Herbert Ammon, Gastautor / 25.09.2023 / 12:00 / Foto: Mil.ru / 12 / Seite ausdrucken

Wird Berg-Karabach für Öl und Gas geopfert?

Im Schatten des Ukrainekriegs nutzte der aserbaidschanische Machthaber Alijew seine Chance und schuf neue Fakten im Kaukasus. Europa schweigt zu dieser Kriegspolitik der „Wiedereingliederung“ Berg-Karabachs, weil es Öl und Gas aus Baku braucht, um bisherige russische Lieferungen zu ersetzen. Russland tut nichts für die Armenier dort, und Erdogan unterstützt den Sieger. 

Die jüngsten Ereignisse in und um die armenische Region Berg-Karabach fanden nur kurzzeitig mediales Interesse. Die Zahl der Opfer des aserbaidschanischen Angriffs – die Angaben liegen zwischen 25 und 200 – waren nicht spektakulär. Die Bilder einer dicht gedrängten Menge Menschen, die, zur Flucht entschlossen, auf dem Flughafen von Stepanakert zusammenströmten, konnten nicht mit denen von auf überfüllten Booten in Lampedusa gelandeten Migranten (und/oder „Geflüchteten“) konkurrieren. Die Nachricht, dass das – keineswegs selbst stets nur friedfertige – durch Krieg und Emigration geschwächte Armenien 40.000 der auf 140.000 bezifferten Bewohner aus der – nach dem im letzten Krieg im September 2020 um ein Drittel reduzierten – Enklave aufnehmen will, blieb nur eine Randnotiz.

Der aserbaidschanische Machthaber Ilham Alijew kann zufrieden sein. Voll Genugtuung verkündet er – unter Berufung auf das Völkerrecht – die „Wiedereingliederung“ der Region Berg-Karabach. Sein schneller Schlag machte das anno 2020 von Putin vermittelte – und durch Stationierung russischer Truppen vermeintlich garantierte – Abkommen obsolet. Denn obgleich bei dem Angriff auch russische Soldaten getötet wurden, stieß die militärische Gewaltaktion in Moskau, unlängst noch Armeniens Schutzmacht, nicht einmal verbal auf Widerspruch.

Damit reagiert Putin auf die sich unter Ministerpräsident Paschinjan abzeichnende Annäherung Eriwans an den Westen. Zudem pflegt er seit Beginn des Ukrainekrieges ein besonderes Verhältnis zu dem türkischen Präsidenten Erdogan, was die Anerkennung und Stabilisierung der Achse Ankara-Baku impliziert.

Ähnlich begrenzt scheint – nach einem Waffenstillstand, bei dem die Armenier von Karabach ihrer Entwaffnung und dem faktischen Ende ihrer territorialen Eigenständigkeit zustimmten, das Interesse der westlichen Politik an der Zukunft der armenischen Bergregion. Die zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates angereiste grüne Außenministerin Annalena Baerbock erklärte in New York, Aserbaidschan und Russland müssten „dafür sorgen, dass die Menschen in ihrem eigenen Zuhause sicher sind." Der EU-Ratspräsident Charles Michel teilte mit, er habe Alijev telefonisch aufgefordert, „für einen vollständigen Waffenstillstand“ und eine „sichere und würdige Behandlung der Armenier in Karabach“ zu sorgen.

Grenzziehung nach Vorgaben von Stalin

Von einer Forderung nach Autonomie für die christliche Region innerhalb der Republik Aserbaidschan ist keinerlei Rede. Unausgesprochen bleibt, dass auch im Westen, in Washington und in der EU, nicht selten Bekenntnisse zu „Werten“ und Völkerrecht von materiellen Interessen überlagert sind. Im Falle von Berg-Karabach handelt es sich um ein Territorium, das seine völkerrechtliche Definition den Grenzziehungen in Sowjetrussland nach den Vorgaben des damaligen Nationalitätenkommissars Stalin verdankt.

Auf realpolitischer Ebene geht es – vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs – um die Interessen Europas an Öl und Gas aus Baku. Des Weiteren geht es – nach dem faktischen Scheitern einer gesamteuropäischen Friedensordnung in den 1990er Jahren – um schiere Machtpolitik: um die Interessen und Projektionen Putins, des Westens, des NATO-Eckpfeilers Türkei, schließlich des Mullah-Regimes im Iran.

Im Schatten des Ukrainekriegs nutzte Alijew seine Chancen und schuf im Kaukasus neue Fakten. Zur Hand kommt der Begriff Max Webers von der Normativität des Faktischen, der mit den Maximen von Recht, Moral und Völkerrecht kollidiert. Wir erleben derzeit die Macht des Faktischen auch in anderen Regionen der Welt. Ein Testfall wird der Ausgang des Ukrainekriegs sein.

