Chaim Noll / 18.07.2020 / 06:25 / Foto: Ildar Sagdejev / 107 / Seite ausdrucken

Demontage der Demokratie

Wer hat das Wahnsinns-Wort von der „Grenze des Sagbaren“ in die Welt gesetzt? Nein, nicht Claudia Roth, Carolin Emcke oder eine andere Freundin schwülstigen Schwatzens – die führen es nur gern und oft im Munde. Ich konnte seine Spuren mehr als dreißig Jahre zurückverfolgen, bis zu einem Aufsatz des auf DDR-Literatur spezialisierten Münsteraner Germanisten Manfred Jäger von 1990, Die Grenzen des Sagbaren, Sprachzweifel im Werk von Christa Wolf. Daher mein Eindruck: Der Begriff wurde damals geprägt, um Sprach- und Denkbarrieren in einem totalitären System zu beschreiben. Vielleicht stammt er sogar von der Partei-Schriftstellerin Christa Wolf, die immer wieder – mit masochistischer Feinfühligkeit – ihre Qualen beim Verschweigen der Wahrheit beschrieben hat. Und es ist erschreckend und für den heutigen Zustand westlicher Medien entlarvend, wie selbstverständlich dieser Terminus inzwischen im Westen angewandt wird, wie unbedenklich die neuen Sprach- und Gedankenwächter in einer vorgeblich freien Gesellschaft „Grenzen des Sagbaren“ fordern.

Jeder Psychologe weiß, dass Restriktionen beim Verbalisieren von Gedanken, Wahrnehmungen, Empfindungen, Theorien etc. unweigerlich negative Rückwirkungen auf das Denken haben. „Grenzen des Sagbaren“ schaffen „Grenzen des Denkbaren“. Vor allem dann, wenn – wie heute zunehmend üblich – das Übertreten der willkürlich errichteten, sich immer noch verengenden Sprachgrenzen öffentlich abgestraft wird. Dann beginnen die angeblich freien Individuen jedes Denken in diese Richtung zu fürchten und zu vermeiden. Im Gehirn entstehen weiße Zonen. Kreative Denkwege werden blockiert. Daher die unendliche Öde der Politisch Korrekten. Der äußeren Zensur folgt die innere – ein die psychische Gesundheit des Menschen schädigender Vorgang.

Aus diesem Grund muss in einer demokratischen Gesellschaft möglichst alles „sagbar“, sogar „schreibbar“ bleiben. Nachdem es gesagt oder geschrieben wurde, kann jedermann mit dem gleichen Recht dagegen vorgehen, mit Gegenmeinung, Analyse, Polemik, Satire oder, falls es sich wirklich um rassistische, menschenfeindliche, zur Gewalt aufrufende oder sonstwie justiziable Äußerungen handelt, juristisch. Doch zunächst einmal muss erlaubt sein, den Gedanken – mag er noch so fragwürdig sein – zu äußern. Jedes Bemühen um präventive Unterdrückung unerwünschten Denkens ist der Beginn einer Demontage der Demokratie.

Abweichende Meinungen, wenigstens als Feigenblatt

Wie selbstzerstörerisch sich „Grenzen des Sagbaren“ auswirken können, erlebt derzeit der ängstliche, noch junge Herausgeber der New York Times, Arthur G. Sulzberger. Der knapp Vierzigjährige ist Erbe einer Dynastie, die seit fünf Generationen die berühmte New Yorker Zeitung besitzt. Sein Ur-Urgroßvater Adolph Ochs, ein jüdischer Emigrant aus Fürth in Bayern, folgte noch dem Grundsatz einer Trennung von Nachrichten- und Meinungsteil und rettete die angeschlagene Zeitung, die er 1896 mit geborgtem Geld aufkaufte, durch die tolerante Politik einer Veröffentlichung „alles Mitteilenswerten“ („all the news that’s fit to print“) statt der heute üblichen Selektion im Sinne des ideologischen Programms der Herausgeber.

