Aus den Augen, aus dem Sinn

Von Michal Kornblum. 

Das umstrittene Relief „Judensau“ an der Stadtkirche zu Wittenberg, in der der Reformator Martin Luther predigte und in der die erste deutschsprachige Messe abgehalten wurde, ist seit Längerem Gegenstand mehrerer Gerichtsprozesse. Denn die mittelalterliche Abbildung zeigt Juden, die an den Zitzen eines Schweins saugen sowie einen Rabbiner, der sich mit dem Hinterteil der Sau beschäftigt. Deswegen wird seit Jahren diskutiert, debattiert und prozessiert, ob die Figur abgenommen werden soll.

Dass dieses Relief ein Glanzstück deutscher antisemitischer Darstellungen ist, ist unzweifelhaft, doch bekommt die Sau aus dem 14. oder 15. Jahrhundert jetzt eine unglaubliche mediale Aufmerksamkeit. Denn pünktlich zum Reformationstag gab Dr. Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, bekannt, dass das Relief „Judensau“ an der Stadtkirche zu Wittenberg in ein Museum gehöre. Man könnte nun davon ausgehen, dass Dr. Klein diese Einschätzung in Ausübung seines Amtes äußerte, da die Entfernung dieser Plastik den Antisemitismus in Deutschland eindämmen wird. Und das wäre schön und wünschenswert. Nur leider zu einfach. 

Die „Judensau“ ist zwar ein Beweis für die lange und traditionsreiche Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und im Christentum, steht aber heute in keinem direkten kausalen Zusammenhang mit dem antisemitischen Alltag. Es ist vielmehr ein typischer Fall des deutschen Habitus der Rosinenpickerei bei der Herangehensweise an eine Problematik. Man sucht sich fast zufällig ein völlig unbedeutendes Etwas, welches zum Paradebeispiel erklärt wird und im nächsten Schritt mit allen Mitteln von Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlicher Aktivität und Kundgebungen bekämpft werden soll. Diese pars pro toto Mentalität ist zwar sehr schrill und aufgebauscht, aber ziemlich wirkungslos in Bezug auf das eigentliche Problem. 

So verhält es sich auch mit der „Judensau“. Eine kurze Recherche zeigt, dass es in Europa fast 40 berühmtere Darstellungen des im Mittelalter beliebten Motivs der „Judensau“ gab, allein über 20 davon in Deutschland. Warum ist also das Wittenberger Exemplar das entscheidende? Die Stadt Wittenberg ist berühmt für „ihren“ Martin Luther. Es ist kein Geheimnis, dass der Reformator ein glühender Antisemit war und damit auch einen Beitrag zur Prägung des Antisemitismus in Deutschland und der Kirche geleistet hat. Da scheint es nur selbstverständlich, dass diese Facette des Reformators für überzeugte Lutheraner das Haar in der Suppe darstellt. Die Stadtkirche zu Wittenberg hat durch den persönlichen Bezug Luthers in dieser Hinsicht noch einen anderen religiösen Stellenwert und ist auf Grund der Geschichte auch von touristischer Bedeutung. Hier stößt solch eine Darstellung, die an die nicht ganz weiße Weste von Martin Luther erinnert, besonders auf. 

Die Schattenseite tatsächlich vor Augen

Aber darf man es sich so leicht machen? Die „Judensau“ kommt in die Abstellkammer eines Museums und nichts erinnert mehr an den christlichen Antisemitismus, Brunnenvergiftungslegenden und an die nicht ganz koschere Seite von Martin Luther. Aus den Augen, aus dem Sinn. 

Dabei sind es genau solche Darstellungen, die die besten Denkmäler sind. Jedes Mal, wenn ein Protestant in den Gottesdienst geht, wird ihm die Schattenseite seiner Konfession und Religion tatsächlich vor Augen geführt. Schmerzlich ist das sicherlich, aber so war die Geschichte. Die Belege für das christliche jahrhundertealte Vermächtnis von Judenhass sind da, sie abzunehmen würde einem Versuch des Ausradierens dieses Geschichtskapitels gleichkommen. 

Ein Kapitel, welches nicht geschlossen ist. Die evangelische Kirche und ihre Verbände treten häufig durch antiisraelische Leistungen in Erscheinung. Ob es nun darum geht, Konferenzen mit BDS-Anhängern abzuhalten oder um die Aussage des Sprengelbischofs für Mecklenburg und Pommern Hans-Jürgen Abromeit, dass es „aus dem Schuldbewusstsein der Deutschen infolge des Holocausts eine Überidentifikation mit dem Staat Israel“ gebe – man ist weit davon entfernt, zu den lupenreinen Judophilen zu gehören. Die Plastik aus Wittenberg ist der stechende Stolperstein des christlichen Antisemitismus.

