Quentin Quencher / 09.11.2019 / 13:00 / 29 / Seite ausdrucken

Die lästigen Zeitzeugen

Mir ist eine Auschwitz-Überlebende sehr schemenhaft in der Erinnerung. Ich sah sie im Fernsehen, in einer Talkrunde nach der Ausstrahlung der Serie Holocaust. Das ist nun schon Jahrzehnte her, und meine Erinnerung bezieht sich hauptsächlich auf ein Gefühl, welches ich bei der Betrachtung dieser Diskussion hatte. Neben der Zeitzeugin waren vier oder fünf andere Personen zu sehen und zu hören, die hatten auch alle irgendwas mit dem Thema zu tun, doch als Untersuchungsobjekt. Wahrscheinlich handelte es sich um Historiker, Politologen, Soziologen oder engagierte Journalisten. Genau weiß ich es nur nicht mehr, was die waren, doch sie verhielten sich sehr wissend.

Gleich zu Beginn dieses Gespräches brachte die Auschwitz-Überlebende Kritik am Film vor. Das Zusammenleben der Häftlinge im KZ wäre keineswegs so gewesen wie dargestellt, sondern mehr von Gemeinheiten und gegenseitiger Missgunst oder entsprechenden Verhaltensweisen geprägt.

Die anderen Diskutanten wollten diese Darstellung nicht gelten lassen, und da sie offensichtlich das Sprechen, die verbale Darstellung der eigenen Überzeugungen, gelernt hatten, geriet die Frau immer mehr in eine passive Rolle oder eine Verteidigungshaltung. Ihr wurde klargemacht, dass ihre Erfahrungen nicht wesentlich wären und für das Thema Holocaust völlig nebensächlich.

Was erlauben sich diese Lackaffen eigentlich, fragte ich mich damals. Sie reden, sicher nicht grundsätzlich falsch, über etwas, vom dem sie Theorien erstellen, bearbeiten, verändern, Erklärungen bereitstellen, und weisen eine, die das Gräuel am eigenen Leibe erlebt hat, zurecht. Freilich taten sie es höflich und mit oberflächlichem Respekt, dennoch wurde klar, was nicht zu ihren Konstrukten passte, wurde abgewertet. Die Zeitzeugin konnte oder wollte sich nicht mit den großen Erklärungen abgeben, aber sie konnte berichten, wie es war, in einem KZ leben zu müssen.

Sie hatten das Grauen nicht erlebt

Diejenigen, die es nicht selbst erlebt haben, leben von der Imagination dessen, was geschah. Diese Rekonstruktionen sind immer an Weltsichten oder Ideologien gebunden. Zeitzeugen wirken in diesen Konstrukten störend. Deren Erinnerungen sind natürlich auch nicht immer so verlässlich, wie man sich das von Zeugen jeglicher Art erhofft. Erinnerungen können trügen und erzählen nicht immer, was wirklich geschah, und so blieben auch meine Zweifel, ob dieser KZ-Überlebenden denn so ohne weiteres vertraut werden kann, ob ihre Kritik an der Serie gerechtfertigt ist. Doch im Grund war sie authentisch und glaubwürdig, auch neuere Forschungen zu den Zeitzeugen in den Konzentrationslagen bestätigen ihre Darstellung. Auf jeden Fall mehr als die der anderen Diskutanten in der TV-Runde, die zwar viel erzählen konnten, alles schön mit ihren Überzeugungen und zu den geopolitischen Vorgängen passend gemacht, doch sie hatten das Grauen nicht erlebt. Sie konnten nur von ihren Imaginationen berichten, die Zeitzeugin von Selbst-Erlebtem.

Ich hatte diese Fernsehsendung eigentlich schon vergessen, sie wurde ja auch schon 1979 ausgestrahlt, damals lebte ich noch in der DDR und war zarte 19 Jahre alt. Doch genau zu dieser Zeit reifte mein Entschluss, eben diese Diktatur zu verlassen. In der sozialistischen Realität erlebte ich ständig diesen Widerspruch zwischen den großen Erklärungen und dem tagtäglich Erlebten – wahrscheinlich deswegen galt meine Sympathie der Zeitzeugin und nicht denen mit den großen gedanklichen Linien.