Der junge Sulzberger hatte die New York Times im Dienst seiner links-liberalen Überzeugungen als Angriffswaffe gegen die Präsidentschaft von Donald Trump profiliert, dabei aber, der Tradition seiner Vorväter folgend, abweichende Meinungen – wenigstens als Feigenblatt – geduldet. Bis die Zeitung am 3. Juni dieses Jahres einen Kommentar – in der amerikanischen Medien-Terminologie „op-ed“ – des gleichfalls noch jungen republikanischen Senators Tom Cotton abdruckte, in dem dieser, ein ehemaliger Berufsoffizier, den Einsatz von Militär gegen gewalttätige Demonstranten und Plünderer guthieß. Der Artikel löste einen Sturm der Entrüstung aus, vor allem einen so genannten shitstorm auf Twitter und anderen sozialen Medien.

„Op-ed“ ist die Abkürzung von „opposite the editorial page“, womit ein von der Redaktionslinie abweichender, sogar opponierender Text gemeint ist, meist von einem Gastautor verfasst, den eine demokratischen Grundsätzen verpflichtete Zeitung dennoch abdruckt. Darauf hätte sich Sulzberger berufen können, es hätte genügt, die shit-stormer an die Grundsätze demokratischen Medienwesens zu erinnern. Stattdessen veröffentlichte er drei Tage später ein jammervolles Editorial, in dem er sich für den Abdruck des Textes entschuldigte und in seiner Panik ganz offen die – offenbar längst üblichen – Mechanismen Redaktions-interner Zensur beschwor: „Der Kommentar (von Senator Cotton) hätte – wie das bei solchen Essays oft der Fall ist – weiteren substanziellen Korrekturen unterzogen oder abgelehnt werden müssen.“ („The Op-Ed should have been subject to further substantial revisions – as is frequently the case with such essays – or rejected.“)

Dem innergesellschaftlichen Stammeskrieg nähern

Damit ist die Einrichtung des op-ed abgeschafft, es wird ersetzt durch zahnlose, von der Redaktion zensierte Texte, die sich so nennen. Wie allgemein von den Einrichtungen der Demokratie oft nur noch die Namen übrig bleiben. Deren Wohlklang an die großen Zeiten erinnert, während wir uns in praxi dem innergesellschaftlichen Stammeskrieg nähern.

Folglich begannen innerhalb der New York Times Säuberungen: Der für den Abdruck von Cottons Kommentar verantwortliche Redaktionsleiter James Bennet wurde entlassen. Dieser Schritt löste sogar unter linken Intellektuellen und Medienleuten Beunruhigung aus, 150 Autoren, darunter weltbekannte wie Margaret Atwood, J.K. Rowling und Salman Rushdie beklagten in einem in Harper's Magazine erschienenen Offenen Brief eine zunehmende Einengung der Meinungsfreiheit. Sogar ein angepasster Autor wie Daniel Kehlmann erklärte in einem Interview: „Es war zum Beispiel völlig richtig, sich darüber zu ärgern, als die New York Times den widerlichen Kommentar des republikanischen Senators Tom Cotton abgedruckt hat, in dem dieser sich dafür aussprach, das Militär gegen Demonstranten einzusetzen. Aber musste man wirklich den zuständigen Redakteur kündigen?“

Kehlmann demonstriert sein Recht auf drastische Formulierung, indem er Cottons Kommentar „widerlich“ nennt, doch zugleich – wenn auch verschämt und indirekt – dafür eintritt, dass er veröffentlicht wurde. Anders als der Herausgeber der New York Times, der nachträglich, unter dem massiven Druck von Black Lives Matter und ihrer alles überschreienden Medienlobby, den Abdruck von Senator Cottons Meinung bedauerte: „We have concluded that the essay fell short of our standards and should not have been published.“

Aus einer erhofften kreativen Debatte wird blanker Hass

Dieser feige Rückzug, zugleich ein Verrat an den Traditionen des Blattes, veranlasste Bari Weiss, eine bekannte Redakteurin der New York Times, zu solidarischen Äußerungen mit ihrem entlassenen Kollegen Bennet, die ein Mobbing durch die wortführende aggressiv-ideologische Gruppe innerhalb der Redaktion auslöste: Sie wurde, wie sie in ihrem an Herausgeber Sulzberger gerichteten Kündigungsschreiben am 14.7. erklärt, als „Nazi und Rassist“ beschimpft, persönlich erniedrigt, diskriminiert und in der Arbeit behindert, in der Redaktion tobe ein „Bürgerkrieg“ selbsternannter „Krieger der sozialen Gerechtigkeit“ („social justice warriors“) gegen alle abweichenden Meinungen, obwohl Gründervater Ochs postuliert hatte: Um die New York Times als kompetentes, informatives Medium zu erhalten, müsse man eine „intelligente Diskussion aller Nuancen der öffentlichen Meinung“ zulassen. („invite intelligent discussion from all shades of opinion”).