Die „Judensau“ gehört zur deutschen Kultur und Geschichte, wie auch die Trias von Antisemitismus, Antijudaismus und Israelkritik dazu gehören. Wir dürfen das eine nicht in ein Museum verfrachten, solange wir nicht in der Lage sind, das andere zu archivieren und von Antisemitismus im Perfekt zu reden. 

Genau da kommt Dr. Felix Klein ins Spiel. Ich verstehe seinen Aufgabenbereich – als Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus – im Kampf gegen Antisemitismus heute und in der Zukunft. Einen Tag, bevor Herr Dr. Klein über die „Judensau“ sprach, wurde in Berlin-Pankow ein 70-jähriger Mann zuerst verbal antisemitisch attackiert und im Anschluss vom Angreifer geschlagen, sodass er stürzte. Berlin wurde vor kurzem zur europäischen Hauptstadt des Antisemitismus gekürt und löst damit Malmö ab. Vor wenigen Tagen hat die Berliner Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen die Beschuldigten im Fall des im Juli in Berlin bespuckten und beleidigten Rabbiners eingestellt, es bestehe kein hinreichender Tatverdacht. Ich habe keinen Aufschrei oder große Aufmerksamkeiten über jüdische Kreise hinweg wahrgenommen. 

Aber all das wird sicherlich nicht mehr da sein, wenn die „Judensau“ erst mal in ein Museum abgeschoben sein wird. Auch wenn ich mich jetzt als Spielverderberin outen muss, so würde ich mir doch wünschen, dass sich unser Antisemitismusbeauftragter weniger mit dem mittelalterlichen Antisemitismus und mehr mit dem heutigen beschäftigen würde. Oder müssen wir erst 500 Jahre warten, bis sich ein Antisemitismusbeauftragter den Problemen von 2019 annimmt? Man braucht nicht weit zu gehen (und erst recht nicht bis ins Mittelalter!), um Antisemitismus in Deutschland zu finden. Wir als Juden in Deutschland könnten uns sehr glücklich schätzen, wenn unser einziges Problem die „Judensau“ zu Wittenberg wäre. 

Eine tatsächliche Entfernung der „Judensau“ wäre nur ein billiges Alibi im Kampf gegen Judenhass. Sie würde nur der Beruhigung des Gewissens dienen in bezug auf ein Phänomen, das viele Namen trägt – von christlichem Antijudaismus über den Antisemitismus der Nazis bis hin zum modernem Antizionismus – mit dem alleinigen Zweck, sich selbst als absolute Gutmenschen feiern zu können.  

Dieser Beitrag erscheint auch auf dem Schüler- und Jugendblog "Apollo-News"

 

Michal Kornblum, 22, ist aus Lübeck und Studentin.

Foto: Apollo-News

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Marcel Seiler / 03.11.2019

Der Luther, mit dem ich erzogen wurde (“mein Luther”), war kein Antisemit. Er war ein Streiter gegen kirchlichen Missbrauch. Der Antisemitismus des historischen Luther ist mir überhaupt erst als Erwachsene bekannt geworden; er ist für mich (und Millionen andere) völlig irrelevant. Wer dieses Bild abhängen will, kann oder will den Unterschied zwischen dem historischen und dem jetzt gelehrten Luthertum nicht erkennen; er ist damit Fundamentalist. Wir dürfen es nicht erlauben, das deutsche Fundamentalisten bestimmen, was richtig und was falsch ist. Der islamische Fundamentalismus ist schon schlimm genug.

Sepp Kneip / 03.11.2019

Es ist die mittelalterliche Verunglimpfung der Juden, die Allgemeingut im Christentum war, da Jesus ja von den Juden gekreuzigt wurde. Dass Jesus selbst Gott um die Verzeihung dieser Tat gebeten hat, ist nie gewürdigt worden. Inwieweit der Werdegang des jüdischen Volkes mit dem Kreuzestod Jesu zu tun hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall sollten gerade die Christen darauf achten, dass ihnen eine antisemitische Haltung nicht zusteht. Das sollte man nicht in symbolischen und scheinheiligen Gesten äußern, sondern sich tatkräftig und überzeugend gegen den Antisemitismus zur Wehr setzen. Leider klaffen in diesem Land hohl klingende Beteuerungen und wirkliches Handeln weit auseinander.

Hans-Peter Kimmerle / 03.11.2019

Sehr geehrte Frau Kornblum. Mit ihrem Beitrag sprechen Sie mir, und sicher auch vielen anderen Lesern, aus der Seele. Das mittelalterliche Christentum war antisemitisch geprägt. Da gibt es nichts zu beschönigen. Die Kirche sollte dazu auch stehen. Die Vertuschungsversuche der heutigen Kirchenoberen sind nicht zu übersehen und manifestieren sich in Anbiederung an andere “Weltreligionen”. Das soll Vergessen suggerieren. Wenn ein Kardinal sich dahingehend äußert, er könne mit dem Begriff des “christlich-jüdischen Abendlandes” nichts anfangen, will man wohl auch von der Vergangenheit des christlich jüdischen Abendlandes nichts mehr wissen.

