Gastautor / 15.01.2021 / 06:08 / Foto: Pixabay / 56 / Seite ausdrucken

Die Schmuckfedertheorie

Von Michael Beleites  

Von der Überhöhung zur Erniedrigung der DDR-Bürgerrechtler. Was wir zur Überwindung der Vertrauenskrise beitragen können.

Noch vor zehn Jahren hatten die Bürgerrechtler der DDR einen durchweg guten Ruf: Sie waren diejenigen, die die 1989er Revolution auf den Weg gebracht und entscheidend für ihren gewaltfreien Verlauf gesorgt hatten. Durch ihren Mut und ihre Risikobereitschaft hatten im Herbst 1989 Hunderttausende ihre Angst verloren und waren für eine demokratische Zukunft auf die Straßen gegangen. Eine Erfolgsgeschichte. Oft eine Heldengeschichte. Liest man in den letzten Jahren von DDR-Bürgerrechtlern, so geht es meist um diejenigen unter ihnen, die sich auch heute kritisch zu Wort melden. Um Menschen, die „nach rechts abgedriftet“ oder „zur AfD übergelaufen“ seien. Um Bürger, die den „Klimaleugnern“ oder den „Coronaleugnern“ zugeordnet werden, zuweilen sogar den „Holocaustleugnern“. Wie ist diese Wendung zu verstehen?

Extreme Fallhöhe

Zunächst einmal hatten wir es tatsächlich mit einer Überhöhung zu tun. Was in den 1990er und 2000er Jahren über DDR-Bürgerrechtler geschrieben wurde, kam zumeist als Heldenepos daher: Wer gegen den SED-Staat gekämpft hatte, war immer auf der richtigen Seite. Er galt stets als Vorbild für die anderen, die weniger oder später mutig waren. Die Bürgerrechtler waren der Geschichte voraus – auf dem Weg zu einer rundum guten Geschichte. Was im Herbst 1989 auf den Straßen der untergehenden DDR gerufen wurde, hatte fortan einen quasi gesetzgeberischen Rang. Wir Bürgerrechtler gefielen uns so sehr in der Heldenrolle, dass es unter uns kaum jemanden störte, dass – ebenso wie die DDR und die Stasi – auch wir das Attribut „ehemalig“ vorangestellt bekamen. 

Solange man selbst zu einer überhöhten Gruppe gehört, bemerkt man freilich nicht so leicht, ob diese Bewertung wirklich angemessen ist. Und man fragt nicht danach, in wessen Interesse eine solche Überbewertung sonst liegen könnte. Dass nämlich der „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ und der „Erinnerung an die Friedliche Revolution“ immer öfter eine vordergründig legitimatorische Rolle für das neue System zukam, haben diejenigen deutlicher gespürt, die in der DDR zur äußerlich angepassten Mehrheit gehört hatten. Je mehr das „normale“ Leben in der DDR delegitimiert wurde, umso legitimer musste die pauschale Übernahme der bundesrepublikanischen Verhältnisse in Ostdeutschland erscheinen. So konnte dann auch die Forderung nach einer gesamtdeutschen Verfassungsdebatte beiseite gewischt werden. Die ersten, die den Heldengeschichten über Bürgerrechtler skeptisch gegenüberstanden, waren diejenigen 95 Prozent der früheren DDR-Bürger, die weder auf der Täter- noch auf der Opferseite gestanden hatten.  

Als sich ab 2015 die „Flüchtlingskrise“ zu einer akuten Vertrauenskrise in die Glaubwürdigkeit von Politik und Medien ausgeweitet hatte, ging alles ganz schnell: Gerade jetzt, als man moralisch integre und politisch unabhängige Personen dringend gebraucht hätte, um aus einem die Demokratie gefährdenden Vertrauensschwund zwischen Regierten und Regierenden herauszufinden, wurden frühere Bürgerrechtler reihenweise diffamiert. Oft genau wegen jenem Tun, das ihnen 1989 und 1990 eine hohe Anerkennung gebracht hatte: Weil sie das Gespräch mit „den anderen“ gesucht hatten. Nach der einfältigen Kontaktschuld-Logik wurden sie nun reflexartig jenen zugeordnet, mit denen sie gesprochen hatten. Das war schockierend für all jene Bürgerrechtler, die 1989 das getan hatten, was eine friedliche Revolution ausmacht: Mit den Anderen reden.

