Stefan Frank / 18.08.2021 / 06:10 / Foto: Jody Lee Smith / 115 / Seite ausdrucken

„Biden gab Taliban grünes Licht”

Der zwanzigjährige Einsatz der USA, Kanadas, Großbritanniens, Australiens, Deutschlands und anderer Länder in Afghanistan endete diesen Monat damit, dass der afghanische Präsident Ashraf Gani vier Autos voller Geld packte. Weil in den Fahrzeugen nicht genug Platz war, versuchte er, den Rest in seinen Hubschrauber zu stopfen. Als er sich mit dem Helikopter aus dem Staub machte, blieb ein Teil des Geldes auf dem Asphalt zurück. So jedenfalls beschrieb ein Sprecher der russischen Botschaft in Kabul gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA die Szene und berief sich dabei auf Augenzeugen.

US-Präsident Joe Biden hatte für den Abzug der noch im Land verbliebenen 2.500 amerikanischen Soldaten einen Stichtag gesetzt: Allerspätestens bis zum 11. September müssten sämtliche GIs aus Afghanistan abgereist sein. Das Datum ist der zwanzigste Jahrestag der von Al-Qaeda verübten Terroranschläge vom 11. September 2001. 

Es wird dieses Jahr ein seltsames Gedenken werden. Joe Biden würde wohl der Öffentlichkeit an diesem Tag – wie so oft – am liebsten fernbleiben. Hat er doch dafür gesorgt, dass die afghanischen Taliban, die im Weißen Haus als wichtigste Unterstützer von Al-Qaeda galten (weil man dort vor Donald Trumps Amtszeit nicht über die unselige Rolle Pakistans reden wollte, muss man hinzufügen), pünktlich zum Jahrestag wieder die Herren ganz Afghanistans sind.

Noch vor zwei Monaten feierte die US-Botschaft in Kabul den Pride-Monat der Schwulen-, Lesben-, Bi- und Transgenderrechte. Und an der Universität Kabul konnte man einen Master-Abschluss in Gender Studies machen. Mit beidem ist es nun wohl erst mal vorbei.

Keiner Schuld bewusst und ohne Mitgefühl

Tausende Afghanen, die sich in den letzten zwanzig Jahren als Anhänger einer säkularen westlichen Kultur zu erkennen gegeben haben – im Glauben, dass das nun in ihrem Land möglich sei –, müssen jetzt fliehen, um nicht ausgepeitscht, gesteinigt, gehängt oder geköpft zu werden.

Unterdessen zeigt sich Joe Biden ungerührt, keiner Schuld bewusst und ohne Mitgefühl. In einer Stellungnahme sagte der Präsident, „wenn Afghanistan jetzt keinen wirklichen Widerstand gegen die Taliban leisten“ könne, bestehe „keine Chance, dass ein Jahr – ein weiteres Jahr, fünf weitere Jahre oder 20 weitere Jahre – amerikanischer Militärpräsenz einen Unterschied“ machten. Biden machte deutlich, dass er sich durch das Debakel in seiner Einschätzung nur bestätigt fühlt, dass ein weiterer amerikanischer Einsatz nutzlos sei. Er räumte ein, dass seine Regierung erst spät damit begonnen habe, afghanische Mitarbeiter auszufliegen. Das habe auch damit zu tun, dass er keine „Vertrauenskrise“ habe auslösen wollen, erklärte er. Zudem machte er seinen Amtsvorgänger Donald Trump mitverantwortlich; dieser habe schließlich das Abkommen über den amerikanischen Truppenabzug unterzeichnet. Biden:

„Es gab nur die kalte Realität, entweder die Vereinbarung zum Abzug unserer Streitkräfte umzusetzen oder den Konflikt zu eskalieren und Tausende weiterer amerikanischer Truppen in den Kampf in Afghanistan zurückzusenden und damit in das dritte Jahrzehnt des Konflikts zu stürzen.“

Das aber sei für ihn nicht in Frage gekommen, so Biden. Er werde den Konflikt nicht an einen „fünften Präsidenten weitergeben“. 