Andreas Rochow / 03.11.2019

Derartige Gerichtsprozesse stellen doch Geschichtsbereinigungsprozesse dar! Es gibt aber nichts zu bereinigen. Eines Tages werden die Deutschen keine Regierungsbeauftragten der Länder und des Bundes mehr brauchen, die mit einem seltsamen Eifer den Alltag von Antisemitismus “befreien”. Die mittelalterlichen “Judensäue” - der Dom zu Magdeburg bspw. wartet ebenfalls mit einem Exemplar auf! - sind historische Belege dafür, welches Problem die christlichen Religionen mit anderen Religionen hatten. Wir sind doch auf einem guten Wege. Denkmalsstürmerei stellt einen grundfalschen Umgang mit Geschichte dar. Man kann ein heute zu hinterfragendes Kunstwerk auch zu einem überdimensionierten Stolperstein umzudeuten; das wäre eine angemessene Art des geschichtlichen Gedenkens.

Marcel Seiler / 03.11.2019

Man kann nicht solche Bildnisse abhängen wollen und die Gleichwertigkeit aller Kulturen proklamieren und sich darüber aufregen, dass die Taliban Buddha-Statuen zerstören. Wer dieses Bildnis abhängt, hat kein Argument mehr dagegen, wenn der Islam christliche Kirchen entweiht oder zerstört.

dr. michael kubina / 03.11.2019

Volltreffer. Das ist an Scheinheiligkeit kaum noch zu überbieten. Das ist, wie so vieles in diesem kranken Land, eine Ersazthandlung. Ich erspare mir jetzt darüber zu spekulieren, wofür sie der Ersatz ist. Wahrscheinlich werde ich es noch erleben, dass das neue Testament umgeschrieben (verkauft als “Neuübersetzung”) wird, gendergerecht, einfach allen gerecht und Judas Iskariot einen neuen Namen bekommt.

Werner Arning / 03.11.2019

Wünschenswert wäre, wenn die Beziehung zum Judentum nicht einzig von der Frage nach Antisemitismus beherrscht würde. Judentum und Christentum haben eine gemeinsame Wurzel. Das Christentum ist ohne das Judentum gar nicht denkbar. Ohne Judentum gäbe es kein Christentum. Darauf gilt es, sich zu besinnen. Es geht nicht einzig um das Aufsuchen der antijüdischen Elemente im Christentum. Sicher gab es diese und es ist wichtig, darüber zu reden. Doch wir müssen über diese rein defensive Diskussion hinauskommen. Das Christentum als antijüdisch auszulegen, war ein Anliegen einer bestimmten Gruppe innerhalb der Kirche. Diese Gruppe soll nicht unser Maßstab sein. Es gilt, die Untrennbarkeit von Judentum und Christentum herauszuarbeiten. Juden und Christen sind eins und wir dürfen uns nicht auseinander dividieren lassen. Denn bei allem Gegenteiligem handelte es sich um Abwege, um Lüge, um Irrtum. Dabei spielten materielle Interessen eine Rolle. In Spanien würden die Juden von den Christen des Landes verwiesen, ihr Eigentum wurde konfisziert. In Deutschland ging man einige hundert Jahre später noch einen fürchterlichen Schritt weiter. Daran muss man sich erinnern. Doch nur in dieser negativ besetzten Erinnerung verhaftet zu bleiben, löst kein aktuelles Problem. Die Christen haben größtenteils den Bezug zur ihrer Religion verloren. Doch lohnt es sich zu erfahren und zu verstehen, dass Christentum und Judentum sich in keiner Weise widersprechen. Es gilt, das Thema neu zu besetzten. Weg von Gefühlsduseligkeit und Heuchelei. Hin zu echtem Interesse. Dazu müssen wir uns auch mit den Ursprüngen beschäftigen. Nicht nur auf die Tagespolitik schauen. Wir müssen neugierig aufeinander sein, nicht schuldbeladen und von schlechtem Gewissen geplagt. Treffen wir uns doch am Strand von Tel Aviv. Oder am Wannsee. Egal, Hauptsache wir lachen und reden miteinander. Das ist besser als bei Gedenkreden betroffen drein zu schauen und auswendig gelernte Phrasen kundzutun. Jesus war zuvorderst Jude.

Günter Schaumburg / 03.11.2019

Werte Frau Kornblum, sie schreiben von Luthers nicht ganz weißer Weste. Man sollte Luther nicht nur als glühenden Antisemiten (vielleicht besser noch Judenhasser) sehen, sondern auch seine Stellung zum Bauernkrieg betrachten. Zusammen gesehen ist seine Weste doch ziemlich schmutzig, seine Verdienste als Reformator bleiben unbe- stritten.

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