Keinem von uns, der mit SED-Funktionären und Stasi-Offizieren verhandelt hatte, war bislang eine Nähe zum DDR-System vorgehalten worden. Anders jetzt: Wer das Gespräch mit Pegida-Demonstranten oder „Neuen Rechten“ (die sich übrigens gerade deswegen so nennen, weil sie mit den alten Rechten, den Nazis, nichts zu tun haben wollen) gesucht hatte; wer dafür geworben hatte, ihnen zuzuhören, wurde als „rechtsradikal“ oder gleich als „Nazi“ gebrandmarkt. Wenn er ein früherer Bürgerrechtler war, dann fiel die Diffamierung besonders grobschlächtig aus, so als hätten die Medien und manche Politiker ihre jahrelange Überhöhung der Bürgerrechtler „wiedergutmachen“ müssen, indem sie diese nun schlechtmachten. Eine soziale Gruppe im freien Fall – und die Fallhöhe war hoch!

Die Struktur der Diffamierung        

Da ich selbst zu jenen gehöre, die, weil sie – aus einer nicht-rechten Perspektive heraus – mit und vor Rechten gesprochen hatten, fortan als „rechts-außen“ eingruppiert und ausgegrenzt wurden, bekam ich es deutlich zu spüren: Wenn man solches als früherer Bürgerrechtler tut, fallen Diffamierung und Dämonisierung bei weitem drastischer aus, als wenn man diese Vorgeschichte nicht hat. In einem Gespräch mit linken Freunden (ja, ich habe solche noch!), erfuhr ich jüngst von der in den Schulen der political correctness kommunizierten Schmuckfedertheorie: Wenn ich bei „Neuen Rechten“ spreche oder in deren Zeitschriften schreibe, spiele es in der Außenwahrnehmung keine Rolle, was ich dort sage oder schreibe – sondern nur wo ich dies tue. Dass ich die Gelegenheit nutze, gerade dort meine Argumente gegen sozialdarwinistische Ideen vorzubringen, welche ein zentraler Bestandteil der Nazi-Ideologie waren, wird nicht gesehen. Was gesehen wird, ist, dass die Rechten mich „als Schmuckfeder benutzen“, um ihre Seminare oder Zeitschriften mit meiner Bürgerrechtler-Biographie aufzuwerten.

Oft sind das gerade diejenigen, die selber in den Kategorien von „benutzen“ denken. Denn in solchen Momenten müssen sie feststellen, dass ich fortan für ihre (linken) Zwecke wohl nicht mehr „benutzbar“ bin. Schließlich gilt: Wer auch bei Rechten schreibt, darf künftig nur noch bei Rechten schreiben. Entscheidend ist hier aber etwas anderes: Die Logik der Schmuckfedertheorie will den als „Schmuckfeder“ geltenden für die anderen „unbenutzbar“ machen. Der Eifer bei der Diffamierung der auch „nach rechts offenen“ Bürgerrechtler folgt dem Bestreben, aus Schmuckfedern Schmutzfedern zu machen.   

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Diffamierungskampagnen zwar darauf aus sind, die Bürgerrechtler-Szene zu spalten – und dennoch beide Lager zugleich diskreditieren. Sowohl in Konstantin von Hammersteins Spiegel-Artikel „Was für Helden“ vom 7. Januar 2018 als auch in Gabor Halaszs Panorama-Beitrag „Vom SED-Gegner zum Corona-Leugner“ vom 26. November 2020 ist dasselbe Prinzip erkennbar: Die einen werden diskreditiert, indem ihnen pauschal „rechtes Gedankengut“ untergeschoben wird; die anderen werden nicht minder diskreditiert, indem ihre öffentliche Entsolidarisierung von früheren Weggefährten präsentiert wird – und sie damit als Menschen mit charakterlichen Defiziten vorgeführt werden. Einigen wurde es freigestellt, ob sie auf diese oder auf jene Weise gedemütigt werden wollen. Vera Lengsfeld hat das während des Panorama-Interviews klar erkannt und im letzten Moment die Reißleine gezogen.

