Fabian Nicolay / 04.06.2022 / 06:00 / Foto: Niels de Wit / 106 / Seite ausdrucken

Die Dekonstruktion unseres Wohlstandes

Das Land steht tatsächlich vor einer Zeitenwende. Aber sie betrifft nicht primär neue Politik-Strategien der Regierung oder einen daraus quellenden Erkenntnisgewinn, sondern eher die Dekonstruktion unseres Wohlstandes aufgrund fahrlässiger Politik, die auf ignoranten Irrtümern basiert.

Die Zeiten sind vorbei, in denen die wohlige Wärme unserer kleinbürgerlich-saturierten Republik Bequemlichkeit und Sicherheit garantierte, die schlicht für selbstverständlich erachtet werden konnten. Das ist keine delphische Weissagung mit entsprechendem Deutungsspielraum, sondern der Kern realer Entwicklungen, die Deutschland bevorstehen. Das Land steht tatsächlich vor einer Zeitenwende. Aber sie betrifft nicht primär neue Politik-Strategien der Regierung oder einen daraus quellenden Scholz'schen Erkenntnisgewinn, sondern eher die Dekonstruktion unseres Wohlstandes aufgrund fahrlässiger Politik.

Wer, wie die deutschen Polit-Eliten, jahrzehntelang Opportunismus in Form von Beschwichtigung betrieb – das sogenannte „Appeasement“ –, um mit Wegschauen und Anbiederung die Frage nach der moralischen Integrität der außenpolitischen Partner nicht stellen zu müssen, hat diese Narrative gern als politische Vernunft verkauft. Putin, „der lupenreine Demokrat“, war so eine Behauptung, die als Nukleus unverdächtiger Wirtschaftsbeziehungen gesetzt wurde. Und sie verfing. Infolge solcher Beschönigungen ist es gelungen, von ganz oben den Deutschen weiszumachen, bei den Oligarchen und Machthabern in Moskau handele es sich um durchweg verlässliche Handelspartner.

Dabei waren beispielsweise die jährlichen Schäden durch Cyberattacken schon vor dem Ukraine-Krieg bekanntlich immens hoch. Russland ist laut dem Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche allein im Jahr 2021 mutmaßlich für Schäden von über 220 Milliarden Euro verantwortlich. Mindestens 28 Prozent aller Cyberattacken sollen seit 2011 auf das Konto russischer Hacker gehen.

Fadenscheinigen Doppelstandards geopfert

Weder die radikale Zerstörung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny während des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 noch der Angriff auf Georgien 2008 oder die Annexion der Krim 2014; weder die mutmaßlich vom Kreml in Auftrag gegebenen Giftanschläge mit Dioxin (2004), radioaktivem Polonium (2006) und dem Nervenkampfstoff Nowitschok (2018) zur Ausschaltung unliebsamer Kritiker und Überläufer noch die nachweislichen Hackerangriffe auf staatliche Infrastrukturen (Estland 2007, Deutscher Bundestag 2015) oder die massive Einflussnahme auf freie Wahlen (USA 2016, Frankreich 2017); weder die Desinformationskampagnen und Unterhaltung von Trollfabriken zur Verbreitung von Propaganda und Fake-News in den deutschen Social-Media-Kanälen noch die Auftragsmorde oder die Ausschaltung kritischer Journalisten in Russland: Deutsche Politiker waren stets als willfährige Protagonisten zu bilateralen Schulterschlüssen bereit, um Verträge für billiges Gas, Kohle und Erdöl mit Russland zu sichern. Die politischen Widersprüchlichkeiten wurden dabei unter den Teppich gekehrt. Deutsche Politiker wussten um den zweifelhaften Leumund ihres Vertragspartners. Es seien hier stellvertretend nur vier von ihnen genannt: Schröder, Merkel, Platzeck, Schwesig.

