Chaim Noll / 15.07.2018 / 06:26 / 44 / Seite ausdrucken

Am Stuhl kleben – das neue Lustgefühl

Papst Benedikt hat vor einigen Jahren etwas für einen hohen Würdenträger Ungewöhnliches vorgeführt: seinen Rücktritt von einem Amt, dem er sich nicht mehr gewachsen fühlte. Vielleicht war es als Botschaft an Politiker gemeint. Als Therapie einer Krankheit unserer Zeit. Denn heute werden einmal errungene Positionen nicht mehr freiwillig geräumt, derlei gilt als Zeichen von Schwäche, von Mangel an Ego. Jeder Posten wird mit Zähnen und Klauen verteidigt, worin der Wähler zugleich einen Beweis politischer Durchsetzungsfähigkeit sehen soll, in seinem Interesse und dem des Landes.

Die Frage der Kompetenz von Verantwortungsträgern tritt in den Hintergrund zugunsten ihrer adhäsiven Fähigkeiten. Programmatisch loben die großen Medien die Haftkräfte von Politikern. Der Wille zur Selbstbehauptung in internen Intrigen wird mit politischer Energie verwechselt. Auch dann noch, wenn die Betreffenden – offensichtlich ungeeignet für ihre Position – ihrem Land schwere Schäden zufügen. Die Sprachformel lautet: Sie oder er hat erneut Durchhaltevermögen, Besonnenheit oder, wie das journalistische Modewort heißt, „Gelassenheit“ unter Beweis gestellt, was angeblich nach außen beeindruckend wirkt, Solidität vortäuscht, ein Über-die-Runden-Kommen wenigstens für die allernächste Zeit.

Ein weiteres Argument der Beharrenden ist: Es gibt keine Alternative zu den jetzigen Personalien. Natürlich nicht, denn die Unfähigen haben in ihrer jeweiligen Partei dafür gesorgt, dass fähiger Nachwuchs beizeiten eliminiert wurde. Dabei wäre, ob nun besserer Ersatz bereit steht oder nicht, oft schon ein Wechsel als solcher befreiend. Der alte Filz mit seinen Miasmen des Scheiterns könnte wenigstens gegen einen neuen ausgetauscht werden. Die Verweigerung des fälligen Rücktritts ist Symptom einer Retro-Gesellschaft, die in einem grandiosen Gestern gefangen bleibt: Wie unter Walzerklängen einer verklärten Jugendzeit die Titanic im Meer versank, nachdem sie mit dem Eisberg einer brutalen Gegenwart kollidiert war.

Durch soziale Medien und andere Möglichkeiten mag der öffentliche Druck auf unfähige Politiker, Konzern-Chefs oder Fußballtrainer zugenommen haben, doch zugenommen hat auch die Dicke ihrer Haut, ihre Resistenz gegen altmodische Regungen wie Scham und Gewissen. Manchmal erinnere ich mich erstaunt an Zeiten, in denen Politiker nach eklatanten Fehlleistungen zurückgetreten sind, um dann in Ruhe ihre üppig bemessene Pension zu genießen. Denn das sei nicht vergessen: dass auch der unfähigste Politiker durch den Rücktritt nicht ins Elend gestoßen wird, sondern in eine gesicherte Rundum-Versorgung, von der wir alle nur träumen können.

Noch schöner ist es jedoch, im Amt zu bleiben. Schon all denen zum Trotz, die sich einen Wechsel wünschen. Die Ohnmacht der anderen auskosten – ein neues Lustgefühl. Niemandem gilt so viel Aufmerksamkeit wie dem oder der, die einfach den Posten nicht räumt. Ihn blockiert. Ganz gleich, ob sie oder er imstande ist, dort noch irgendetwas Sinnvolles zu tun. Die beispielhafte Tat von Papst Benedikt wird wohl vorerst ohne Nachahmer bleiben.

Foto: Angelo Faiazza CC-BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Wolf Köbele / 15.07.2018

Herrn Jens Richter zur Erinnerung: Merkel hatte nie eine Mehrheit. Trotz eklatanter Verluste wurde sie “bestätigt”. Der Wähler kann - entsprechende Modelle wurden ja durchf´gespielt - ankreuzen, was er will, es kommt immer “Merkel” heraus. Immer wieder tönt es aus allen möglichen Ecken, 87% hätten diese Politik und folglich deren Protagonisten gewählt. Das stimmt nicht: Jede Stimme für SPD, Grüne, Linke, FDP und AfD war eine Stimme gegen Merkel. Insofern haben 70% Merkel abgewählt. Und? Was nun?

Gabriele Schulze / 15.07.2018

@Rudolf George: treffend beschrieben! Vielleicht ist es ja eben die fleischgewordene Mittelmäßigkeit, die den Erfolg ausmacht. Für jeden was dabei. Im übrigen ist umzuformulieren: nicht dieses oder jenes ist alternativlos, sondern ich, AM aus der Uckermark, bin es!