 

Herbert Ammon, geb. 1943 in Brieg (Schlesien), ist ein deutscher Publizist, Historiker, Studienrat a.D. Er engagierte sich in den 1980er in der damaligen Friedensbewegung, u. a. als Repräsentant des „Offenen Briefes“ des DDR-Regimekritikers Robert Havemann an den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew. 1981 zusammen mit Peter Brandt Herausgeber des Buches „Die Linke und die nationale Frage“. Mitgründer und Mitglied im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft e.V. zur Förderung politischer, kultureller und sozialer Beziehungen in Europa.

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Wolfgang Richter / 25.09.2023

Offenbar hat der armenier Paschinja nach dem russisch vermittelten Waffenstillstand besonders schlau sein wollen und hat unter Vermittlung Frankreichs mit Azerbaidschan einrn Vertrag geschlossen, mit dem er Berg-Karabach faktisch den Azerbaidschanern übergeben hat, womit er rußland praktisch aus dem Spiel nahm. Nicht ohne Grund rennen die Armenier gegen seine Residenz an und brüllen “Verräter”.

Marcel Seiler / 25.09.2023

Jetzt verrät “der Westen” angeblich seine Werte. Echt? Soll “der Westen” sich dort jetzt militärisch engagieren und Weltpolizist spielen, nachdem das überall sonst schief gegangen ist? Der Westen hat diese Kraft nicht mehr und muss sich auf die Verteidigung seiner Frontlinien, zur Zeit etwa gegen Russland in der Ukraine konzentrieren. Alles andere wäre Überdehnung der eigenen Möglichkeiten.

Hans Bendix / 25.09.2023

Nun, für “Werte” zieht man nicht in den Krieg, nur für konkrete Interessen (falls erforderlich). Für “Werte” läßt man andere in den Krieg ziehen.

N. Schneider / 25.09.2023

In Europa wird den muslimischen Kosovaren ein eigener Staat auf Kosten Serbiens eingerichtet. Im 19. Jahrhundert bildeten die Serben dort noch die Bevölkerungsmehrheit. Infolge hoher Geburtenzahlen änderte sich dies zugunsten der Kosovaren. Mit der Einrichtung gingen Zerstörungen von serbisch-orthodoxen Kirchen und Klöstern einher. Auch in Bosnien wurde zugunsten der Moslems von aussen eingegriffen, das seither als Operationsbasis für muslimische Aktivitäten dient. Europa wird mit muslimischen Landnehmern überflutet. Jene europäischen Staaten die sich dem widersetzen, werden von Brüssel unter Druck gesetzt. Der Völkermord an den Armeniern (Blaupause für den Völkermord an den Juden) bleibt ohne Folgen für die Täter. Israel weigert sich bis heute diesen anzuerkennen. In den USA versuchten jüdische Lobbyorganisationen die Anerkennung (am Ende erfolglos) zu hintertreiben. Die Besetzung Arzachs (Berg-Karabach) und die nun folgende ethnische Säuberung werden akzeptiert. Einhergehen wird dies mit der Zerstörung der Kirchen und Klöster der Armenisch-Apostolischen Kirche. Waffenlieferanten für Aserbaidschan sind: Türkei, Pakistan und Israel.

Burkhard Mundt / 25.09.2023

Die Besetzung Tibets durch China hat den Westen auch nur peripher interessiert. Das christliche Armenien ist in Gefahr, zwischen den islamischen Bruderstaaten Türkei und Aserbaidschan zerrieben zu werden.

Rika Herrmann / 25.09.2023

“Die Armenier sind darüberhinaus Christen und Christen sind bei uns gerade nicht en vogue.” schreibt Jörg Themlitz und macht auf elegante Weise deutlich, was ich etwas derber ausdrücken würde: Armenier sind Christen und werden von Muslimen bedrängt. Muslime genießen in Deutschland aber - und das trotz der schlimmsten Gewalttaten - den guten Ruf, friedlich zu sein, zumindest aber der Religion des Friedens anzugehören, während den Christen immer noch die Kreuzzüge vorgeworfen werden…. Die Christen im “vorderen Orient”, wie es zu meiner Schulzeit vor 60 Jahren noch hieß, haben aber in Deutschland überhaupt keine Lobby, weder bei den Politikern, noch in den Kirchen, würde man sonst nicht auch über den Libanon anders berichten müssen, über Christen in Syrien, in der Türkei?

Jörg Themlitz / 25.09.2023

Oh Mann, ich schreibe schon so, wie Frau Baerbock spricht. Hier ist das fehlende “t” für diploma ische.

Helmut Driesel / 25.09.2023

Habe ich nun im deutschsprachigen Fernsehen im Laufe des Sommers mal einen Bericht gehört, dass viele Armenier freiwillig im Dienst der Ukraine kämpfen, viel weniger aber auf der russischen Seite? Oder ist Armenien das Bauernopfer in den Gesprächen zwischen Putin und Erdogan gewesen? Wollten die gar in die NATO? Alle Fragen beantworten sich, wenn der Vulkan ausbricht, auf den Leute wie ich schon lange warten. Ein Experte auf Youtube erwartet 75cm Aschefall bis Minsk. Das wird ein Spaß!

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