Der frühere US-Außenminister Mike Pompeo nannte diese Argumentation „peinlich“. „Wäre ich noch Außenminister mit einem Oberbefehlshaber wie Präsident Trump, hätten die Taliban verstanden, dass jeder, der sich gegen die Vereinigten Staaten von Amerika verschwört, dafür bezahlen muss“, sagte er. „Qassem Soleimani hat diese Lektion gelernt und die Taliban hätten sie auch gelernt.“ Eine „schwache amerikanische Führung“ schade immer der amerikanischen Sicherheit, so Pompeo. Die Biden-Regierung aber habe die „globale Bühne zugunsten des Klimawandels“ verlassen. „Sie haben sich auf die kritische Rassentheorie konzentriert, während die Botschaft in Gefahr ist. Das ist in unseren vier Jahren nicht passiert.“

US-Journalisten gehen auf Distanz zu Biden

Selbst viele von Bidens Unterstützern in den Redaktionen distanzieren sich von ihm, üben offen Kritik. Das gab es noch nie. „Das Debakel der US-Niederlage und des chaotischen Rückzugs in Afghanistan ist eine politische Katastrophe für Joe Biden“, kommentierte der sonst stets Biden-treue Nachrichtensender CNN. 

„Nur wenige amerikanische Präsidenten haben ihre Fehler so spektakulär in Echtzeit aufgezeigt bekommen wie Joe Biden in Afghanistan“, schreibt die Redaktionsleitung von USA Today. Das Blatt zitiert eine Äußerung Bidens, die dieser bei einer Pressekonferenz am 8. Juli machte: „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land einnehmen, ist sehr unwahrscheinlich“. Am letzten Sonntag – also nur rund fünf Wochen später – marschierten die Taliban auch in Kabul ein, nachdem sie zuvor innerhalb weniger Wochen das ganze Land unter ihre Kontrolle gebracht hatten. USA Today erinnert daran, dass Biden dem afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani und anderen afghanischen Führern gerade Unterstützung zugesagt hatte, „damit sie weiteres Blutvergießen verhindern und eine politische Lösung anstreben". Aber am Sonntag war Ghani bereits aus dem Land geflohen.

Ist die Niederlage wenigstens nicht so schmachvoll wie der Vietnamkrieg? „Das ist nicht Saigon", argumentierte US-Außenminister Antony Blinken am Sonntagmorgen auf CNN und wies Vergleiche mit dem Zusammenbruch Südvietnams 1975 zwei Jahre nach dem Abzug der US-Truppen zurück. „Aber während er sprach“, so USA Today, „eilten Hubschrauber herbei, um Personal aus der US-Botschaft in Kabul zu evakuieren“.

Zwei Kommentatoren der Website Politico erinnern daran, dass Joe Biden lange Zeit „seine außenpolitischen Referenzen als Kernkompetenz angepriesen“ habe, die er in das Oval Office einbringen werde. „Und als er dann im Weißen Haus war, verkündete er stolz, ‚Amerika ist zurück’ auf der Weltbühne. Stattdessen dominierten Chaos und Verwirrung seine erste große außenpolitische Entscheidung.“ Ein Leitartikler der Washington Post schreibt, „die zerstörten oder verlorenen Leben von Afghanen werden zu Bidens Erbe gehören“. Die demokratische Kongressabgeordnete Jackie Speier (Kalifornien) sprach gegenüber dem Fernsehsender NBC von einer „Krise unsagbaren Ausmaßes“. Angesichts der von ihm angezettelten Katastrophe in Afghanistan, so scheint es, verliert US-Präsident Joe Biden ebenso schnell an Rückhalt wie sein afghanischer Amtskollege Ashraf Gani.

Anthropologe: „Biden gab Taliban grünes Licht“

Was ist die Ursache der schnellen Machtübernahme der Taliban und was hätten Amerika und der Westen tun können, um ein weniger bedrückendes und schmachvolles Ergebnis zu erzielen? Mit diesen Fragen wandte ich mich am Montag per E-Mail an den kanadischen Anthropologen Philip Carl Salzman (*1940), emeritierter Professor der McGill University in Montreal. Salzman ist u.a. Autor des Buches Culture and Conflict in the Middle East (2007) und einer Studie über Hirtengesellschaften (Pastoralists: Equality, Hierarchy, And The State, 2018). Anfang der 1970er Jahre verbrachte er im Zuge ethnografischer Studien 27 Monate in einem Hirtenlager der Yarahmadzai, einem Stamm nomadischer Viehhalter in den Wüsten von Iranisch-Belutschistan. Seine Erfahrungen beschrieb er später in dem Buch Black Tents of Beluchistan (2000). 