Manche meiner Freunde aus der Bürgerbewegung versichern mir immer wieder, dass derartige Diffamierung in meinem Fall ungerecht sei, weil meine Geschichte ja eine andere ist und ich nicht mit Angelika Barbe oder Siegmar Faust in eine Reihe gestellt werden könne. So wohlmeinend solche Argumente sind – ethisch stehen sie auf derselben Ebene wie die späte Erkenntnis mancher früherer Stasi-Offiziere, die uns 1990 beichteten: „Wir haben die falschen bearbeitet.“ Denen fehlte die Einsicht, dass es nicht nur die Auswahl der Zielpersonen, sondern vor allem die menschenverachtenden Methoden waren, die das Stasi-System zu einem Unrechtssystem gemacht hatten. Ebenso fehlt es heute manchem an der Einsicht, dass eine öffentliche Kritik, sei sie noch so berechtigt, den Verfassungsgrundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde verletzt, wenn sie mit dem Ziel der sozialen Ächtung der betreffenden Person vorgebracht wird. Unabhängig von seiner bisherigen Positionierung besitzt jeder Mensch eine Würde – und das Potenzial zu Veränderung und Reifung. Das gilt für Siegmar Faust ebenso wie für Wolf Biermann, für Angelika Barbe ebenso wie für Werner Schulz!   

Braucht unsere Gesellschaft Bürgerrechtler?

Auch wenn es viele vergessen haben: Keiner von uns hat sich zur DDR-Zeit als „Bürgerrechtler“ bezeichnet. Wir gehörten zu systemkritischen Bewegungen, zu Friedens- oder Umweltgruppen, manche auch zu Menschenrechtsinitiativen. Meist nannten wir uns „Oppositionelle“, aber auch das war in der Szene umstritten. Manche wollten den Sozialismus verbessern, manche nach einem „Dritten Weg“ suchen, manche wollten Teil der Bundesrepublik werden. Der Begriff „Bürgerrechtler“ ist eine wohl aus dem Amerikanischen kommende Fremdzuschreibung, die erst im Laufe der 89er Revolution über die westlichen Medien in die DDR transportiert wurde.

Worauf bezieht sich dieser Begriff? Was sind eigentlich Bürgerrechte? Das sind nämlich gerade nicht Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, als die sie von Bürgerrechtsbewegungen oft missverstanden werden. Hier sind eher die Menschenrechte gemeint, die jeder Mensch unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft besitzt. Bürgerrechte hingegen sind solche Rechte, die sich auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat beziehen. Und hier hatte tatsächlich das Neue Forum angesetzt, als es seinen ersten Aufruf vom September 1989 mit den Worten begann: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“ Doch im weiteren Verlauf der Friedlichen Revolution ging es bald um einen neuen Staat und nicht um eine Heilung der Beziehungen der Gesellschaft zum bestehenden Staat.

Anders hier und heute: Jetzt geht es nicht um einen anderen Staat, sondern um die Heilung einer tiefen Beziehungsstörung zwischen dem Staat und einem Großteil seiner Staatsbürger. Nachdem die Kritiker und Skeptiker der 2015er Willkommenskultur von Politik und Medien unisono als „Rechtsradikale“, „Rassisten“ und als „Nazis“ dämonisiert worden waren, war – zumindest in weiten Teilen Ostdeutschlands – die Vertrauensbasis zwischen Staat und Bürgern zerrüttet. Genau jene Vertrauensbasis, ohne die eine Demokratie nicht auf Dauer lebensfähig ist. Wir stehen seither vor einem Scherbenhaufen. Und der kann nur gekittet werden, wenn auch die Fragmente der anderen Seite als zugehörig angesehen werden – zugehörig zu einem gemeinsamen Ganzen. Wer sich dieser Aufgabe annähme, müsste verbinden, statt trennen. Genau dafür hätten wir ab 2015 wieder Bürgerrechtler gebraucht, und zwar Bürgerrechtler, die sich um den Gegenstand der Bürgerrechte bemühen: Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat.     