Wer damals solche Wirtschaftspolitik für vernünftig hielt, um Deutschlands Energieversorgung, Produktionssicherheit und Wohlstand einseitig in Abhängigkeiten zu führen und zudem bereit war, seine demokratischen Überzeugungen fadenscheinigen Doppelstandards zu opfern, mit denen man den Totalitarismus letztlich als Handelspartner akzeptierte, steht heute als verantwortlich vor dem Kostendesaster dieser Augenwischereien. Appeasement und Untätigkeit werden so zu Erfolgsfaktoren für Unterdrückung und Repression von Staaten, mit denen Deutschland Handel treibt, aber politisch nichts gemeinsam hat.

Appeasement-Strategien haben sich diskreditiert

Nur mit Ignoranz, Unfähigkeit und Präventionsversagen sind solche moralischen Zwiespältigkeiten zu erklären. Sie kommen dem Wirtschaftsstandort Deutschland, den Arbeitnehmern, Konsumenten und Steuerzahlern heute teuer zu stehen. Die Illusion, Einsparungen durch billige Energie aus Russland würden so etwas wie eine „Friedensdividende“ erbringen, zerplatzt wie eine Seifenblase im Angesicht der Kosten der plötzlichen Energieknappheit, der Militärhilfe für die Ukraine, der Kosten für Flüchtlinge und der technischen Neuausstattung der Bundeswehr. Hinzu kommt die Inflation, die alles noch schmerzlicher macht.

Heute müssen wir unsere Politiker ermahnen, „Deals“ solcher Art nicht mehr einzufädeln. Appeasement-Strategien haben sich als Mittel der Politik und Ökonomie diskreditiert. Deutschland und Europa täten gut daran, die Versorgung, Sicherheit, Schlüsselindustrien, Innovation und Forschung sowie die Produktion von sensibler High-Tech nicht denen zu überlassen, die unsere Werte nicht teilen und die Freiheit ihrer eigenen Bevölkerung mit Füßen treten. Da gibt es einige Länder auf der Liste, die den Sicherheitsinteressen der westlichen Welt deutlich widersprechen. Zum Beispiel China, dessen schleichende Konversion von der Werkbank der Erde in eine personenkulthafte High-Tech-Diktatur wie ein Deja-vu aus einem dystopischen Blockbuster anmutet.

Trotz der offensichtlichen Aggressionen haben deutsche Politiker das Abhängigkeitsverhältnis zu Russland immer weiter intensiviert, ihre eigenen Verstrickungen in solche Machenschaften gar vertieft. Eine Studie des Brandenburgischen Instituts für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS) gibt unter dem Titel „Die Kosten des Zauderns“ Auskunft über die Verhältnisse: Zwischen 2014 – dem Jahr der Annexion der Krim – und 2021 stiegen die Gasimporte in die Europäische Union von 37,5 auf 46,8 Prozent. In Deutschland stieg der Anteil im selben Zeitraum sogar von 35,5 auf durchschnittlich zuletzt 55 Prozent.

Die Studie des BIGS beschreibt den Kostenwahnsinn aus direkten und indirekten Preissteigerungen: Am 1. November 2021, also noch vor dem Truppenaufmarsch Russlands an den Grenzen der Ukraine, lag der Preis für Erdgas am niederländischen Futures-Markt (TTF) bei knapp 66 Euro pro Megawattstunde (MWh). Am 1. April 2022 stand er bei über 125 Euro. In der ersten Jahreshälfte 2021 lag der entsprechende Preis hingegen zwischen rund 15 und 34 Euro. Für russisches Gas, das zum Teil vertraglich an den Erdölpreis gekoppelt ist, ist der aussagekräftigere Grenzübergangspreis heranzuziehen. Im Vergleich zum Vorjahresmonat (Januar/Februar 2021) stiegen die Preise Anfang 2022 jeweils über 200 Prozent an.

Unwirtschaftlichkeit, Stilllegungen, Arbeitsplatzverluste

Allein der kriegsbedingte Verlust des Wirtschaftswachstums wird in der Studie auf 100 Milliarden Euro beziffert, die Inflation verringert das Geldvermögen um 70 Milliarden. Die zusätzliche Mehrbelastung von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben kommen noch obendrauf: 71 Milliarden. Die Autoren schätzen, dass jährlich Mehrkosten von 200 Milliarden Euro auf den deutschen Steuerzahler zukommen, das seien 7 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung.