„Niemand redet über die Tatsache, dass die Taliban einen Dschihad gegen die ungläubigen Amerikaner und Europäer führen“, schreibt mir Salzman in seiner Antwort. Über die Jahrzehnte seien sie zu „zunehmend fanatischen Muslimen“ geworden. „Uns im Westen ist es nicht gestattet, den Islam-Teil der Motivation der Taliban zu diskutieren, weil das ‚Islamophobie’ wäre und mithin politisch inkorrekt (das Gleiche gilt für Palästinenser).“ Der religiöse Antrieb aber sei ein Hauptelement der Kriegsanstrengungen der Taliban, schreibt Salzman und erinnert daran, dass das Wort Talib „Schüler der Religion“ bedeutet. „Eine der Schwächen der afghanischen Armee ist, dass auch sie muslimisch ist und es der muslimischen Solidarität widerspricht, gegen die Taliban zu kämpfen.“ 

Was hätte Biden besser machen können? „Die Vorstellung, dass es nach 20 Jahren unerträglich wäre, wenn auch nur ein paar amerikanische Soldaten in Afghanistan verblieben, ist in höchstem Maße willkürlich“, so Salzman. Amerikanische Soldaten seien schließlich seit mehr als 75 Jahren in Deutschland und Japan, und eine große Zahl in anderen Teilen der Welt. In Spanien etwa gebe es mehr amerikanische Soldaten als jene 2.500, die Biden meinte, um jeden Preis aus Afghanistan abziehen zu müssen. „Es gibt keinen Grund in der Welt, warum diese Unterstützungseinheiten (Geheimdienste, Logistik, Luftunterstützung) nicht dauerhaft hätten bleiben können und so das Patt mit den Taliban aufrechterhalten“, so Salzman. Auf diese Weise hätten die terroristischen Gruppen weiterhin daran gehindert werden können, zusammenzuwachsen und aktiv zu werden. „Biden hat jeden Punkt der Trump-Politik abgelehnt, mit Ausnahme des Rückzugs aus Afghanistan“, schreibt Salzman. Doch die Bedingungen, auf denen Trump noch bestanden habe, habe Biden „annulliert“ und stattdessen einen „bedingungslosen Rückzug“ verkündet. „Das war das grüne Licht für die Taliban.“

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Leserpost

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Paul Greenwood / 18.08.2021

@Frank Box Ich bin Ihrer Meinung aber ich merke eine andere Meinung in der Deutschen Politik und Medien und finde die Situation amüsant.

Paul Greenwood / 18.08.2021

@Horst Scharn Die Briten in Afghanistan bis 1919 ist eine andere Geschichte und hängt mit Indien und The Raj zusammen. Aber was Biden betrifft ist einfach dies: Trump hat einen “Deal” gehabt bis 01.05.2021 alle Truppen rauszuziehen und Taliban wird keine Problematik verursachen. Biden hat diesen “Deal” zerrissen und wollte 11.09.2021 Truppen rausziehen und 9/11 als Sieg feiern. Dann musste er 31/08 als Zweite Wahl hinnehmen. Taliban hat Wortbruch - ein US Problem heutzutage - wohl bemerkt und Bidens Pläne durchkreuzt. Die Deutschen haben keinen Grund zu meckern. Die wollten Biden und waren so verliebt in ihm als er eine “Zusammenarbeit” versprach - aber bisjetzt hat er mit keinen Regierungschef in einem anderen Land darüber telefoniert. Es ist nicht unüblich fur die Vereinigten Staaten eigenmächtig zu agieren - aber die Deutschen haben das an Trump angelastet statt es bei Anderen zu befürchten.

Wilhelm Rommel / 18.08.2021

@Johann Santi: So sehr ich, bester Herr Santi, auch Ihre Kritik an den europäischen und speziell deutschen Gegenwartsverhältnissen respektiere, ja in mancherlei Hinsicht sogar teile: Versuchen Sie doch bitte, die Dinge in historischer Perspektive zu betrachten. Die mühsam errungenen Werte der europäischen Aufklärung, die u.a. aus blutigen Konfessionskriegen schließlich gewonnene religiöse Toleranz, die Idee allgemeingültiger Menschenrechte oder auch das Ideal vorurteilsfreien Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis sind ja nicht aus der Welt, weil man sie derzeit mit Füßen tritt: Das haben im 20. Jahrhundert neben anderen auch der Postkartenmaler Schicklgruber oder der abgebrochene Priesterseminarist Dschughaschwili nebst Anhang fleißig betrieben – mit den bekannten Ergebnissen. Rückschläge sind also - leider Gottes! - Teil historischer Abläufe. Vergleichen Sie aber den seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden brodelnden Hexenkessel am Hindukusch, wo seit Mitte der 1990er Jahre mit den wesentlich durch die Lehren der Dar ul-‘Ulum Deoband (wikidingsbums) geprägten Taliban eine der giftigsten islamischen Terrorbewegungen ans Ruder gekommen ist, bitte nicht einmal ansatzweise mit dem, was man – alle systemischen Fehler einrechnend - mit dem Begriff „westlicher Zivilisation“ umschreiben könnte. Die „Suchenden“ am Hindukusch repräsentieren nämlich tatsächlich islamische Steinzeit, durchmischt mit einem kräftigen Schuss vorislamischer Sitten und Gebräuche der unappetitlichsten Sorte!

