Hannes Stein / 11.06.2007 / 01:00 / 0 / Seite ausdrucken

Brief aus Washington, Fortsetzung

“Heute ist eine Anti-Israel-Demo gleich neben dem Kapitol”, sagt Aliza mir, “die musst du dir anschauen ... komischerweise hat auch irgendeine christliche Organisation dazu aufgerufen.” In Amerika ist das wirklich seltsam; viele Christen hier sind bekanntlich durchgeknallte Evangelikale, denen—anders als den milden Protestanten bzw. katholischen Bischoefen in Deutschland—bei “Israel” nicht gleich das Wortfeld “Mauer, Warschauer Ghetto, Vernichtungskrieg” einfaellt, wofuer sie (die Evangelikalen) in Europa natuerlich instaendig verachtet werden.
...

Unterwegs zum Kapitol gerate ich in eine Art Rummel, auf der Constitution Avenue sind lauter Staende aufgebaut, es gibt frischgemachte Limonade, T-Shirts, Hot Dogs, ich kapiere erst gar nicht, wo ich da bin. RAINBOW BUDDHA, lese ich auf einem Transparent, anderswo steht: UNITARIAN UNIVERSALISTS FOR PEACE AND JUSTICE, naechster Stand: TEMPLE EMMANUEL—INCLUSIVE JEWISH CONGREGATION. Ist das hier die Anti-Israel-Demo? Nietschewo, das kann ja wohl nicht sein. Aber was dann, ein Jahrmarkt der Sekten?
Ich stehe fuer Limonade an, es ist knallheiss, dann schlendere ich weiter: THE CHURCH OF THE PILGRIMS. Eine Frau traegt ein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck “Loved by God”, sie steht hier fuer die METROPOLITAN COMMUNITY CHURCH OF FREDRICKSBURG. Warum aber wird auf den Papierkoerben ausgerechnet fuer Gleitgel geworben? (“Got Lube? Special Lubricant”) Ist das fromm?
Als ich immer mehr gleichgeschlechtliche Paare Hand in Hand schlendern sehe, daemmert mir was, spaetestens am Stand GAYLAW (einer Vereinigung schwuler Rechtsanwaelte) geht mir ein Licht auf, ja, sogar die US Army ist vertreten: “End Don’t Ask—Don’t Tell” fordern schwule Soldaten, also: Macht ein Ende mit der Richtlinie, dass man in der amerikanischen Armee zwar schwul sein, aber nicht drueber reden darf.
Gute Atmosphaere. Im Hintergrund spielt eine Band irgendwas Lautes und Rochmaessiges, die Limonade schmeckt schoen sauer. Und alle die Kirchen- und Synagogengemeinden, die ich hier habe Werbung machen sehen, heissen ausdruecklich Schwule und Lesben willkommen. Wo aber ist meine Anti-Israel-Demo?
Ich sehe sie gleich, als ich vor dem Kapitol stehe. Gelbe Schilder mit dem Aufdruck “Free Palestine—Support the Right of Return”. Rote Schilder mit dem Aufdruck “End US Support for Israeli Occupation”.
Vielleicht 1000 Leute, also die Groesse einer durchschnittlichen Anti-Achmadinedschad-Demonstration in Berlin, Deutschland. Eine Frau am Mikrofon, laut, schneidend. Am Rand ein paar Leute mit Israelflaggen. Heftige Diskussionen, aber keine Gefahr, dass die Sache handgreiflich werden koennte. Nach fuenf Minuten endlich die Gestalten, auf die ich schon gewartet habe: Zwei Naturei-Karta-Clowns mit Hueten und Schlaefchenlocken und PLO-Flaggen. Ihnen kommt ein Typ mit einem “Jews for Jesus”-T-Shirt und dem israelischen Hoheitszeichen entgegen.
Jetzt waere eine gute Zeit, sich an den Kopf zu fassen und die Selbsteinweisung ins naechste Irrenhaus zu beantragen.
Stattdessen schreibe ich Slogans in mein rotes Notizbuch: US OUT OF MIDDLE EAST. END ALL AID TO ISRAEL. WE ARE ALL PALESTINIANS. “This struggle is not just about Palestine”, sagt die Frau am Mikrophon, “it is also about Buddhists and Christians…” Wie bitte? Was haben die denn ploetzlich damit zu tun? “Justice will usher in centuries and centuries of peace”, sagt sie. “So what do we want?”—“Justice!” rufen die Demonstranten. “And when do we want it?”—“Now!” rufen die Demonstranten.
Genau! Frieden via Gerechtigkeit, gegruendet auf uralte historische Ansprueche! Wie im Kosovo. Oder in Kaschmir. Oder in den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Hat schliesslich immer prima funktioniert.
Die Palme fuer den witzigsten Slogan ist dem baertigen alten Mann zu reichen, der ein Pappschild vor sich hertraegt: BROOKLYN OUT OF PALESTINE. Hut ab! Von den Gegendemonstranten—einem winzigen Haeuflein—gelingt es nur einem, dasselbe Witz-Niveau zu erreichen: I SAY FATAH. YOU SAY HAMAS. LET’S BLOW EACH OTHER UP. Touche.
Auf dem Weg zu Barnes&Noble ueberlege ich mir dann, ob man die drei Demonstrationen, deren Zeuge ich heute geworden bin, aus Kosten- und Ersparnisgruenden nicht einfach zusammenlegen sollte. Das Ergebnis waere eine proisraelische Kundgebung, verbunden mit einer Demo fuer die Menschenrechte der schwulen und lesbischen Paleastinenser, die in der INCLUSIVE MOSQUE OF RAMALLAH herzlich willkommen geheissen werden. Ich glaube, da wuerde ich mich—Salaam allerseits—ohne groessere Skrupel anschliessen.

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