Dass die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie im Jahr 2020 auf so breite Ablehnung stießen, hatte nicht nur damit zu tun, dass uns wichtige Basisinformationen vorenthalten wurden. Es hatte auch nicht nur damit zu tun, dass vorsätzlich Panik geschürt wurde und viele der Maßnahmen in sich nicht logisch und zielführend waren. Der entscheidende Grund war die noch immer bestehende Vertrauenskrise in den „politisch-medialen Komplex“ (Jörg Bernig). Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und das ist der größte anzunehmende Unfall in einer Demokratie: Wenn es plötzlich ernst wird, während keine tragfähige Vertrauensbasis zwischen Bürgern und Staat existiert. Wenn es plötzlich ernst wird, während das politische Personal der Spaßgesellschaft an coolen Auftritten feilt. Eigentlich ist es logisch, dass man in der Not nach alternativen Erklärungen sucht, wenn man den offiziellen Erklärungen nicht vertraut. Auch hier wäre ein auf soziale Heilung abzielender öffentlicher Dialog an der Tagesordnung gewesen, wie ihn z.B. der Dresdner Holzgestalter Michael Grasemann mit der Idee eines Runden Tisches 2020 versucht hatte. Doch man zog es vor, die Skeptiker pauschal als „Verschwörungstheoretiker“ und „Nazis“ zu stigmatisieren. Und wieder stehen wir vor dem Scherbenhaufen einer neuen, tiefen Vertrauenskrise.

Vertrauenskrise und soziale Heilung

Was ist damit erreicht, wenn nun abermals die Autorität der Bürgerrechtler untergraben wird? Wir brauchen glaubwürdige Vermittler und vertrauenswürdige Moderatoren. Der Schlüssel für eine soziale Heilung liegt nicht bei denen, die Vertrauen zerstört haben. Jetzt werden Menschen gebraucht, die einmal um der Allgemeinheit willen ein Wagnis eingegangen sind, das ihre eigene Karriere gefährdet hat. Wir brauchen Menschen, die Mut zum Brücken bauen haben, anstatt sich in der angstvollen Ab- und Ausgrenzung zu profilieren. Wir brauchen Menschen, die am Verstehen interessiert sind, statt an absoluten Urteilen. Wir brauchen Bürgerrechtler – und nicht „ehemalige Bürgerrechtler“! Vielleicht ist genau dies der Grund für die infamen Diffamierungskampagnen der letzten Jahre? Hat man Angst davor, dass aus ehemaligen Bürgerrechtlern Bürgerrechtler werden? Solche, die sich mit Jüngeren verbünden und eine neue Bürgerrechtsbewegung begründen? Eine Bürgerrechtsbewegung, die die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft wieder in Gang bringt; eine, die soziale Heilung bewirkt? Was wäre denn so gefährlich daran, wenn die Basis der Demokratie wieder erstarkt – nämlich ein belastbares Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Staatsbürgern?

Unter normalen Verhältnissen fungieren die Medien als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft. Doch nach der in den letzten Jahren praktizierten, inhaltlich gleichgerichteten und im Ton erzieherischen Berichterstattung der Medien durch überwiegend selbstgefällige, auf Skandalisierung konditionierte Journalisten sind die öffentlichen Medien zum Teil des Problems geworden. Auch hier werden dringend glaubwürdige Akteure gebraucht, die die Publizistik nicht aus Agitationsinteresse, sondern aus Erkenntnisinteresse betreiben. Solche, die nicht permanent eine mangelnde Ab- und Ausgrenzung tadeln, sondern die wohlwollend darüber berichten, wenn sich Vertreter entgegenstehender politischer Richtungen als Menschen begegnen. Für die Zeit, bis sich die nicht ganz zu unrecht als „Systemmedien“ bezeichneten Institutionen glaubhaft erneuert haben, könnten Bürgerrechtler im Zusammenwirken mit „alternativen Medien“ eine hilfreiche Rolle spielen. 

Erinnerungskultur mit Gegenwartsbezug

Die Bürgerrechtler der DDR sind zumeist Menschen, die von der Stasi mit den sogenannten „Zersetzungsmaßnahmen“ verfolgt wurden. Das war eine Art Bestrafung ohne Urteil, die jenseits des Strafprozessrechts verdeckt umgesetzt wurde. In der Mielke-Richtlinie 1/76 war genau festgelegt, wie die „systematische Diskreditierung des öffentliches Rufes“ und die „systematische Organisierung beruflicher Mißerfolge“ auszuführen war. Wer solches erlebt hat, weiß, wie es sich anfühlt, wenn man aus politischen Gründen mit Rufmord und beruflicher Existenzvernichtung konfrontiert wird. Wer nun ähnliches wieder erlebt, wird natürlich Vergleiche anstellen.