Wie gesagt, die TV-Talkrunde hatte ich fast vergessen, doch nun, durch die oben erwähnten Forschungen, die in einer Rezension besprochen wurden, kam es mir wieder in den Sinn, und ich schrieb die oben stenden Zeilen bis genau hierher, speicherte diese Datei im Ordner „Sonstige Gedanken“ ab, und dort wäre sie wahrscheinlich auch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag geblieben. Doch es kam anders, die Gedanken sind auf einmal wieder hochaktuell.

„DDR neu erzählen“

Am Mittwoch flatterte mir ein Tweet von Hubertus Knabe in meine Timeline mit diesem Text: "Besonders diesen Satz des DLF-Journalisten über die Stasiopfer-Gedenkstätte muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: 'Hier zeichnen ausschließlich Opfer des SED-Regimes ein Bild der DDR und ihres Repressionsapparates' – und bewirken damit eine 'historiographische Verzerrung'". Dann ist noch auf diesen Text auf der Seite vom Deutschlandfunk verlinkt, der unter dem Titel: „DDR neu erzählen“ eine neue Erzählung, eine andere Erinnerungspolitik fordert.

Im Beitrag sind sie nun wieder versammelt, Vertreter der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung, Historiker, Journalisten und so viele mehr, die nun die „DDR neu erzählen“ wollen, doch dazu ist es notwendig, die Zeitzeugen zu diskreditieren, denn deren Berichte, ihre Erinnerungen auf das, was sie selbst erlebt und erlitten hatten, passt nun so gar nicht zu den Konstrukten derer, deren Zugang zur Wirklichkeit nur durch die ideologische Brille geschieht.

Doch es stimmt, wir haben es momentan mit einer historiographischen Verzerrung zu tun, und zwar von genau denen, welche die „DDR neu erzählen“ wollen. Wer ein wenig mit den Propagandatechniken des linken Spektrums vertraut ist, dem wird nun auffallen, dass solche Forderungen und Texte genau jetzt die Runde machen, wo es darum geht, die PDS zu rehabilitieren, sie als Partner für Regierungen auch mit der CDU herauszuschmücken. Tja, Zufälle gibt es, das glaubt man nicht! Ich jedenfalls nicht, und deshalb höre ich wohl die Worte, glauben tue ich allerdings den Zeitzeugen, mögen deren Worte auch oft nicht dem politisch korrektem Mainstream entsprechen. Glücklicherweise schreiben viele ihre Erlebnisse auf. Hier und anderswo.

Dieser Beitrag erschien auch auf Quentin Quenchers Blog Glitzerwasser“.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Heidi Hronek / 09.11.2019

Ich habe immer mehr das Gefühl, dass die Jahre der Freiheit, des Aufbruchs und Wohlstands von immer mehr Westdeutschen als Irrtum der Geschichte betrachtet werden. Anders kann man sich dieses Festhalten an einer Kanzlerin, die im Spiegel Interview doch ganz klar ihre Liebe zum wahren Sozialismus erkennbar macht, nicht erklären.

Thomas Taterka / 09.11.2019

Zum Überleben des Holocaust fällt mir vor allem ein Zeitzeuge ein, dessen genaue Schilderung ich zur Lektüre empfehlen möchte : Roman Frister, Die Mütze. Was die Zeitzeugen der Menschenzerstörung in der DDR betrifft: Die Schriftsteller und Künstler sind fast alle tot ,die anderen werden langsam alt, viele können oder wollen nicht mehr schildern, was sie erlitten haben, - da wächst also der Spielraum fürs Umdichten und die Chance für eine neue ” Märchentheorie der DDR ” mächtig an. Und in weiser Voraussicht wird jetzt schon mal ganz praktisch damit begonnen. Gelegenheit macht Diebe. Der eine sitzt im Haus und zählt sein Geld, die anderen sitzen vor der Tür und beraten sich, wie man das Haus kriegt. Und bevor der eine mit dem Zählen durch ist, hat das Haus den Besitzer gewechselt. Das ist meine Prognose. - Am 9.11. 2019. Es ist ein Wettlauf, den der “Westen"verliert . Der Hase ist schneller als der Igel ! Es wär ein Wunder, wenn’s anders kommen würde.