Bari Weiss' Demissionsschreiben an Sulzberger hat weltweite Beachtung gefunden. Einmal, weil es die Misere der großen Leitmedien in aller Klarheit darstellt, ihre Ideologisierung auf Kosten der Information, ihre Behinderung durch interne Kämpfe und Reinigungsprozeduren, ihre Selbstüberschätzung als Gralshüter alleiniger Wahrheit. In diesen Medien, schreibt Weiss in ihrem Brief an Sulzberger, sei „Wahrheit nicht mehr ein Prozess gemeinsamer Entdeckung, sondern eine Orthodoxie, die schon vorher erleuchteten Wenigen bekannt ist, deren Job darin besteht, es die anderen wissen zu lassen.“ Zweitens kann man hier en detail studieren, wie sich in vielen Strukturen der westlichen Demokratien die Selbstzerstörung vollzieht: Was als Miteinander gedacht war, wird zum Gegeneinander, aus einer erhofften kreativen Debatte wird blanker Hass. Wie gerade die vernünftigen, konsensbereiten Leute verdrängt werden durch die radikalen und destruktiven.

Wegen der Prominenz der Beteiligten ist dieser Fall medialer Selbstzensur und redaktioneller Säuberung tagelang Gegenstand der Berichterstattung gewesen. Wie viele solcher Fälle mag es geben, die nicht an die Öffentlichkeit dringen? Die Demontage der Demokratie erfolgt von innen. Sie beginnt mit sinnlosen Verhinderungen und Verboten, auch hier beim Allerinnersten: dem Aussprechen von Gedanken.

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Michael Hinz / 18.07.2020

Der Begriff für diesen Mißstand lautet “Gleichschaltung”. Sozusagen die Zierde jeder Diktatur. Früher im Osten, heute im Westen. Sind wirklich nur die Gleichschalter verantwortlich und die Gleichgeschalteten nicht ebenso, die alle hier mit Maske durch die Straße laufen und stolz auf ihre Subalternität bestehen?

K.Bucher / 18.07.2020

Also mit verlaub ,aber ich kann dieses jammern auf hohem Niveau schon nicht mehr lesen und hören .Man beachte einfach die Letzten umfragen und WAHL ERGEBNISSE zum Thema Politik .Und nach Diesen Umfragen und Wahl Ergebnissen ist eine deutliche Mehrheit der Wähler mit dem jetzigen ist zustand MEHR als zufrieden .Das heißt für mich , die bedauern und bemäkeln es gar nicht angeblich in ihrer Rede und Gedankenfreiheit beschnitten worden zu sein ...Weil wem dem nicht so wäre dann wären auch oben genannte Ergebnisse alias Tatsachen gar nicht möglich . ich denke mir aber das sich Jeder selber fragen sollte was Er/Sie zuletzt gewählt hat , das betrifft auch den Verfasser von diesem Beitrag .Weil mal Ehrlich ...Zuerst falsch wählen und dann bis zur Nächsten Wahl rum jammern , klagen und zetern um dann bei der nächsten Wahl wieder das gleiche zu wählen kann es ja wohl auch nicht sein oder?

Reiner Gerlach / 18.07.2020

Vor einigen Jahren wurde in diversen Zeitungen (ich kenne es nur aus dem Kölner Stadt-Anzeiger und der Thüringer Allgemeinen) noch durch zwei dazu beauftragte Journalisten zu einem Thema ein pro-und ein contra-Artikel verfasst. Also eine Art freier Meinungsaustausch. Nachdem aber mehrfach der Verfasser der “falschen” Meinung übelst beschimpft worden war, fand ich niemand mehr bereit, seine weitere Karriere auf’s Spiel zu setzen und die Aktion war anscheinend zu Ende. Genau kann ich das leider nicht sagen, weil ich erst das eine und dann das andere Abo gekündigt habe.