Hier gibt es keine „Missverständnisse“. Das Politikversagen der vergangenen Jahre ist untrennbar mit dem Dilemma, in dem Deutschland heute steckt, verbunden. Eine enorme Versorgungslücke bedroht unsere Wirtschaft, die in der akuten Situation weder durch beschleunigten Ausbau Erneuerbarer Energien noch das Nichtabschalten der verbliebenen Atommeiler am Netz kompensiert werden kann. Ganze Produktionsketten werden durch die Verknappung und exorbitante Verteuerung unrentabel werden. Energieintensive Bereiche wie die Stahl-, Aluminium-, Glas- und Papierproduktion, aber auch Bereiche der Grundversorgung wie Großbäckereien geraten in die Teuerungs-Spirale und es drohen Unwirtschaftlichkeit, Stilllegungen, Arbeitsplatzverluste.

Es ist eine angeborene Schwäche deutscher Polit-Logik, zu glauben, dass die Globalisierung des ideellen und wirtschaftlichen Wettbewerbs Fairness, Demokratie, Wille zum Wandel und das Gute fördere. Nichts kann hingegen zynischer sein als die Resultate erfolgreicher Politik. Es kommt darauf an, auf welcher Seite man am Ende steht. Vor allem, wenn der Partner plötzlich zum Gegner wird. Ein böses Erwachen im Fiasko war mit Putins Russland immer denkbar, seine Wandlung zum Kriegsherrn war eine mit langer Ansage.

Sicherheitsniveau unseres Landes ist an einem Tiefpunkt

Die Verdrängungsmechanismen konnten die Schwächen und Sollbruchstellen in der Zukunftsplanung Deutschlands zwar mit mittelfristigem Luxus und Wachstum überdecken, führen aber aktuell zu enormen Folgekosten, die sich nicht nur in wahnwitzigen Preissteigerungen äußern, sondern weit höher liegen, als es Investitionen in autarke, redundante und verlässliche Versorgungsstrukturen je gekostet hätten. Nun müssen die Deutschen jene Investitionen teuer nachholen, die sie jahrzehntelang vermieden hatten und die Substanz einer Erosion überließen, die heute „blank“ dasteht. Siehe Bundeswehr. Das Sicherheitsniveau unseres Landes ist deshalb an einem Tiefpunkt.

Die deutschen Regierungen seit Gerhard Schröder, verstärkt unter Angela Merkel und jetzt unter dem schlafwandlerischen Olaf Scholz, haben die Sicherheit und den Wohlstand Deutschlands verspielt. Der Warnungen gab es genug aus den USA und den osteuropäischen Staaten, zuletzt bei dem Pipeline-Projekt Nord-Stream 2, dessen unlautere und korrupionsverdächtige Finanzierung nun immer mehr ans Licht kommt und zeigt, dass mit Unrechts-Regimen keine aufrichtigen Deals abzuwickeln sind. Schuldig an diesen Fehleinschätzungen und deren Vertuschung sind Politiker, die sich gemein gemacht haben mit „falschen Fuffzigern“, die ihre Rohstoffe billig verticken und keinen Hehl daraus machen, die Demokratie zu verachten.

Dieser Text erscheint im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den sie hier kostenlos bestellen können.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Fritz kolb / 04.06.2022

Propaganda gegen Putin ist dieser Tage en vogue, die Ursachen des Krieges werden vernebelt und die USA stehen kurz vor der Seligsprechung. Die haben ja in diesem Jahrhundert ja auch noch keine militärischen Konflikte geschürt, oder etwa doch? Also, der Feind unseres Wohlstands ist ausgemacht, die Klimakirche ist ebenso unschuldig. Wovon träumen Sie eigentlich nachts, Herr Nicolay?

S.Schleizer / 04.06.2022

Ach ja. Die “Manipulationen” für den bösen Trump und gegen die Arme Hilary… Gut, dass das mal wieder jemand in den Raum wirft. Hatte ich doch glatt schon vergessen… Und am Verlust des Wohlstandes im Schland ist auch der Russe schuld? Just asking for a friend.