Auch die Glaubwürdigkeit der Erinnerungskultur hängt davon ab, ob wir offen aussprechen, was war – und was ist. Der Herbst 1989 ist die Geschichte der Bürgerrechtler. Es ist unsere gemeinsame Geschichte. Wir müssen diese Geschichte in Ehren halten. Wenn heute die Erinnerung an den Herbst 89 von Linksextremen mit dem Aufruf „Keine Kerze für Deutschland“ torpediert wird, dann dürfen wir uns nicht in das Lager des autoaggressiven Nationalismus der Antideutschen treiben lassen. Wir wollten ein nach innen demokratisches und nach außen friedfertiges, kooperatives Deutschland. Dass dieses Land auch souverän sein müsse, glaubten wir damals nicht extra betonen zu müssen. Wir wollten das Beste machen aus diesem, unserem Land. Wir wollten uns einbringen.

Als wir riefen „Wir sind das Volk!“ konnte sich keiner von uns vorstellen, dass wir deswegen einmal als „völkisch“ diffamiert werden könnten. So etwas wäre nicht einmal der Stasi eingefallen. Und als wir – zumindest etliche von uns – mitriefen „Wir sind ein Volk!“, hatten wir nur die Deutsche Einheit zwischen West und Ost im Sinn. Niemand von uns hätte damals geglaubt, dass der parteipolitische Verdrängungswettbewerb und die mediale Verengung des „Gesinnungskorridors“ einmal derart die Bevölkerung spalten könnten, dass der Ruf „Wir sind ein Volk!“ in einer anderen Bedeutung neue Aktualität bekommt: Heute ist unsere Gesellschaft soweit gespalten, fragmentiert und gegeneinander aufgewiegelt, dass die Demokratie in Gefahr gerät. Es ist Zeit, daran zu erinnern, dass wir „ein Volk“ in dem Sinne sind, was die Soziologen „Sozialkörper“ nennen: Ein Organismus, dessen „Organe“ gerade deswegen zusammenwirken, weil sie verschieden sind. Wir hatten ein Demokratieverständnis, das davon ausging, dass zu einer demokratischen Gesellschaft immer auch die jeweils anderen mit dazugehören. Wir waren davon ausgegangen, dass in einer Demokratie das rechte Spektrum, soweit es nicht rechtsextrem ist, genauso legitim ist wie das linke Spektrum, soweit dies nicht linksextrem ist. 

Was können „wir Bürgerrechtler“ aus der aktuellen Situation lernen? Die Verfechter der Schmuckfedertheorie und der Kontaktschuld-Logik wollen uns – mit den Stasi-Methoden der „Zersetzungsmaßnahmen“ – empfindlich bestrafen, wenn wir es wagen, einen Dialog über die politischen Gräben hinweg zu führen oder zu moderieren. Wer auf die Ausgegrenzten zugeht, wird selber ausgegrenzt. Um aus dieser Falle herauszukommen, müssen wir uns als souveräne Bürger zeigen, die sehr wohl dazu in der Lage sind, mit den anderen unverkrampft zu kommunizieren, ohne dabei ein Teil von ihnen zu werden. Wir müssen uns als souveräne Bürger zeigen, die sich nicht von den politisch-medialen Stimmungsmachern vorschreiben lassen, was sie zu tun und wie sie zu denken haben.  

Lasst uns mündige Bürger sein, indem wir uns gegenseitig die Souveränität zur je eigenen Urteilsbildung zugestehen. Lasst uns dennoch untereinander solidarisch sein! Der mediale Angriff auf die Bürgerrechtler gilt nicht nur einigen von uns, er betrifft uns alle. Wenn wir unsere Glaubwürdigkeit als Bürgerrechtler behalten wollen, so müssen wir uns einbringen. Auch heute. 

