Die dünne Wand der Zivilisation

Seit der Befreiung von Auschwitz sind 75 Jahre vergangen. 75 Jahre, nachdem in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, dem Land von Bach, Goethe und Kant, die Hölle ausgebrochen ist. Die menschliche Finsternis eines industriell geplanten und durchgeführten Massenmords. Millionen von Deutschen, die meisten von ihnen getaufte Christen, Nachbarn wie du und ich, haben weggesehen. Haben es geschehen lassen, dass ihre Nachbarn, Frauen, Männer, Kinder, abgeführt wurden. Haben es geschehen lassen, dass sich der Judenhass als Staatsdoktrin etablieren konnte. 

Der Schriftsteller Imre Kertész, Auschwitz-Überlebender und Literaturnobelpreisträger, sagt: „Wenn jemand über Auschwitz schreibt, muss ihm klar sein, dass Auschwitz die Literatur – wenigstens in einem bestimmten Sinn – aufhebt. Womit ich sagen will, dass seit Auschwitz nichts geschehen ist, was Auschwitz aufgehoben, was Auschwitz widerlegt hätte.“

Der nicht widerlegte, bleibende Abgrund: Davon zeugen, mit Auschwitz, alle Todeslager und Zeugnisse des Holocaust. Ein "satanisches Reqiuem" hat der amerikanische Schriftsteller Louis Begley das 20. Jahrhundert genannt. In diesen Abgrund gehören die Millionen getaufter Christen wie du und ich, die Auschwitz und alles, wofür Auschwitz steht, zumindest passiv mitgetragen haben. Nachbarn, die heute vielleicht nochmals wegsehen würden und die dann später nichts davon gewusst haben wollen. Wie kann man, als katholischer Christ, dazu überhaupt etwas schreiben? Vielleicht nur, indem man die Mitschuld bekennt. Auch die Schuld der katholischen Kirche am Antisemitismus, wie Johannes Paul II. sie vor 20 Jahren in seinem "Mea Culpa" öffentlich bekannt hat.

Vor 10 Jahren, anlässlich des 65-jährigen Gedenktages der Befreiung von Auschwitz, hat Papst Benedikt XVI. gesagt: „Im Tiefsten wollte man mit dem Zerstören Israels, mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat (...) Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören.“

Das erklärt vielleicht einen Teil des Abgrunds: Der Judenhass findet seit 2.500 Jahren immer wieder einen Weg in die Gesellschaft. Auch heute nimmt er erneut zu, als hätten die Menschen nichts gelernt. Die aktuelle antijüdische Stimmung im Westen, erneut unter Nachbarn wie du und ich, zeigt sich noch nicht offen als Antisemitismus. Sie präsentiert sich im unverfänglichen Kleid der Israelkrtik. Auch die Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern verstärkt unsere antisemitische Stimmung, während viele linke und grüne Aktivisten – zusammen mit Gleichgesinnten in den Medien – diese Stimmung weiter anheizen: Sie verbinden den linken Antikapitalismus, Antiamerikanismus und Antiimperialismus mit Antijudaismus. Denn am Ende – wie es auch Verschwörungstheorien im Netz nahelegen – wird die Welt doch von Juden regiert, von Millardären à la Rothschild, Soros und Zuckerberg. Von jüdischen Strippenziehern an der Wall Street, in Hollywood und im militärisch-industriellen Komplex der USA.

75 Jahre nach Auschwitz wird der Antisemitismus wieder salonfähig. Wenn also Imre Kertész sagt, seit Auschwitz sei nichts geschehen, was Auschwitz aufgehoben, was Auschwitz widerlegt hätte, so ist das nicht nur eine Tatsache. Man kann den Gedanken von Kertész weiter deuten: Das Böse in uns, das mit Hitler entfesselt wurde und die dünne Wand der Zivilisation durchschlagen hat, ist nicht widerlegt. Und alle Versuche, dieses Böse fassbar zu machen, es einzugrenzen durch Erklärungsmodelle aufgrund der Sonderumstände des damaligen Deutschland, können es nicht aufheben. Das Böse in uns bleibt. So, wie die Wand der Zivilisation dünn bleibt.

