Oliver Zimski / 21.03.2021 / 16:00 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 12 / Seite ausdrucken

Der schönste Tag

Ich wachte auf vom Vogelgezwitscher und der Sommersonne, die gleißend ins Fenster strahlte. Wie wunderbar das passte! Auf diesen ersten Samstag im August 2021 hatten wir monatelang hingelebt, Pläne geschmiedet und Vorfreude angehäuft, als würden Geburtstag, Ostern und Weihnachten zusammenfallen. Heute lag der Inzidenzwert nämlich seit vier Wochen stabil unter 35, und für diesen Fall hatte die Kanzlerin die Öffnung von Gastronomie, Einzelhandel und Kinos versprochen. In derselben Reihenfolge gedachten auch wir den Tag zu begehen: Erst mit der ganzen Familie schön essen gehen, danach einmal um die kleinen Läden in unserem Kiez shoppen und schließlich in unser altes Bezirkskino um die Ecke. Endlich wieder normales Leben!

Sandra begann sich neben mir zu räkeln, und ich drückte ihr einen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange: „Nicht unseren Tag verschlafen, Schatzi!“ Dann schaltete ich wie jeden Morgen das Radio ein, pünktlich zu den Nachrichten. Gleich die erste Meldung dämpfte allerdings meine Euphorie. In NRW hatte man gestern einen Verdachtsfall festgestellt, der möglicherweise auf eine neue hochansteckende Variante des Covid-19-Virus hindeutete, in unmittelbarer Nachbarschaft eines China-Restaurants. Deshalb hatte das Corona-Kabinett in einer nächtlichen Video-Krisenschalte beschlossen, die Öffnung der Gastronomiebetriebe um weitere vier Wochen zu verschieben.

Ich betätigte den Ausknopf. „Unseren Restaurantbesuch holen wir nach. Ist wahrscheinlich auch besser so, um das bisher Erreichte nicht zu gefährden. Wir warten schon so lange, da machen die paar Wochen auch nichts mehr aus.“

Sandra nickte. „Das Thai-Menü können wir uns nach Hause bestellen. Aber erst würde ich gern durch die kleinen Läden bummeln. Vielleicht haben ja Klaus und Rike Lust, mitzukommen. Seit heute sind doch wieder zwei Haushalte erlaubt.“

Klaus und Rike waren gute Freunde, die ein Stockwerk über uns wohnten. Auch unsere Kinder waren befreundet und würden sich sicher über eine gemeinsame Unternehmung freuen. In den vergangenen sieben Monaten hatten wir penibel darauf geachtet, dass Jonas und Lea sich mit niemandem verabredeten. Auch zwischen den Erwachsenen hatte es höchstens kurze Zufallsbegegnungen vor dem Haus gegeben.

„Au ja, das machen wir!“, säuselte ich und ließ meine Hand unter Sandras Pyjama-Oberteil gleiten. „Schatzi, mir kommt gerade eine Idee, um diesen herrlichen Tag einzuleiten. Die Kinder schlafen noch, da könnten wir ja mal wieder…“

„Nicht heute“, erwiderte sie und schob sanft meine Hand weg, „hab’ ein bisschen Kopfweh.“

Wie von der Tarantel gestochen, rückte ich von ihr ab: „Auch Gliederschmerzen?“

„Nein...“

„Soll ich dir einen Schnelltest holen?“

 „Den habe ich schon gestern Abend gemacht.“

„Und?“, fragte ich. „Mit welchem Ergebnis?“

Sandra brach in Tränen aus.

„Natürlich negativ. Glaubst du wirklich, ich hätte dir das verschwiegen, wenn es anders wäre?“

Du liebe Güte, wieso heulte sie in letzter Zeit immer sofort los? Um unseren schönen Tag nicht zu gefährden, verkniff ich mir weitere Nachfragen, obwohl nach ihrer Antwort Restzweifel blieben. Bekanntermaßen waren die Schnelltests nicht zu hundert Prozent zuverlässig.