 

Michael Beleites, geb. 1964 in Halle/Saale, hat 1988 mit seiner Untergrundschrift „Pechblende“ die ökologischen und gesundheitlichen Gefahren des Uranbergbaus in der DDR öffentlich gemacht. 1989 und 1990 war er für das Neue Forum Mitglied des Bürgerkomitees zur Stasi-Auflösung in Gera und als Berater am Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin. In seinem Buch „Untergrund“ (1991) dokumentierte Beleites seinen Konflikt mit der Stasi, aber zugleich auch einen bislang einmaligen Dialog mit den für seine Verfolgung verantwortlichen Stasi-Offizieren. Von 2000 bis 2010 war er Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, seit 2011 lebt Michael Beleites als Gärtner und Publizist in Blankenstein bei Dresden. http://www.michael-beleites.de/  

Foto: Pixabay

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Günter Schaumburg / 15.01.2021

Die Opposotionellen der DDR, die nach dem Zusammenbruch zu “Bürgerrechtlern” befördert wurden, verloren für mich als ehemaligem - nicht im Sicherheitskorridor der Kirchen stehendem Regimegegner und ‘feindlich-negativem Element’ - an Glaubwürdigkeit, als der oberste aller “Bürgerrechtler” den Posten des Chefs des Stasi-Aufklärungsbüros erhielt. Da die Oppositio- nellen nicht fähig seien, die Berge von Akten zu sichten und zu deuten, umgab sich der große Held mit Westreisepaß zu DDR-Zeiten, mit dutzenden von Stasi-Gaunern. Einer davon, ein Oberstleutnant, spielte in meiner Zersetzungszeit als Antragsteller eine wesentliche Rolle. Und nicht wenige “ehemalige Bürgerrechtler” hat man mit guten Posten erstaunlich schnell ruhig gestellt. Namen kann ich in der heutigen Zeit aus allseits bekannten Gründen nicht nennen, über- all hat die DDR wieder ihre Pfoten drin. Wenn Sie, werter Herr Beleites, Ihren Mut und Ihre Hoff- nungen nicht verloren haben, ehrt Sie das. Warren Buffet:“Es ist ein Krieg arm gegen reich, und wir werden ihn gewinnen!” Das Schlachtfeld heißt heute Corona, Klima ist das von morgen. Ich bin Pessimist, und die sollen ja länger leben.

Andreas Rühl / 15.01.2021

Zunächst einmal sei dazu angemerkt, dass für große Teile der BRD-Linken die “Bürgerrechtler” eben - neben Kohl, Gorbatschov u.s.f. - die Totengräber der von Ihnen geliebten DDR waren. Das offen zu kommunizieren, wagte allerdings kaum jemand - und die “Grünen” gingen den Weg, durch die Fusion mit “Bündnis 90” (dieser Name wurde sogar vorangestellt!) den Versuch zu unternehmen, ihr durch die offen feindselige Haltung zur Wiedervereinigung total ramponiertes Image beim Wähler wieder aufzubessern (3,8 % und raus aus dem BT nach der Dezemberwahl 1990). Den Grünen - damals wie heute ein Konglomerat von Natursentimentalisten und den kümmerlichen Resten der APO, insbesondere Trotzkisten und den Maoisten bzw. Hotschaisten (KBW - Sager, Kretschmann, Nachwei) - dienten die Bürgerrechtler offenkundig damals auch nur als “Schmuckfedern”, auch im Hinblick darauf, dass die eigene kommunistische Vergangenheit ihnen womöglich im Osten Deutschlands bei den Wählern eher Nachteile bescheren wird (was ja auch der Fall ist - bis heute). Dass die Mitglieder von Bündnis 90 den Judaskuss der Grünen herzlich erwiderten, erweist sich jetzt als Bumerang für die ganze Bürgerrechtsbewegung, die sich nicht an eine “ökologische” Partei anheften ließ, sondern an eine mindestens maoistische, jedenfalls auch kommunistische, was übrigens gerade für den Realoflügel gilt (die Diskussion zwischen Fundis und Realos entspricht übrigens genau der zwischen dem “revolutionären” Flügel der NSDAP und dem, der das System von innen vernichten wollte). In dem Moment war für mich die Bürgerrechtsbewegung komplett diskreditiert. Wer sich gegen ein menschenverachtendes System auflehnt und im nächstbesten Augenblick von Ideologen einfangen lässt, die genau dieses System (oder ein noch barbarischeres, siehe Albanien) einführen wollen, hat den Schuss nicht gehört. Das Geflenne jetzt sollte einer Selbstkritik weichen. Die gewaltfreie Wiedervereinigung wäre übrigens auch ohne Bürgerrechtler gekommen.