 

Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftrager des Bistums Chur. 

Foto: www.giuseppe-gracia.com

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Sabine Richter / 27.01.2020

Ich bin unbedingt dafür, der Gräueltaten des Nationalsozialismus zu gedenken. Aber ich werde keine Verantwortung für etwas übernehmen (wie vom deutschen Bundespräsidenten gefordert und in diesem Artikel benannt), das ich nicht selbst getan habe. Den Gedanken, dass ich qua Geburt (die zufällig in Deutschland und nicht in einem anderen Land geschah), besonders anfällig für Antisemitismus sei, finde ich zutiefst rassistisch und lehne ihn deswegen ab. Meine Großtante wurde aufgrund der NS-Euthanasiegesetze getötet - macht mich das zu einer “Halbanfälligen”?

Rita Wiesinger / 27.01.2020

Ganz offen gesprochen. Ausschwitz berührt mich nicht, denn sonst könnte ich mir wegen den vielen Verbrechen der Menschheit gleich die Kugel geben.

n.reher / 27.01.2020

@Reinhart Max > Bravo, volle Unterstützung! Die katholische Kirche hat die Erbsünde abgeschaft, aber der Deutsche Michel schaufelt sich ganzjährig Asche auf sein Haupt! Und trotzdem versucht der Deutsche schon wieder die ganze Welt zu erziehen und fällt erneut auf indoktrinierende Lügen rein… Der vererbte Schuldkomplex scheint ihn dumm, ignorant und größenwahnsinnig zu machen. Und wieder grüßt das Murmeltier.

Detlef Rogge / 27.01.2020

Zur Frage, wer hat was im Dritten Reich über Massenvernichtungen gewusst, und was hätte getan werden können: Ein weites Feld, hier nur kurz angerissen. Über die entsetzlichen Zustände in den „Schutzhaftlagern“ dürfte jeder Deutsche hinreichend informiert gewesen sein, denn es war ja gerade der Sinn dieser Lager, dass die dortigen Verhältnisse allgemein bekannt wurden, um potentielle Regimegegner abzuschrecken (über Morde hatten die Entlassenen allerdings still zu schweigen). Die Vorgänge in den Vernichtungslagern, sämtlich außerhalb des Reichsgebietes gelegen, dürften eher weniger bekannt gewesen sein. Kenntnisse darüber setzte die Indiskretion von Angehörigen der Totenkopfverbände oder von „Trawniki“-Männern voraus, was für diese schlimme Konsequenzen nach sich zog. Allenfalls konnten sich noch polnische Anwohner den Bestimmungszweck der Lager denken. Für die deutsche Bevölkerung galt die offizielle Legende von der „Umsiedlung in den Osten“, dazu gehörte, dass nicht arbeitsfähigen Juden, der jüdischen Prominenz und Trägern hoher Kriegsauszeichnungen (übergangsweise) das „Altersghetto“ Theresienstadt vorbehalten blieb. Das konnte man glauben oder auch nicht. Nicht entgangen sein konnten vielen an der Ostfront eingesetzten Wehrmachtsanghörigen, besonders solchen im „Rückwärtigen Heeresgebiet“, die Gräueltaten der Einsatzgruppen der Sipo und des SD sowie das Schicksal millionenfach verhungerter sowjetischer Kriegsgefangener in den Dulags. Auch ließen an Rüstungsbetriebe ausgeliehene KL-Sklavenarbeiter in erbärmlichen Gesundheitszustand für jene dort eingesetzten deutschen Arbeiter Schlimmstes erahnen. Was blieb nun denen, die um den Holocaust wussten? Anzeige wegen Völkermordes bei der Staatsanwaltschaft erstatten oder die Presse informieren? Der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein informierte den schwedischen Gesandten, und es änderte sich nichts.