W.Schneider / 15.07.2018

Die Krönung dieses Verhaltens der Posteninhaber/Innen ist doch noch das Eingeständnis, dass sie als Verantwortung Habende tatsächlich die Verantwortung für das Geschehene haben(vgl. Merkel, Löw).  Dieses Eingeständnis lässt sie aber nur noch mehr am Sessel kleben. In anderen Ländern mit mehr politischem Anstand treten Gescheiterte selbstverständlich zurück. Stattdessen sucht man einen Sündenbock, der für alle Fehler verantwortlich gemacht wird(BAMF). Im DFB befindet sich der schwarze Peter noch auf der Reise.

Klaus Schmid / 15.07.2018

Gab es da nicht mal das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes - oder der Kanzlerin? Ist eh kein Unterschied.

Dirk Witzki / 15.07.2018

Es ist bemerkenswert, wie es die Systemmedien geschafft haben, auch durchaus intelligenten Zeitgenossen die Mär von der alternativlosen Herrscherin auf Lebenszeit plausibel zu machen, trotz ihrer in jeder Hinsicht katastrophalen politischen Bilanz. Über dieses Phänomen werden in einigen Jahrzehnten wissenschaftliche Abhandlungen erscheinen, ebenso wie heute über die Schlafwandler am Vorabend des 1. WK oder die Lemminge gegen Ende des zweiten.Ob es dann noch ein Publikum für deutschsprachige Übersetzungen dieser Analysen geben wird, ist ungewiß.

Wolfram Schmidt / 15.07.2018

Geißler sagte mal vor ca. 15 Jahren in einer Talkshow wo er den Katholizismus verteidigend sagte: “Der Katholizismus kenne nur einen unfehlbaren Menschen: den Papst.” - Hätte ich in der Talkshow gesessen, hätte ich ihm entgegnet, der Stalinismus hätte auch nur einen unfehlbaren Menschen gekannt. Und einer ist schon zu viel. Was Angela Merkel bewegt, da immer weiter zu machen. Will sie den Kohl überholen? Auch er war ja ziemlich amtsmüde. Bei Löw sehe ich auch das Problem. Dass aber schon alleine des frischen Winds wegen ein Personalwechsel stattfinden sollte, sollte doch einleuchten. Statt Papst Benedikt hätte man auch Zinedine Zidane als positives Beispiel hervorheben können.

Sabine Heinrich / 15.07.2018

Ein Musterbeispiel für Am-Stuhl-Kleben : Die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD). Vier Wahlgänge waren vor 10 Jahren nötig, bis sie verstanden hat, dass sie als MP nicht mehr erwünscht ist. Ein Abtrünniger hatte ihr nicht das Vertrauen ausgesprochen. Bemerkenswert, wie sie im damals roten Schleswig-Holstein und bis heute noch in gewissen Kreisen als Opfer eines “Heide-Mörders” hochstilisiert wird. Ich habe die Wahl damals im Fernsehen verfolgt und fand es nur noch peinlich und zum Fremdschämen, wie diese Frau (die für Schleswig-Holstein nicht sehr segensreich gewirkt hat) immer wieder auf einem neuen Wahlgang bestanden hat. Ein würdevoller Abgang, der Respekt verdient hat, sieht anders aus.

R.E.Rath / 15.07.2018

Unser Problem ist unser Wahlsystem. Genau genommen ist es ein Irrsinn. Da werden Politiker, sogenannte Schleimspurkriecher, über die Liste in die Ämter nichr gewählt sondern wählerunabhängig in den Bundestag bestimmt. Bei der direkten Wahl hätten viele von Ihnen nicht die Spur einer Chance. Es werden Parteien, die kein direktes Mandat erreichen konnten plötzlich „wichtige Koalitionspartner“ und können im Wege des Koalitionskompromisses die unsinnigsten, die absurdesten und die dem Gemeinwesen die schädlichsten Vereinbarungen durchsetzen. Ja, es werden sogar Dinge in Hinblick auf mögliche in der Zukunft liegende Koalitionen getan. Beispiel: Ohne mit Blick auf eine mit den Grünen eventuell notwendige Koalition in Verbindung mit ihrem Willen zu ihrem persönlichen Machterhalt hätte A.M. in vielen Dingen nicht oder anders entschieden. Bei einer Direktwahl der Bundestagsabgeordneten ihrer Partei hätte sie ein wichtiges Kontrollorgan mehr außer der Opposition im Bundestag sitzen, denn die Herren hätten sich in ihren Wahlkreisen persönlich zu verantworten. Abstimmungsergebnisse in Sachfragen im Bundestag dürften müssten namentlich veröffentlicht werden - über Personalfragen dagegen nur geheim bleiben. Ein weiteres Hemmnis, oder Vorteil der Befürworter des aktuellen Systems ist unser föderales System. Die Macht Länder müsste auf eine reine Länderselbstverwaltung begrenzt sein. Es ist eine Bürgerbewegung zur Neugestaltung unseres Wahlrechts und des föderalen Systems unbedingt erforderlich. Von den Parteien brauchen wir kein Unterstützung erwarten. Da wird sich nichts tun. Wer sägt schon den Ast ab auf er es sich bequem eingerichtet hat. Das Volk muss sägen. Das Thema wäre eigentlich eins für die AfD - aber auch sie hat schon Leute im Bundesrag sitzen. Würden die auf ihre neunerworbene Einkommensquelle verzichten wollen. Wohl kaum. Vermutlich würde nur eine neue Partei helfen - eine sogenannte Reformpartei, die DRP.

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