Martin Müller / 15.01.2021

Wer einen neuen Sozialismus - auch nach grüner Fasson - errichten will, der muss die Gequälten des real existierenden alten Sozialismus irgendwie mundtot machen. Schließlich soll der Sozialismus neuer Prägung glorifiziert werden als demokratischer und sozialer Fortschritt mit Anbindung an die instrumentalisierten Menschenrechte.  Und weil heute ja sozusagen jeder, der nicht auf dem links-grünen Trip läuft, in den rechten Verdachtsraum gestoßen wird, liegt es natürlich nahe, auch die ehemaligen Bürgerrechtler der DDR mit dem Etikett des Rechtsaußen zu stigmatisieren und vom öffentlichen Diskurs auszuschließen. Die Gesinnungsdemokratie greift schon längst um sich gegen Andersdenkende, tyrannisiert und cancelt alles und jeden mit kritisch erhobener Stimme. Und je weniger Gegenwehr es gibt, desto ungenierter und härter geht man vor. Da kommt noch was auf uns zu, dass zwar wieder unter dem Etikett Demokratie firmiert und auch proklamiert, aber in dem bestenfalls noch Halbdemokratie drinsteckt. Und je heterogener die Bevölkerung in Deutschland, desto einfacher ist es, der einheimischen Bevölkerung die Hebeln der Macht über das eigene Land zu entziehen. Dazu dann noch die ständige moralische Keule des Rassismus und der belasteten deutschen Geschichte, fertig ist Hassadressierung an die eigene Bevölkerung.  Die ehemaligen Bürgerrechtler wissen, was auf uns zukommen wird. Diesmal aber wesentlich besser verpackt als Scheindemokratie, mit moralischen Pathos versehen, der alles “Gute” quasi automatisch demokratisch legitimieren soll. Und was das “Gute” für uns sein soll, definieren natürlich die links-grünen Herrschaften selbst, bringen uns die Gesinnungsjournalisten des ÖRR direkt in die Wohnzimmer. Alles andere wird als “böse” markiert,  sozial geächtet und beruflich Sanktioniert. Die Bürgerrechtler müssen aufpassen, dass sie nicht dort landen, wo sie einst in der DDR schon mal entmenschlicht landeten…

Klaus Klinner / 15.01.2021

Vieles von dem, was Sie schreiben Herr Beleitis, kann ich bestätigen. Meine Frau und ich gehörten zu denen, die im Spätsommer und Herbst 1989 im wahrsten Sinne des Wortes in Leipzig in und um die Nikolaikirche den Kopf für alle Anderen hinhielten, weil niemand wußte, ob die Staatsmacht auf uns schießen würde. Schmerzlich war die Erkenntnis, dass nach Zusammenbruch des Staates keiner mehr mit uns etwas zu tun haben wollte und uns die „überholten“, die zu Hause in aller Ruhe abgewartet hatten, ob man auf uns schießen würde. Im Nachhinein glaube ich begriffen zu haben, dass man uns und unseren Idealismus kalt lächelnd mißbraucht hat. Die Erfahrung hat mich geläutert und zu dem Schluss geführt, „kümmere dich um deinen eigenen Kram“.

Gerd Heinzelmann / 15.01.2021

Sie beweisen es: Es gibt eine Perspektive. Allerdings: Es war und ist nicht die Aufgabe der BRD, die Welt aus den Angeln zu heben. Ich hoffe, das war in Ihrem Sinne.