Lisa Deetz / 18.08.2021

In einer Maischberger-Sendung im Jahr 2012, Thema:” Die Salafisten kommen: Gehört der Islam wirklich zu Deutschland?“ fragte Michel Friedmann den Salafisten Hassan Dabbagh (genannt: der “Imam von Sachsen”): “Stellen Sie den Koran über das Grundgesetz?”——Dabbagh antwortete: “So lange wir in der Minderheit sind, achten wir das Grundgesetz.”

Volker Kleinophorst / 18.08.2021

Idiotenlogik: Islamisierung Afghanistans (eh schon zu nahezu 100 % islamisch) furchtbar: Islamisierung Europas (noch nicht zu 100 % islamisch) super. Vielfalt. Toleranz und die paar Toten.

Alexander Schilling / 18.08.2021

Jeder verwurstet doch das, was ihm die Situation bietet und gelegen kommt: der politisch-militärisch-industrielle Komplex der Chinesen die afghanischen Rohstoffe, die weit in die jeweiligen Parteinomenklaturen hineinragende europäische Asylindustrie die afghanischen “Flüchtlinge” und der Deep State die Möglichkeit, den “Westen” genannten, ehemals demokratischen Block weiter zu destabilisieren. Es läge hier aber auch die Konstellation eines Freud’schen Witzes—nach welcher mindestens drei Personen zur Performanz eines Witzes notwendig sind: der Erzähler, der Zuhörer und der ausgeschlossene Dritte, über den gelacht wird—in klassischer Ausprägung vor: voll funktionierend, auch wenn der jeweils Dritte gar nicht zu erkennen vermag, dass er ausgeschlossen ist——wenn das Ganze nicht viel eher ein unwürdiges, beschämendes Trauerspiel wäre.

Horst Scharn / 18.08.2021

Mr. Greenwood, Sir, erlauben Sie! Dass POTUS Biden sich aus Afghanistan zurückzieht, finden “wir Deutschen"ja okay. Nur die Art und Weise, wie dies geschieht, ist kein Ruhmesblatt, und ist es auch nicht für jene Menschen, die die aktuellen deutschen Regierungsposten besetzen. Es ist militärisch und auch humanitär ein vermeidbares Desaster. Und sind Sie nicht auch der Meinung, dass man schon damals die Mudschaheddin und die Paschtunen ihre Streitereien hätte alleine austragen lassen sollen? Nun gut, die gleiche Frage hätte ich auch Gasbodin Towarischtsch Putin (bzw.  Breschnjew) stellen können, da haben Sie Recht. Denn was (zum Scheitan) geht uns diese Region an? Was (zum Scheitan) soll dieses unselige “Nationbuilding”, so etwas sollten die betroffenen Stämme dort selber entscheiden und nicht die Dame Clinton oder welcher Ausländer auch immer! Und wie so oft: der ganze Ärger fing mal wieder mit den Briten an (Durand-Linie, der Aufwiegler Lawrence von Arabien, sowie diverse “Forscher” wie gewisse Archäologen, in Wirklichkeit Diversanten fremder Mächte). Das ist es, was uns “hysterisch” macht, nicht ihr petrifizierter POTUS. Über den lächeln wir nur, den ignorieren wir nicht einmal. With kindest regards and nothing for ungut (wie “wir Deutschen” zu sagen pflegen).

Franz Klar / 18.08.2021

@Fritz kolb : Dann haben die Puppenspieler auch schon Trump bespielt , denn der hatte richtigerweise endlich die Reißleine gezogen . Einerlei , Hauptsache die Politik ist die richtige . Und das ist hier der Fall .

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