T.Bernigau / 04.06.2022

Meines Erachtens ist der richtige Begriff „Rückbau“: Die herrschende Politik in Deutschland ist auf den Rückbau unseres Wohlstands gerichtet. Ich würde auch den Begriff „Wohlstandsvernichtung“ akzeptieren. Der relativ neue Begriff „Dekonstruktion“ bezieht sich nach meinem Sprachgefühl auf die Transformation von Wortinhalten: Also auf die Neubestimmung von Begriffen wie „Heimat“, wie sie z. B. Bundesinnenministerin Faeser nach eigenem Bekunden anstrebt. Unter „Dekonstruktion des Wohlstands“ verstehe ich das Bemühen von Politikern, uns den intendierten Zustand einer deindustrialisierten Wirtschaft und die dadurch verursachte materiellen Armut als „Wohlstand“ zu verkaufen. Inhaltlich kann ich dem Autor natürlich nur beipflichten.

Wilfried Grün / 04.06.2022

„Deutschland ist ein Problem, weil die Deutschen fleißiger, disziplinierter und begabter als der Rest Europas (und der Welt) sind. Das wird immer zu ‘Ungleichgewichten’ führen. Dem kann aber gegengesteuert werden, indem so viel Geld wie nur möglich aus Deutschland herausgeleitet wird. Es ist vollkommen egal wofür, es kann auch radikal verschwendet werden – Hauptsache, die Deutschen haben es nicht. Schon ist die Welt gerettet.“ .... das Zitat wird Joschka Fischer zugeschrieben –  Unerheblich ob das vollständige Zitat authentisch ist, denn das mutmaßliche Zitat welches Joschka Fischer zugeschrieben wird – widerspiegelt absolut die Geisteshaltung, Intention und Praxis der herrschenden “Eliten”    

J.G.R. Benthien / 04.06.2022

Die Sowjetunion hatte sich im »Kalten Krieg« und auch später immer an alle Verträge gehalten. Russland hat sich immer an alle Verträge gehalten. Gas, Öl, Nahrungsmittel wurden IMMER geliefert. Ausserdem wurden wir weder von Putin noch von Russland angegriffen, so quer Sie das auch versuchen, darzustellen. Es waren einzig und allein die Sanktionen des angeblich ach so guten Westens, die die Lieferungen unterbrochen haben, und das Schlimmste ist, dass das alles aus ideologischen Gründen gemacht wird. Wer hat denn die Kühltürme von Philippsburg zerstört — Putin oder der Kretschmann? Die wirklichen Verbrecher und Verantwortlichen sitzen gut genährt in Deutschland.

Stefan Schade / 04.06.2022

Ich bin nicht weiter gekommen, als bis die Wahl Donald Trumps in die Reihe russischer Schandtaten aufgenommen wurde. Die Achse revidiert im Ukraine Eifer, wofür sie jahrelang stand. Mich hängt sie bei dieser Volte ab.

Christian Feider / 04.06.2022

ich habe selten eine schlechtere Einordnung der gegenwärtigen und historischen(die letzten zwanzig Jahre) Politik und deren Auswirkungen gelesen…. hier wird erzählt,eine “wertebasierte” Ausrichtung allein gen “Westen” und “Nahost” bzgl Energieversorgung haette uns vor den derzeitigen Problemen bewahrt. NICHTS könnte falscher sein,denn der gegenwärtige Konflikt wurde uns AUFGEZWUNGEN,denn die USA haben diesen Konflikt seit 2008 geplant und umgesetzt. Die Ukraine ist schon seit dieser Zeit zum Schauplatz der Auseinandersetzung mit Russland und dessen “Einhegung” durch die Nato erklärt und aufgerüstet worden. “Regime changes” waren Obama’s grosses Spielzeug,die uns neben den Flüchtlingswellen aus dem nahen Osten auch die Problematik mit der Ukraine erst geschaffen haben. Die deutsche Politik hat damit herzlich wenig zu tun,man könnte Ihr höchstens vorwerfen,zu spät die Absicht des defakto Besatzers und Dirigenten deutscher Politik erkannt zu haben

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com