Während Sandra im Bad verschwand, legte ich die Aufbackbrötchen in den Ofen und pochte an die Zimmertüren von Jonas und Lea. „Heute ist der große Tag“, rief ich mit extra fröhlicher Stimme, „fertigmachen zu Shopping und Kino!“

Beim Decken des Frühstückstisches fiel mein Blick auf den übervollen Mülleimer. Ihn auszuleeren, war eigentlich Jonas’ Aufgabe, aber heute würde ich ein Auge zudrücken. Als ich mit der Mülltüte in der Hand schon vor unserer Wohnungstür stand, hörte ich draußen im Treppenhaus Schritte nach oben gehen, von mindestens drei Personen. Möglicherweise kamen unsere Freunde vom Wochenendeinkauf zurück. Da Sandra und ich uns während der Pandemie angewöhnt hatten, vor Betreten des Hausflurs immer erst zu lauschen, ob alles frei war, wartete ich, bis über uns die Tür ins Schloss klappte, erst danach schlüpfte ich hinaus.

Im Hof angekommen, schien mir die Sonne prall ins Gesicht. Ich lehnte die Mülltüte an die Hauswand und reckte mich mit geschlossenen Augen, wie eine Blume zum Licht. Sie waren anstrengend gewesen, die letzten Monate. Aber letztlich hatten sich alle Entbehrungen gelohnt.

„Hallo!“, hörte ich eine bekannte Stimme.

Es war die von Klaus, der mir von den Mülltonnen entgegenkam. Wir verspürten wohl beide den Impuls, uns zur Begrüßung zu umarmen, hielten aber rechtzeitig inne und streckten uns die Füße zum gewohnten Coronagruß entgegen. Verlegen lächelnd, sagte er: „Sicher ist sicher, nicht?“

„Komisch, ich dachte, ihr wärt vor zwei Minuten alle die Treppe hochgegangen“, bemerkte ich betont beiläufig, während ich meine Tüte in die Mülltonne warf. Klaus schüttelte den Kopf.

„Dann muss ich mich wohl verhört haben“, fuhr ich fort. „Eigentlich wollten wir euch fragen, ob ihr nicht Lust habt, mit uns shoppen zu gehen, einmal um die kleinen Läden herum.“

„Du warst schon lange nicht mehr dort, oder?“, fragte er mit einem seltsam lauernden Unterton.

„Natürlich nicht“, erwiderte ich. „Die Leute schleudern dort beim Lebensmittelkauf ihre Aerosole durch die Gegend. Man muss sich ja nicht mutwillig anstecken lassen. Was wir in den vergangenen Monaten brauchten, haben wir uns liefern lassen.“

„Alles hat eben zwei Seiten“, erwiderte er. „Weil so viele im Internet bestellen, haben die kleinen Läden fast alle dicht gemacht. Da gibt es nichts mehr zu shoppen.“

Zurück in unserer Wohnung empfing mich ein beißender Geruch von Verbranntem.

„Nein, die Brötchen!“, rief ich. „Konnte nicht mal jemand anders darauf achten?“

Von nirgendwo kam eine Antwort. Die Kinderzimmer waren immer noch zu, und aus dem Bad ertönte laute Musik. Die Küche war voller Qualm. Ich schaltete den Ofen aus und entsorgte die verkohlten Brötchen in einer neuen Mülltüte. Fest entschlossen, mir auch von diesem Missgeschick nicht den Tag verderben zu lassen, lüftete ich und nahm den Toaster in Betrieb.

Als ich die Zimmertüren der Kinder öffnete, platzte mir dann doch der Kragen. Denn beide saßen seelenruhig im Bett und tippten auf ihren Handys herum.

„Könnt ihr nicht mal für ein paar Minuten euren Scheiß ausmachen?“, schrie ich sie an. Entsprechend erschrocken schauten sie aus der Wäsche.

