussion drohende Lockdown, den wir nun seit dieser Woche in Aktion haben, schon ungefähr 10 Tage vorher das Virus so verschreckt hat, dass es seine Ansteckungstätigkeit massiv eingeschränkt hat. Da kann man sich vor der Kanzlerin nur verneigen, bei solchem durchschlagenden Erfolg. Eine Seligsprechung dürfte damit wohl bald bevorstehen.