Fundstück / 03.02.2011 / 10:08 / 0 / Seite ausdrucken

Die arabische Revolution und der Untergang des Westens

Ari Shavit

Zwei riesige Prozesse laufen vor unseren Augen ab. Einer ist die arabische Befreiungsrevolution. Nach einem halben Jahrhundert, in dem Tyrannen die arabische Welt regiert haben, beginnt der Einfluss dieser Tyrannen zu schwinden. Nach vierzig Jahren wackelnder Stabilität frisst sich der Rost in diese. Die arabischen Massen akzeptieren nicht länger, was sie bislang akzeptiert haben. Die arabischen Eliten bleiben nicht länger ruhig.

Prozesse, die seit etwa einem Jahrzehnt unter der Oberfläche geschwelt haben, brechen plötzlich in einer Freiheitsintifada aus. Modernisierung, Globalisierung, Telekommunikation und Islamisierung haben eine kritische Menschenmasse geschaffen, die nicht gestoppt werden kann. Das Beispiel des demokratischen Irak rüttelt andere wach und Al Jazeeras subversive Sendungen fachen das Feuer an. Und so fiel die Bastion in Tunis, die Kairoer Bastion ist am Fallen und andere arabische Bastionen werden fallen.

Die Szenen ähneln der palästinensischen Intifada von 1987, doch der Kollaps erinnert an den sowjetischen Kollaps in Osteuropa im Jahr 1989. Niemand weiß, wohin die Intifada führen wird. Niemand weiß, ob sie Demokratie, einen Gottesstaat oder eine neue Form von Demokratie bringen wird. Doch auf jeden Fall wird es nie wieder so sein wie bisher.

Die alte Ordnung des Nahen Ostens zerfällt. So wie die Offiziersrevolution in den 1950ern den arabischen Monarchismus, der auf die Kolonialmächte gebaut hatte, zu Fall brachte, bringt die 2011er Revolution die arabischen Tyrannen, die von den Vereinigten Staaten abhängig waren, zu Fall.

Der zweite Prozess ist die Beschleunigung des Untergangs des Westens. Etwa sechzig Jahre lang gab der Westen der Welt eine zwar unvollkommene, doch stabile Ordnung. Er baute eine Art postimperiales Reich, das relative Ruhe und maximalen Frieden versprach. Der Aufstieg von China, Indien, Brasilien und Russland und die Wirtschaftskrise in den USA haben klar gemacht, dass das Imperium am Schwinden ist.

Und doch hat der Westen eine Art internationaler Hegemonie aufrecht erhalten. So wie kein Ersatz für den Dollar gefunden werden konnte, wurde keiner für die nordatlantische Führung entdeckt. Doch der schwache Umgang der westlichen Länder mit dem Nahen Osten beweist, dass sie nicht länger führend sind. Vor unseren Augen verwandeln sich die Supermächte in Palavermächte.

Es gibt keine Entschuldigungen für die Widersprüche: Wie kann es sein, dass Bushs Amerika das Problem der Unterdrückung in der arabischen Welt verstand, doch Obamas Amerika dies bis letzte Woche ignorierte? Wie kann es sein, dass Hosni Mubarak im Mai 2009 ein angesehener, von Barack Obama respektierter Präsident war und im Januar 2011 ein von Obama abgeschobener Diktator ist? Wie kann es sein, dass Obama im Juni 2009 die Massen, die gegen den fanatischen Mahmoud Ahmadinejad auf die Straße gingen, nicht unterstützte, während er nun hinter den Massen steht, die gegen den moderaten Mubarak demonstrieren?

Es gibt eine Antwort auf diese Fragen: Die Position des Westens ist keine moralische, die eine klare Zusage an Menschenrechte macht, sondern die Position des Westens reflektiert die Aneignung von Jimmy Carters Weltanschauung: Katzbuckeln vor geistig umnachteten, starken Tyrannen und Fallenlassen der moderaten, schwachen.

Carters Verrat am Schah brachte uns die Ayatollahs und wird uns bald Ayatollahs mit Atomwaffen bringen. Die Folgen des Verrats an Mubarak durch den Westen werden nicht weniger ernst sein. Es ist nicht nur der Verrat an einem Staatsführer, der dem Westen gegenüber loyal war, der der Stabilität diente und zur Mäßigung beitrug. Es ist der Verrat an jedem Verbündeten des Westens im Nahen Osten und in den Entwicklungsländern. Die Botschaft ist klar und deutlich: Das Wort des Westens gilt nichts. Eine Allianz mit dem Westen ist keine. Der Westen hat verloren. Der Westen hat aufgehört, eine führende und stabilisierende Rolle in der Welt zu spielen.

Die arabische Befreiungsrevolution wird den Nahen Osten grundlegend ändern. Die Beschleunigung des Untergangs des Westens wir die Welt verändern. Eine Folge wird die Hinwendung zu China, Russland und zu regionalen Mächten wie Brasilien, Türkei und Iran sein. Eine andere Folge wird eine Reihe internationaler Unruhen sein, die auf Grund der verloren gegangenen Abschreckung des Westens aufkommen. Doch die übergreifende Folge wird der Kollaps der nordatlantischen politischen Hegemonie sein, und dies nicht erst in Jahrzehnten, sondern bereits in Jahren. Wenn die Vereinigten Staaten und Europa Mubarak jetzt beerdigen, beerdigen sie auch die Macht, die sie einst hatten. Auf dem Tahrir-Platz von Kairo schwindet das Zeitalter der westlichen Hegemonie.
http://www.haaretz.com/print-edition/opinion/the-arabs-are-being-liberated-the-west-is-in-decline-1.340967

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