„Warum bist du so geladen?“, fragte Sandra, die mit frisch gewaschenen Haaren aus dem Bad kam. „Heute ist doch unser schöner Tag!“

„Ja, aber er fängt nicht schön an!“, entgegnete ich. „Die Gastronomie bleibt zu, unsere Brötchen sind verbrannt und offenbar sind die kleinen Läden alle bankrottgegangen. Die Shopping-Tour können wir also auch nicht machen. Schon gar nicht mit Klaus und Rike. Klaus hat mir draußen bei den Mülltonnen frech ins Gesicht gelogen, von wegen, sie hätten keinen Besuch. Dabei habe ich im Treppenhaus mindestens drei oder vier Personen hochgehen hören. Kaum sind zwei Haushalte erlaubt, nutzen die das schamlos aus und gefährden die Gesundheit aller im Haus! Total verantwortungslos!“

„Und wenn die Leute zu Frau Schulz wollten?“, gab Sandra zu bedenken.

Frau Schulz war eine alte Dame, die noch über Klaus und Rike in einer kleinen Mansardenwohnung unterm Dach lebte.

„Ausgeschlossen“, sagte ich. „Frau Schulz hat seit über einem Jahr keinen Besuch bekommen und geht auch kaum noch raus. Die hat ja selbst eine Riesenangst vor dem Virus. Zu recht, sie gehört ja zur Hochrisikogruppe.“

„Das hätte ich irgendwie nicht gedacht von Klaus und Rike“, sagte Sandra.

„Tja, in so einer Krise zeigen die Menschen ihr wahres Gesicht“, stellte ich fest. „Klaus hat übrigens auch versucht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, weil wir alles über Amazon bestellen. Offenbar halten die sich an gar keine Regeln mehr, sondern tummeln sich munter im Gedränge. Richtige Verschwörungstheoretiker! Von denen sollten wir uns in Zukunft fernhalten.“

„Also bleibt uns heute Abend nur noch das Kino“, seufzte Sandra. „Besser als nichts. Und wenn die Kinder nicht wollen, frühstücken sie eben später. Jetzt mache ich uns beiden einen wunderbaren Kaffee.“

Ich hatte gerade den ersten Schluck aus meiner Tasse genommen, da meldete sich Lea aus ihrem Zimmer. „Mama, hier steht, das alte Kino macht nicht mehr auf. Der Besitzer hat das Handtuch geworfen. Was heißt das: das Handtuch werfen?“

Ehe einer von uns beiden antworten konnten, hörte man schon wieder Getrampel im Treppenhaus. Ich winkte Sandra zu mir an die Wohnungstür, und als die Schritte, die sich von oben näherten, direkt neben uns waren, riss ich die Tür auf.  Eine jüngere Frau mit verweintem Gesicht lief grußlos an mir vorbei. Hinter ihr wuchteten drei ganz in Schwarz gekleidete Männer eine lange Holzkiste über das Treppengeländer. Oh Gott, das war ja ein Sarg! Wir horchten, bis sie unten das Haus verlassen hatten. Von oben kamen Klaus und Rike, blieben jedoch auf der Zwischentreppe stehen. Instinktiv zog ich unsere Wohnungstür heran. Doch dann siegte meine Neugier über die Vorsicht.

„Was ist denn da passiert?“, rief ich durch den Türspalt.

„Frau Schulz“, rief Klaus zurück. „Ihre Tochter hat sie gefunden. Offenbar lag sie schon mehrere Wochen in ihrer Wohnung.“

Mir lief es kalt den Rücken hinunter.

„Etwa Corona?“, fragte ich.

„Glaube ich nicht“, sagte er. „Wahrscheinlich die Einsamkeit. Ihre Tochter sagt, sie hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen.“

„Er glaubt nicht“, murmelte ich zu mir selbst, nachdem ich unsere Tür geschlossen hatte. „Aber glauben heißt nicht wissen. Sie kann es auch getan haben, weil sie infiziert war.“

Sandra schluchzte laut auf. Beide Kinder kamen angelaufen.