Matthias Braun / 27.01.2020

” Das Böse ist ein verzehrendes Feuer.” ( Edith Stein )

Rita Wiesinger / 27.01.2020

Übertreibt mal nicht. Genocide gabs in fast jeder Kultur. So abscheulich sie sind, sie sind ein Teil der Geschichte der Menschheit bzw. des Menschseins und nur in dieser Hinsicht ein kleiner Teil von uns selbst. Interessant dabei ist, dass fast alle Genocide religiös oder politisch sozialistisch oder national begründet wurden.

Michael Dost / 27.01.2020

Nein, Herr Bauer, es ist nicht so, daß „sich in (unserem) Umfeld erneut unter Nachbarn wie du und ich Antisemitismus ausbreitet“. Der Antisemitismus war unter Nachbarn wie Sie und Ich nie verschwunden, er hat sich nur wieder aus seinem Versteck herausgewagt. Ich will mich nicht ausnehmen, denn nicht immer ist man frei von Vorurteilen, und mitunter erfasst einen das plötzliche Grauen angesochts über die eigene Wahrnehmungssschwelle geratender Ressentiments und Stereotype. Herr Max, „die Deutschen“ haben vieles gewusst, wahrgebnommen und beschwiegen. Das ist keine bodenlose absolute Frechheit, sondern historische Realität. Die Tragweite und das Unmaß des Massenmords war für viele in der Tat weder vorstell- noch sichtbar. Aber dieses Unvostellbare war möglich geworden durch das Wegsehen bei jenem vorhergehenden Unrecht, das sehr wohl sichtbar gewesen war. Statt des Smartphones hatte man Augen. Zu sehen: dass die Nachbarn nicht mehr da waren. Die jüdischen Zwangsarbeitskolonnen in fer Stadt. Die Reichskristallnacht. Mehr noch, man arbeitete in der Maschinerie mit – z.B. als Hilfskraft bei der Auswertung von Kirchenarchiven zwecks Vervollständigung von sognannten „Ahnenpässen“ – und kaum ein BDM-Arbeitsdienstmädel dürfte die stille Größe aufgebracht haben, dabei den einen oder anderen jüdischen Großvater per Federstrich und Amtsstempel lebensrettend zu „arisieren“. Sie und ich müssen sich nicht schuldig bekennen. Wir waren nicht dabei. Aber wir hätten bei unglücklicherem Geburtsdatum zu den Schuldigen gehören können. Die Lehre aus Auschwitz: nicht wegsehen, stets die Frage der Urenkel im Hinterkopf behalten: „Wie konntet Ihr es zulassen?“. Leider bedeutet das in unseren Zeiten der Merkel und Maas auch:  Neben dem Antisemiten in uns und unserem alten Nachbarn nicht den Antisemiten in usnerem neuen Nachbarn zu übersehen.    

Erich Haug / 27.01.2020

@Reinhart Max Stimme Ihrem Beitrag vollumfänglich zu. Bin Jahrgang 42 und kann mich noch vage daran erinnern, dass meine Mutter bass erstaunt war als Sie irgendwann in den Nachkriegsjahren mal eine Zeitung in die Hand bekam (Das war damals schon aus finanziellen Gründen nicht selbstverständlich). Darin wurde von den Nürnberger Prozzessen berichtet und so nach und nach sickerte die ganze Schweinerei durch. Auch Hitler hat Angst vor der Volksmeinung gehabt. Das ist alles so ziemlich im Dunkeln gelaufen. Ich lehne diese propagierte Massenhaftung für diese Greueltaten für mich ab. Schon deshalb, weil ich zunehmend den Eindruck gewinne, dass man damit politische Ziele verfolgt und von den gravierenden Fehlleistung der Merkelregierung ablenken will. Ich weiß nicht ob Herr Gracia überhaupt noch einen Nazi kennengelernt hat. Mein Vater mußte 200 Reichsmark bezahlen, dann war er als Lehrlingsmeister wieder zugelassen. Bin mal gespannt, wann die Mauertoten aufgearbeitet werden wenn wir derzeit den Holocaust versuchen zu verstehen.

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