Silvia Meixner / 28.08.2010 / 00:29 / 0 / Seite ausdrucken

Berliner Kindl

Mir zur Rechten sitzt ein Mann, der in seine Zeitung vertieft ist. Er fällt beinahe hinein und liest in der S-Bahn fasziniert die Geschichte über den „Sexkrieg in der Oranienburger Straße“ (komisch, ich war vor zwei Tagen spät abends dort, keine Schießerei, kein Ungemach, nichts, nur romantischer Vollmond). Der Herr neben mir hat, was in Berlins öffentlichen Verkehrsmitteln öfters vorkommt, sein Deo vergessen und zum Haarewaschen kommt er, vermutlich, weil er so viel liest, offensichtlich auch nicht. Mein Interesse wird aber sowieso vom Herrn links von mir angezogen, denn der hält eine Bierflasche auf dem Schoß und betrachtet sie verliebt. Er trinkt und macht ein Bäuerchen. Kein kleines, ein großes, lautes. Als erfahrene Männerkennerin weiß ich nun, dass es ihm gut geht und mehr kann man Menschen, die in einer großen Stadt leben, nicht wünschen, als dass sie S-Bahn fahren und einfach nur glücklich sind.

Wenig später beobachte ich aus einem fahrenden Bus, wie ein eleganter Herr mit Aktenkoffer auf offener Straße in eine Häuserecke uriniert. Er macht sich nicht die Mühe, seine Notdurft so zu verrichten, dass er halbwegs verdeckt ist. Eine Frau geht kopfschüttelnd vorüber. Das erinnert mich an den zum Glück nur flüchtigen Bekannten von vor zwei Wochen, dem ich radfahrend in Schöneberg begegnen durfte. Vielleicht tragen die Männer in Berlin ja nur deshalb so gern Tag und Nacht Jogginghosen, weil es sich offenbar wunderbar praktisch und schnell überall hinpinkeln lässt. Der Mann in der Jogginghose jedenfalls wollte mir vor dem Pinkeln noch schnell sein Geschlechtsteil zeigen. Ich habe ihm im Vorüberfahren mein ehrliches Erstaunen darüber zugerufen, wie klein dieses Körperteil doch geraten kann (was ich ihm noch gesagt habe, möchte ich hier nicht schriftlich festgehalten sehen). Leider war ich sehr in Eile und hatte keine Zeit, die Polizei zu rufen. Aber was hätte ich denen auch erzählen sollen- der Exhibitionismus ist in Berlin sehr verbreitet, niemand regt sich groß über solche Zwischenfälle auf. Leider. Manchmal frage ich mich, warum Großstadtmänner und Großstadtfrauen so viele Probleme miteinander haben. Die Antworten findet man, wie oft auch gute Geschichten, in Berlin auf der Straße. So. Und jetzt geh’ ich auf ein Bier in meine Lieblingskneipe. Sie heißt „Zwitscherklause“. Rülps.  Silvia Meixner ist Journalistin und Herausgeberin von http://www.good-stories.de

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Silvia Meixner / 15.12.2014 / 13:20 / 0

Silvis Culture Club (75): Flying plastic fantastic

Über den Wolken wird alles gut. Soarigami ist der neue Armlehnentrenner, der den Dauerstreit um die schmale Armlehne im Flugzeug beenden soll. Er verbreitert die…/ mehr

Silvia Meixner / 01.10.2014 / 08:17 / 1

Silvis Culture Club (71): Mund halten und füttern!

Ich habe mal wieder alles falsch gemacht. Kürzlich habe ich einem kleinen Hund, der von einem größeren überfallen wurde, Mut zugesprochen, ich habe ihm zugeflüstert,…/ mehr

Silvia Meixner / 31.08.2014 / 17:08 / 0

Silvis Culture Club (68): Zwischen Spinat und Smartphone - Wie man Mütter in den Wahnsinn treibt

Kinder nerven. Sie stellen jahrelang zermürbende Fragen und kaum sind sie groß, werden sie aufmüpfig und verlassen wenig später das Haus. Zurück bleiben Mütter, die…/ mehr

Silvia Meixner / 19.05.2014 / 23:38 / 3

Gnade! Mei Ruah will i ham

Liebe Frau Bittl, ich helfe beim Fußball immer zu Deutschland- schon aus dem einfachen Grund, weil wir Ösis meistens nicht mitspielen bei den ganz großen,…/ mehr

Silvia Meixner / 11.05.2014 / 20:14 / 3

Nehmen Sie doch den Hofreiter Toni

Liebe Frau Bittl, ja, für mich sind Sie immer noch lieb, irgendwie, weshalb ich es bei der höflichen Anrede belassen möchte. Es reicht ja, wenn…/ mehr

Silvia Meixner / 10.02.2014 / 13:07 / 1

Silvis Culture Club (54). Wehe, jemand tritt da drauf!

Irgendjemand latscht immer durch. Durchs Foto, durch die Filmaufnahme oder durch einen gerade mühsam geebneten Weg. Das war schon immer so und entlockt dem Betrachter…/ mehr

Silvia Meixner / 07.02.2014 / 10:27 / 0

Silvis Culture Club (53). Lasst das Dope im Dorf!

Im olympischen Dorf in Sotschi ist der Joghurt ausgegangen. Wenn Sie mich fragen: Das kann kein Zufall sein. Wenn die Sportler keinen Joghurt haben, landen…/ mehr

Silvia Meixner / 04.11.2013 / 16:06 / 0

Silvis Culture Club (48). Leise flehen die Regale

Berlin ist, wie wir alle wissen, ein brutales Pflaster. Auch für ausgediente Möbel. In meinem Kiez herrscht die Regel, dass man nicht mehr Benötigtes- von…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com