Rolf Menzen / 09.11.2019

Leider hatte man 1989/1990 die SED nicht wie nach 1945 die NSDAP zur verbrecherischen Organisation erklärt und verboten. Jetzt sitzen diese Politganoven in vielen Parlamenten und manchen Landesregierungen und machen sich auf Steuerzahlers Kosten nen schlanken Fuss.

herbert binder / 09.11.2019

So ist es, lieber Herr Quencher, und ich gehe noch einen Schritt weiter: Erinnerung? Die gibt es im Grunde gar nicht - alles nur Konstrukt, alles nur abgespeicherte Wunschvorsvorstellung und/oder deren Rückseite, die Alltagsängste. Mithin Hirngespinste, und damit eine Glaubwürdig- und Verläßlichkeit, die gegen Null strebt.  Hinzu kommt, daß die Gedächtnisforschung jede Menge Flankenschutz bietet oder aber zu bieten scheint. Man kann sich bedienen. Was hilft? Hier auf der Achse wird, nur als kleines Beispiel und sehr subjektiv, gar nicht, oder aber zu wenig, auf die Seite von Vera Lengsfeld verwiesen (sorry, wenn ich da Entscheidendes übersehen habe), wenn sie auch in der Autorenliste auftaucht und dankenswerterweise immer mal wieder ihre Beiträge hier plaziert, resp. plazieren kann. [vera-lengsfeld.de]

Michael Dost / 09.11.2019

Die für mich schlimmste Facette dieser Neuerzählung ist die von DDR-Verharmlosern wie Gysi konstruierte Verbindung zwischen dem Begriff Unrechtsstaat und einer angeblichen Missachtung der Lebensleistung jener, die in der DDR gelebt haben. Die Instrumentalisierung des Unmuts vieler Ostdeutschen über die Entwertung großer Teile ihres Lebens zur Rechtfertigung der DDR-Diktatur und zur fortschreitenden Erlangung der Salonfähigkeit der organisationsidentischen Nachfolger der SED ist ein sehr geschickter, auf der anderen Seite durchschaubarer und frecher Schachzug der daran interessierten Kreise. Ich glaube, es wird vielen an der friedlichen Revolution 1989 aktiv beteiligten Menschen heute ähnlich gehen wie mir: Meinen bescheidenen Anteil an der Beseitigung dieses Unrechtsstaats sehe ich als einen der wesentlichsten und wertvollsten Bestandteile meiner Lebensleistung., auch wenn uns das von den „besseren“ Teilen der westdeutschen Linksintellektualista von ganzem Herzen übel genommen wird. Danke für diesen klaren und eindringlichen Artikel.

Steffen Rascher / 09.11.2019

Da haben Sie recht. Peter Michael Diestel (DSU/ CDU) – letzter Innenminister der letzten DDR Regierung stellte neulich im Fernsehen fest, das er in der DDR eine glücklich Kindheit und Jugend verlebt hat. Sein Bruder, Andreas Diestel (CDU ), Ortsvorsteher in Leipzig Wiederitzsch, verteidigt im privaten Gespräch die Umweltangst als dringend notwendig. Hier wächst etwas zusammen, das so nicht zusammen gehört, nämlich bürgerlich konservativ mit links – grün, hysterisch. Man bricht auf zu neuen Ufern, da die alten Ufer nicht mehr erreicht werden können. Im Scheitern zeigt sich das wahre Gesicht.

Günter K. Schlamp / 09.11.2019

Danke für den Text! Mir fällt nämlich jetzt eine ähnliche Erfahrung ein: Als die SPD in Hessen flächendeckend Gesamtschulen einführen wollte, sorgte sie auch für wissenschaftliche Begleitung. Meine Schule wurde von Wissenschaftlern aufgesucht: Interviews, Fragebögen usw. Ich freute mich, hoffte ich doch, dass die Schwächen des SPD-Gesamtschulmodells erkannt würden. Als ich die Studie las, erkannte ich meine Schule nicht mehr.

Paul Braun / 09.11.2019

Wie das eben so ist mit den verschiedenen Blickwinkeln - die Weihnachtsgänse sehen das anders als der Metzger und der wieder anders als die weihnachtlich gestimmte Familie zu Weihnachten. Und doch ergibt sich ein Bild des Ganzen sowie einen Bewertung. Diese zu verwischen, wagt sich die vormalige SED und ihr Dunstkreis wieder aus den Löchern und lähmt uns mit ihren windigen Sophismen.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com