Deutschland befindet sich gerade im Notstandsmodus. Ein Zustand, der Politikern gefällt, die gern mal so richtig durchregieren. Da könnten sogar bisherige demokratische Spielregeln geändert werden, praktischerweise beschäftigen sich ja alle mit dem Coronavirus, und das Versammeln und Protestieren ist zudem gerade streng verboten. Auch zur Verkleinerung des Bundestags machen beunruhigende Pläne die Runde.
„Derzeit sitzen 111 Abgeordnete zu viel im Bundestag. Eine Reform des Wahlrechts ist nötig, doch die Koalition kann sich nicht einigen. Wolfgang Schäuble will ein Deckelungsmodell.“ So vermeldete es das ZDF am Gründonnerstag. Der Deutsche Bundestag gehört mit aktuell 709 Abgeordneten, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, zu den mitgliederstärksten Parlamenten der westlichen Welt. Das ist durchaus steigerungsfähig: Mit der Bundestagswahl 2021 droht das Durchbrechen der Schallmauer von 800 Sitzen.
Gestiegen ist aber nicht die Zahl aller Abgeordneten. Die Zahl der direkt gewählten Parlamentarier entspricht logischerweise wie eh und je der Zahl der Wahlkreise. Zugenommen hat allein die Zahl der Listen-Mandate. Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 waren noch 49,55 Prozent der Bundestagsabgeordneten direkt gewählt, jetzt sind es im angeschwollenen Bundestag nur noch 42,17 Prozent.
Grund für das Anwachsen der Abgeordnetenzahl von den Parteilisten ist bekanntlich die zunehmende Zahl der Überhangmandate. Die wiederum sind eine Folge der Parteienzersplitterung infolge grassierenden Misstrauens seitens der Wahlbevölkerung. Wer die Wähler nicht mehr ernst nimmt, ihnen mit Misstrauen begegnet, der verliert sie. Ein alter Hut.
Auf dem Weg in die Funktionärsrepublik
Wolfgang Schäuble will nun mit einer eiligen Veränderung des Wahlrechts die Zahl der Abgeordneten reduzieren. Damit würde der Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung des Bundestages schwinden. Das hieße, nicht mehr die Landeslisten bildeten das Ergänzungsreservoir, um Differenzen zwischen Direktmandat-Verteilung und Verhältniswahl-Ergebnis auszugleichen. Im Gegenteil: Die Zahl der Direktmandate würde gekürzt – was einem historischen Paradigmenwechsel gleichkäme und das Parlament vollkommen den Parteifunktionären überlassen wäre. Diese Republik würde eine andere, eine hässlichere.
Galt bisher das Primat des direkt erworbenen Mandats, soll nach dem Bundestagspräsidenten zukünftig das Primat der Parteilisten gelten. Begäbe sich die Bundesrepublik damit auf den Weg in eine Funktionärsrepublik?
Sinn macht das natürlich aus Sicht der Schäubles dieses Landes vor dem Hintergrund der steigenden Unbotmäßigkeit des gemeinen Wahlvolks. Es wählt zunehmend anders als von den Parteien gewünscht. Mancher unbequeme Abgeordnete verdankt sein Mandat nur den Erststimmen, denn seine Parteiführung sieht ihn eher ungern im Parlament, weil er sich – so wie es im Grundgesetz steht – mehr seinem Gewissen als der Fraktionsdisziplin verpflichtet fühlt. Das sind (zu) wenige, aber es scheint, dass sich so manch ein Parteifunktionär mittels einer Wahlrechtsänderung gern auch solcher parlamentarischen Störenfriede entledigen würde.
Der erste Schritt hierzu ist nun Schäubles Notlösung. Gewöhnt sich das Wahlvolk daran, woran wohl wenig zu zweifeln ist, dann können kommende Parlamente sogar das gemischte Verhältniswahlrecht gänzlich aus dem Verkehr ziehen.
Warum kein Mehrheitswahlrecht?
Klüger wäre dagegen die Einführung des Mehrheitswahlrechts. In dem spielt die Akzeptanz von Politikern vor Ort die entscheidende Rolle – also das genaue Gegenteil von Schäubles Parteienstaats-Rettungs-Intentionen. Und: Statt 709 und mehr Abgeordneten gäbe es bei 299 Wahlkreisen konstant 299 direkt gewählte Bundestagsabgeordnete! Was ebenfalls ein Paradigmenwechsel wäre – einer zu mehr Bodenständigkeit im „Hohen Hause“.
Um es abgewandelt mit Neil Armstrong zu sagen: Wolfgang Schäuble geht in den Augen von alternativlos eingelullten Otto Normalverbrauchern einen kleinen Schritt, treibt die Bundesrepublik aber zu einem großen Sprung ins Parteienelend. Wer jetzt schläft, wacht in einer anderen Republik auf – einer alternativlos notständig-geführten Besserungsanstalt.