Bernhard Maxara / 18.07.2020

Hoffentlich muß ich es nicht mehr erleben, daß die Inhalte von beispielsweise “achgut” nur noch auf heimlich ausgelegten Handzetteln an versteckt liegenden Plätzen zu haben sind, wie dereinst die von den Geschwistern Scholl und anderen lebensgefährlich praktiziert…

Wilfried Cremer / 18.07.2020

Unterschrieben. / In Deutschland kommt dazu die Grenze des Gestaltens, die markiert wird durch den Aufenthaltsbereich des Käfers Karl. (Inzwischen wohnt der überall.)

Franz Klar / 18.07.2020

” Wegen der Prominenz der Beteiligten ist dieser Fall medialer Selbstzensur und redaktioneller Säuberung tagelang Gegenstand der Berichterstattung gewesen.” Nehme ich ganz und gar nicht so wahr . Hier in Nannyland ist beispielsweise weder die Haller - Studie zur Willkommensberichterstattung 2015ff oder die Kolportage frei erfundener ” Hetzjagden ” jemals Gegenstand der ( selbstkritischen ) Berichterstattung gewesen . In welchen Medien denn auch ?

dr. michael kubina / 18.07.2020

Auch wenn ich jetzt hier wahrscheinlich einen Shitstorm auf mich ziehe. Die neuzeitlich Ursünde im Schaffen von Grenzen des Sagbaren (in der freien Welt) ist die Strafbarkeit der Holocaustleugnung. Sie macht aus dem Holocaust einen Mythos, eine nicht hinterfragbare Wahrheit, die gerade deshalb immer wieder hinterfragt wird. Es liegt in der Logik der Dinge, dass mit der Zeit immer mehr “Wahrheiten” einen solchen juristischen oder diskursiven “Schutzstatus” für sich fordern. Es darf keine Grenzen des Sagbaren geben. Nur eine offene Diskussion kann zu einem allgemein anerkannten Kanon von “Mythen” führen, die freilich einem beständigen Wandel unterliegen.

Gudrun Meyer / 18.07.2020

Ähnliche Kämpfe muss es in den einst liberalkonservativen Redaktionen der FAZ und der WELT gegeben haben, und noch weit heftiger und intoleranter in der einst linksliberalen ZEIT. Auch die Frage, wie eigentlich die Linksdrift des ZDF nach Gerhard Löwenthal verlaufen ist, wäre aufschlussreich, wenn so etwas wie eine echte Antwort zu erwarten wäre. Die Redaktionen von FAZ und WELT schwanken heute zwischen Resten ihrer früheren Positionen und dem linken, zum Teil linksextremen, Haltungsjournalismus. Bei der ZEIT sitzen Fossilien aus der Marion Gräfin Dönhoff-Zeit, z.B. Mariam Lau, aber ihre Meinung wird nicht mehr veröffentlicht. Als Lau 2018 in einem Contra-Artikel zum Thema Seenotrettung zu bedenken gab, dass der auf die Rettung folgende Taxidienst nach Europa zwingend zu einer Stärkung der Schlepper führt, warfen empörte Moralparalytiker ihr vor, sie wolle Migranten ertrinken lassen. 1. stimmte das einfach nicht, und 2. kapierten diese Leser nicht mehr, was Pro- und Contra-Artikel überhaupt sind; sie erwarteten, im Contra einfach dasselbe wie im Pro mit etwas anderer Diktion zu lesen. Der Chefredakteur der ZEIT entschuldigte sich bei den totalitären Shitstorm-Teilnehmern und versprach, es ab jetzt “besser” zu machen. Inzwischen findet die ZEIT den Gedanken an eine Kulturrevolution gut. Vermutlich wurde der “Kampf gegen Rechts” in dt. Redaktionen noch härter als in der NYT geführt und gleichzeitig ließ man weniger nach außen durchdringen.

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