Uwe Mildner / 15.01.2021

Es ist ein sehr wichtiger Beitrag zum demokratischen Diskurs. Ich bin dankbar es es ihn endlich gibt. Und ich hoffe, dass er nicht nur Federn lässt, sondern die Existenz der Verschiedenheit deutlich macht. Ja, dass das die eigentliche gesellschaftliche Ressource für die Zukunft ist. Wirksam kann diese Ressource nur in der Breite des Horizontes der Bürgerrechtler werden, um diesen Begriff aufzugreifen.

dr. michael kubina / 15.01.2021

Ein sehr guter Text, den ich spontan unterschreiben würde. Denke ich einen Moment nach, kommen mir aber einige Zweifel. Die Stunde der “Bürgerrechtler” (Ich bleibe mal hier einfach bei dem Begriff) kam erst, als a) die Ausreise-und Fluchtwelle gigantische, sich auf den Alltag der verbleibenden DDR-Bewohner auswirkende Ausmaße angenommen hatte (Bäcker um die Ecke weg etc.) und b) die westlichen Medien sich zum Sprachrohr der “Bürgerrechtler” machten (c,d,e .. lasse ich mal weg jetzt). Was ich damit sagen will: die “soziale Basis” der Bürgerrechtler war faktisch eine, die sie nicht haben wollten, und ihr Medium eines, das sie eigentlich auch nur nutzten, weil sie kein eigenes hatten (Westen). Wirksam wurden sie unter Bedingungen, die sie gerade nicht geschaffen hatten, auch wenn sie das seit 30 Jahren behaupten. Wenn wir das nun schon auf die heutige Zeit übertragen wollen, dann hieße das, dass vor der Stunde neuer Bürgerrechtler mit ihren kommunikativen Talenten aus den Widersprüchen der Gesellschaft eine soziale Bewegung entstehen müsste, die die Machthaber zum “Dialog” zwingt. Aber davon abgesehen, sollten wir eben nicht vergessen, dass die Stunde der Bürgerrechtler genauso schnell wieder verging, wie sie gekommen war. Die SED war zudem dialogerprobt, nur nicht mit den eigenen Bürgern, aber seit dem Grundlagenvertrag mit Westdeutschland und v.a. SPD und Grünen. Es sind einfach zuviele Unterschiede, als das solche Analogien weiterhelfen könnten.  Auch waren die Bürgerrechtler die Jungen und so wie damals wird gesellschaftliche Veränderung auch heute von jungen Menschen ausgehen müssen. Oft wird es nicht derart sein, dass ältere die Richtung begrüßen.

Karl Eduard / 15.01.2021

Ja, das muß ziemlich hart sein. “Gestern noch auf hohen Rossen, heute durch die Brust geschossen.”  Ich stand ja auf der “anderen Seite der Barrikade” und war ziemlich fassungslos, wie schnell die Führung der DDR kapituliert hat. Ich hatte da eine Münze, zu irgend einem Jahrestag, mit der Inschrift: “Seid Euch bewußt der Macht. Die Macht ist Euch gegeben, daß Ihr sie niemals aus Euren Händen gebt.” Da ging es um die Gründung der Volksarmee. Und dann wurde Alles, Knall auf Fall, aufgegeben. Und die Bürgerrechtler waren ein Stein des Anstoßes. Aber nicht DER Stein. Den Stein brachte Gorbatschow ins Rollen. Seine Reden waren auch in der DDR auf Deutsch verfügbar. Am Zeitungskiosk. Und das war lange vor den Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen. Und die Reden wurden gelesen und wir haben in den Schulungen darüber diskutiert. “Ist es denn bei uns nicht genau so? Wieso gibt es bei uns keine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen, daß das eine verkündet wird, die Realität aber völlig anders aussieht.” Denn was im Argen war, konnte jedermann sehen, es hat sich nur niemand erklären können, warum das so war. Das triste Grau der Städte, zerfallende Villenviertel um Borna. Da saßen wir in so einer alten Villa, die irgendeinem Grubenbesitzer gehört hatte, Gemälde an den Wänden, offenbar leerstehend,  und durch die Decke tropfte das Wasser! Jeder kannte Beispiele von Arbeitsbummelei, Schlendrian und Pfusch aber das hatte es offiziell nicht zu geben und nun sprach es jemand aus: “Aber er hat ja gar nichts an!” Und das war als hätte jemand ein Fenster geöffnet und frische Luft hereingelassen. Das hat auch dazu beigetragen, als vom Neuen Forum, als einem Instrument des Klassenfeindes gesprochen wurde, es im Grunde niemand mehr ernst nehmen konnte. Dem persönlichen Mut, den die Bürgerrechtler aufgebracht haben, zolle ich im nachhinein Respekt, wenn ich sie damals auch nicht verstanden habe.

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