„Mama, was ist los? Warum weinst du?“

„Weil ich an Oma und Opa denken musste und wie lange wir sie nicht mehr im Heim besuchen durften…“

„Aber das ist doch auch richtig so“, sagte Jonas mit bebender Stimme. „Wenn wir sie dort anstecken, dann sterben sie, und wir sind schuld. Das hast du uns doch immer gesagt, Papa, oder?“

Für einen Moment verlor ich meine Selbstbeherrschung.

„Sofort auf eure Zimmer!“, brüllte ich. „Im Haus gibt es möglicherweise einen Corona-Fall, deshalb geht heute keiner mehr raus. Und ab morgen nur noch mit Maske, auch im Hausflur!“

„Jetzt reicht´s aber!“, schrie Sandra zurück. „Drehst du jetzt völlig durch? Verschone die Kinder mit deinen idiotischen Regeln und Masken!“

Genau dreißig Sekunden hielt ich die Luft an, bevor ich sie mit einem leisen Pfeifen durch meine gespitzten Lippen entweichen ließ. Eine bewährte Übung, um das innere Gleichgewicht zu wahren. Bei allen hier lagen die Nerven blank, nur ich musste immer der Fels in der Brandung sein. Das war wohl mein Schicksal.

„Aber Schatzi“, sagte ich und streckte beide Arme nach ihr aus, „wir wollten uns doch diesen Tag durch nichts verderben lassen.“  

„Fass mich nicht an!“, fauchte sie wie eine tollwütige Katze und lief schimpfend in Richtung Schlafzimmer: „Wenn der Corona-Zirkus vorbei ist, ziehe ich aus diesem Irrenhaus aus, mit den Kindern! Ich kann nicht mehr, und ich will auch nicht mehr!“

Rumms! knallte die Tür. Ich schüttete meinen kalt gewordenen Kaffee in den Ausguss und schaltete die Nachrichten ein. Zufällig sprach gerade die Kanzlerin. Wenn wir aufeinander achtgäben und solidarisch seien, sagte sie, würden wir die schwere Zeit der Pandemie gemeinsam bestehen. Der Schlüssel sei gegenseitiges Vertrauen, besonders das von uns Bürgern in ihre Regierung. Wie immer sprach sie mir aus dem Herzen, und ihre Worte bestärkten mich in meiner Haltung: Vertrauen war der Anfang von allem.

Foto: Bildarchiv Pieterman

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Jürgen Fischer / 21.03.2021

Nicht lustig. Ach, sollte es auch nicht sein? Na denn ...

Karla Kuhn / 21.03.2021

Herr Zimski, Sie haben mit dieser Geschichte absolut treffend -LEIDER- die Einstellung von vielen Menschen im Land beschrieben. Die hocken offenbar “blind und taub” für die Wirklichkeit,  in ihrer Komfortzone und weigern sich, endlich die Augen aufzumachen. meistens sind es Wessis.  Das mit der “alten Frau Schulz ” und ihrem Suizid entspricht traurigerweise der Wirklichkeit ! Es ist ein Verbrechen an ALLEN Menschen, dieses GEFÄNGNIS (ich mag das Wort LOCKDOWN NICHT, erstens bin ich Deutsche und dann klingt L. viel zu harmlos) nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern es auch noch weiter auszudehnen. Wer sich die Person Merkel überhaupt noch antut, dem scheint wirklich der Sinn für die REALITÄT VÖLLIG abhanden gekommen zu sein !

Helge Jörn / 21.03.2021

Ganz wunderbar, Herr Zimski! Sie haben sich leider nur im Datum vertan. Es ist der August 2022, oder um die neue Zeitrechnung zu gebrauchen: die vierte Inzidenzwoche der sechsten Welle!

Hans Henke / 21.03.2021

Großartig. Vielen Dank dafür. Unsere irrationale Angst hat die Herrschaft übernommen und zerstört all das, das wir uns einreden für wichtig zu halten. Es ist gruselig geworden hier.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com